SandraHenselDer falsche Freund

Es war Frühling. Die Sonne schien, die Vögel zwitscherten und eine milde Brise ließ die Grashalme auf der Wiese tanzen.

Wenn man ganz genau hinsah, konnte man eine Blutspur entdecken, die von einem unwegsamen Feldweg über eine kleine Holzbrücke hinein in die Wiese führte, wo man die Spur mit bloßem Auge kaum noch erkennen konnte. Verfolgte man die Spur in die andere Richtung, fand man irgendwann eine Hütte. Südlich von dieser befand sich die große Blutlache. In dieser Lache lag ein lebloser Körper.

 

7 Jahre später, in der Nähe von Frankfurt

Josie ging leicht beschwingt den Flur des Krankenhauses entlang und checkte währenddessen ihre Emails. Immer noch nichts. Mist. Das Warten ging ganz schön an die Nerven. Seufzend steckte sie ihr Handy in die Tasche ihres Kittels und stieß fast mit ihrem Kollegen Moritz zusammen. „Alter, erschreck mich doch nicht so“, beschwerte sie sich. Moritz konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er ihren erschrockenen Gesichtsausdruck sah. „Entschuldige, du solltest vielleicht lieber nach vorne gucken, wenn du hier in diesem Tempo durch die Gegend marschierst“, witzelte er und boxte sie leicht an den Arm. „Aua“, maulte sie, „ich hab’s eilig. Ich wurde ins Kellergeschoss gerufen.„ „Das ist ja ein Ding, so als Pathologin.“ Sein Sarkasmus war nicht zu überhören. „Dann mal viel Spaß“, sagte er, lächelte schief und schritt von dannen. Josie schmunzelte, als sie ihm hinterherblickte. Netter Kerl. Nun aber los. Die Leiche wartete. Sie fuhr mit dem Aufzug in den Keller und ging dann zielstrebig zu ihrem Arbeitsplatz in der Pathologie. Sie sollte eine Autopsie an einem jungen Mann durchführen, bei dem die Todesursache mysteriös erschien. Spannend. Doch als sie den Platz erreichte, sah sie im ganzen Raum nicht eine Leiche. Alles leer und blitzeblank. Auch ihre Kollegin Nele war nicht zu sehen. Das einzige, was nicht in den Raum gehörte, war ein glänzender Gegenstand, der auf einem der Tische lag. Was war das? Josie ging darauf zu und erblickte ein Handy. Erstaunt sah sie sich noch einmal um. „Nele“, rief sie. „Bist du hier?“ Keine Antwort. Aber das war nicht Neles Handy. Das auf dem Tisch war ein billig aussehendes, kleines No-Name Handy – welches plötzlich klingelte. Erschrocken fuhr sie zusammen. Neugierig geworden beugte sie sich über das Telefon. Der Bildschirm erhellte sich. Anonym stand dort. Doch das, was ihr Blut sofort in den Adern gefrieren ließ, war das Hintergrundbild, das im Moment auf dem Display zu sehen war. Sie starrte das Bild einige Sekunden an. Es hörte auf zu klingeln. Der Anrufer hatte wohl keine Lust mehr gehabt, zu warten. Josie stand reglos am Tisch. Sie fühlte sich wie im falschen Film. Kurze Zeit später fand sie Ihre Fassung wieder. Leicht hysterisch lachte sie kurz und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Dann schüttelte sie den Kopf. „So ein Quatsch, ich habe mich bestimmt verguckt. Oh Mann, das war ja auch zu kurz, um irgendetwas zu erkennen“, redete sie sich ein, packte entschlossen das Handy und versuchte es zu aktivieren. Und tatsächlich erwachte es und zeigte ihr erneut das Hintergrundbild, das sie mit Schrecken erkannt hatte. Auch wenn sie die Geschichte, von der dieses Bild einen Teil darstellte, in ihre letzten Gehirnwindungen verbannt hatte. Dachte sie zumindest. Sie legte das Handy vorsichtig auf den Tisch zurück und nahm es gleich wieder, um erneut das Bild zu betrachten. Sie konnte einfach nicht anders. Zu der Zeit, in der dieses Bild aufgenommen wurde, war dies eine schöne Erinnerung. Heute nicht mehr. Eher ein Schrecken ohnegleichen. Josies Augen wurden größer und ihr Atem beschleunigte sich leicht, als ihr bewusst wurde, was das bedeutete. „Hallooo“, ertönte es plötzlich von hinten und Josie steckte reflexartig das Handy ein. „Wie siehst du denn aus, hast du einen Geist gesehen“, neckte Nele sie und klopfte Josie leicht auf die Schulter. Sie schaute Josie in die Augen. „Mal im Ernst, ist alles in Ordnung mit dir?“ Josie konnte nicht anders, sie fing vor Schreck, Wut und Anspannung an zu weinen. „Oh Mann, was ist denn passiert?“, fragte Nele und nahm ihre Kollegin in die Arme. Josie schluchzte und wand sich dann aus der Umarmung. „Ich muss los“, stammelte sie, „kannst du mich bitte abmelden? Ich melde mich später“, brachte sie gerade noch heraus und flüchtete aus dem Raum. Nele blickte ihr besorgt hinterher. „Aber klar doch“, sagte sie leise.

Als Josie zuhause ankam, schmiss sie ihre Tasche in die Ecke und setzte sich auf ihren Lieblingssessel, um nachzudenken. Was konnte das bedeuten? Warum? Warum lag das Handy an ihrem Arbeitsplatz? War es für sie platziert worden? Aber wer hatte es dort hingelegt? War er tatsächlich wieder aufgetaucht? Viele weitere Fragen rauschten durch ihren Kopf. Das gibt’s doch nicht, das kann nicht wahr sein. Sie vergrub das Gesicht in den Händen. Ihr Handy klingelte. „Das ist bestimmt Nele“, dachte sie sich und ging ran. Doch da war niemand. Das Handy war aus und trotzdem klingelte es. Langsam dämmerte es ihr. Sie zog das andere Handy aus ihrer Tasche und legte es auf die Sessellehne. Anonym stand drauf und das Hintergrundbild war nach wie vor auf dem Display zu sehen. Nach kurzem Zögern griff sie das Handy und nahm den Anruf an. „Wer ist da?“, fragte sie. Nichts. „Hallo, wer ist da?“ Kein Ton. Ein Klicken. Dann ein Rauschen. Nichts mehr. Jetzt war Josie wütend. Sie stand auf und ging durch ihr Wohnzimmer. Sie tigerte umher und hatte das Handy noch immer in der Hand. Sie schaltete es wieder ein, suchte im Menu die Galerie und öffnete sie. Viele Bilder. Bilder von Bäumen, Bilder vom Himmel, Bilder von Wiesen mit und ohne Blumen und Bilder von ihr. Bilder von ihr auf einer Wiese, wie sie tanzte und in die Kamera lachte, wie sie mit einem Sonnenhut der Kamera zuwinkte und ein Bild, auf dem sie und Jakob sich umarmten und küssten. Das Bild, was auch auf dem Display zu sehen gewesen war. Sie schauderte und ihr wurde leicht übel. Sie schmiss das Handy auf den Sessel, ging in die Küche und nahm sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank, als es an der Haustür klingelte. Josie schlich an die Tür und riskierte einen Blick durch den Spion. Moritz wartete draußen und sah unschlüssig aus. Sie öffnete. Ihr Kollege betrat die Wohnung und rückte gleich mit der Sprache raus. Nele hätte ihn gebeten, nach ihr zu sehen, nachdem seine Schicht vorbei war. „Was ist denn los?“, fragte er. Josie zögerte kurz und bot ihm statt einer Antwort ein Bier an. Beide saßen nun im Wohnzimmer mit einer Flasche Bier in der Hand und schwiegen. Dann fingen sie gleichzeitig an zu reden. Josie lachte nervös, sie war sich nicht sicher, ob sie Moritz mit in die Sache reinziehen sollte. Nach wenigen weiteren Minuten entschloss sie sich zum Reden. „Hast du ein bisschen Zeit?“, fragte sie.

Nachdem Josie die ganze Geschichte erzählt hatte, schien es ihr, als wäre das alles jemand anderem passiert. Es hörte sich irgendwie unwirklich an. „Unglaublich“, sagte Moritz. „Das ist ja mal eine ganz miese Sache. Und was glaubst du? Soll das ein Scherz sein? Ich mein das mit den Fotos auf diesem Handy. Und das auf dem Bild ist genau der Ort?“ Moritz überhäufte sie mit Fragen. Josie nickte. „Ich weiß nicht, was das heißen soll. Keinen Schimmer. Ich denke, er hat mich gefunden, aber ich weiß nicht, was er von mir will. Die beiden schwiegen eine Weile. „Hast du noch n Bier?“, fragte Moritz. Als Josie aufstehen wollte, um in die Küche zu gehen, klingelte das Handy erneut. Anonym rief mal wieder an. „Vielleicht solltest du mal rangehen.“ Josie sah Moritz an. Der hatte das Handy schon in der Hand. „Wer bist du, du mieses Schwein und was willst du?“, brüllte Moritz ins Handy. Am anderen Ende der Leitung hörte er jemanden schwer atmen. Dann ein Räuspern. „Wer ist da? Wo ist Josie. Gib sie mir sofort“, ertönte eine männliche Stimme. Moritz holte tief Luft. „Das kannst du dir abschminken, mein Freund. Erst erzählst du mir, was du vorhast!“ Die Antwort kam prompt. „Das kann ich dir sagen, du Spast. Ich werde sie umbringen.“ Ein Klicken verriet, dass der Anrufer aufgelegt hatte.

Moritz blickte Josie mit ernstem Blick an. Ich glaube, wir sollten die Polizei anrufen. „Warum, was hat er gesagt?“, wollte sie wissen. „Er hat damit gedroht, dich umzubringen“, sagte Moritz mit leicht zittriger Stimme. „Und irgendwie habe ich ihm geglaubt.“ Dabei stand er auf und schloss seine Kollegin fest in seine Arme. „Wir müssen etwas tun. Ruf die Polizei an und erzähl denen alles.“ Josie überlegte einen Moment. „Ich weiß nicht“, sagte sie leise. „Was wollen die schon tun? Wir haben ja keine eindeutigen Beweise, wir haben bloß eine Drohung.“ „Was sollen wir also tun?“, fragte Moritz. „Wir können doch nicht einfach so weitermachen und darauf warten, was als nächstes kommt. Oder wie hast du dir das vorgestellt?“

Josie schüttelte leicht den Kopf. „Ich muss dringend mit jemandem reden. Und dann sehen wir weiter“. Damit löste sie sich von ihm, schnappte sich das Handy, ihre Tasche und war verschwunden. Moritz blieb verwundert und beunruhigt in der Wohnung zurück. Er nahm sein Handy und wählte den Notruf.

Josie war auf dem Weg zu ihrem Vater. Der wusste bestimmt, was zu tun war, denn er kannte die Geschichte von Anfang bis Ende und hatte immer einen guten Rat parat. Sie bog gerade in die Fritz-Reuter-Straße ein, als sie das Auto ihres Vaters am Ende der Straße erblickte, wie es gerade abbog. Er wollte bestimmt nur kurz was besorgen. Sie konnte auch bei ihm zuhause auf ihn warten. Also fuhr sie die Einfahrt rauf, parkte und suchte nach dem Haustürschlüssel. Den fand sie schließlich an einem bekannten Ort. Sie wollte die Tür aufschließen, doch diese war bereits geöffnet. Vielleicht war ja noch jemand im Haus. Vorsichtig ging sie in das Haus und guckte sich um. „Hallo, ist hier jemand, ich bin´s, Josie“, rief sie. Sie erhielt keine Antwort. Skeptisch ging sie weiter und kam im Wohnzimmer an, welches sich ihr als ein Bild der Verwüstung darstellte. Die Möbel verrückt, teilweise umgeschmissen. Fernbedienungen auf dem Boden, der Tisch kaputt. Sie sank in sich zusammen. Er war schon hier gewesen…

Das Auto. Sie hatte doch das Auto wegfahren sehen. Ob er ihren Vater mitgenommen hatte? Sie rief ihren Vater auf dem Handy an. Es nahm niemand ab. In Gedanken versunken fing Josie an aufzuräumen, als plötzlich ein Handy klingelte.

Mit klopfendem Herzen nahm sie das ihr vermachte Handy und ging ran. „Dein Vater ist in Sicherheit. Komm zu unserem Treffpunkt und ich sage dir, wo du ihn findest“, war die knappe Anweisung. Und schon war das Telefonat beendet. Josie schnappte sich ohne zu zögern ihre Sachen und lief zum Auto. Sollte sie vielleicht vorsichtshalber Moritz Bescheid sagen? Sie schrieb ihm eine kurze Nachricht. Die Fahrt wird etwas länger dauern, dachte sie, also drehte sie noch einmal um, ging ins Haus und nahm sich eine Flasche Wasser. Sie überlegte kurz, ob sie eine Waffe mitnehmen sollte, zumindest hätte sie dann ein vages Gefühl von Sicherheit. Sie wusste, dass ihr Vater keine Waffen besaß, aber vielleicht tat es auch ein großes, scharfes Küchenmesser. Sie ging in die Küche und durchsuchte die Schubladen, bis sie schließlich fündig wurde. Sie steckte ein Messer in ihre Handtasche, ein anderes wollte sie im Auto verstauen. Sie fuhr los. Auf dem Weg versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. So schnell konnte sich das Leben wieder verändern. In dem einen Moment wartete man noch, ob man es in die nächste Runde des Schreibwettbewerbes geschafft hatte, im nächsten Moment wurde man brutal mit der Vergangenheit konfrontiert, die man krampfhaft versucht hatte, zu vergessen. In den letzten zwei Jahren war ihr das eigentlich auch ganz gut gelungen. Vor Wut schlug sie mit der Hand aufs Lenkrad. Warum konnte sie die ganze Sache nicht einfach vergessen? Warum all dieser Mist? Und nun machte sie sich natürlich auch Sorgen um ihren Vater. Hoffentlich ging es ihm gut. Eigentlich hatten sich Jakob und ihr Vater immer ganz gut verstanden. Am Anfang natürlich. Nach zwei Stunden Fahrt konnte Josie schon den Wald in der Ferne sehen. Sie fuhr darauf zu und bog dann auf einen Waldweg, dem sie bis zu einem Schild, auf dem „Privat“ stand, folgte. Hier parkte sie ihr Auto und ging zu Fuß weiter. Es war nicht sehr weit. Nach ein paar Minuten konnte sie die Hütte schon sehen. Im Inneren brannte Licht. Seltsamerweise war sie gar nicht nervös, es fühlte sich im Moment fast so wie früher an, etwas angespannt, aber sonst ok. Sie ging auf die Hütte zu und dachte kurz darüber nach, zu klopfen, machte dann aber einfach die Tür auf. Auf einem Stuhl am Tisch saß Jakob mit einer Zigarette in der Hand und lächelte sie an. „Hallo Hübsche, lange nicht gesehen“, sagte er. Sein Anblick ließ sie leicht erschaudern. Sie hatte ihn mal geliebt, sogar sehr geliebt bis zu diesem Tag, der alles ändern sollte. „Hallo Jakob, wo ist mein Vater?“, brachte sie heraus und sie wunderte sich, wie ihre Stimme klang. War das überhaupt ihre? Sie wandte den Kopf ab, weil sie seinen Anblick nicht ertragen konnte. „Was ist los mit dir, willst du dich nicht setzen?“, fragte Jakob. Er zeigte auf den ihm gegenüberstehenden Stuhl. Josie setzte sich langsam und stellte die Handtasche zwischen ihre Beine auf den Boden. „Was willst du von mir?“, fragte sie. Jakob drückte die Zigarette aus und schenkte sich ein Glas von dem Whiskey, der auf dem Tisch stand, ein. Er nippte an dem Getränk. „Ich möchte, dass du mir erzählst, was vor sieben Jahren in dieser Hütte passiert ist. Und lass bitte nichts aus. Ich will alles wissen, alles.“ Er blickte ihr grausam grinsend in die Augen. „Los!“, brüllte er plötzlich und Josie fuhr auf dem Stuhl zusammen. Sie begann zu zittern. „Du weißt doch, was passiert ist“, sagte sie. „Nein“, erwiderte er. „Ich möchte es von dir hören. Fang an.“ Jakob lehnte sich über den Tisch und streichelte ihre Wange. „Jetzt“, sagte er.

Und Josie begann mit bebender Stimme zu erzählen.

„Es war Freitagabend, wir wollten uns wie immer in dieser Hütte treffen. Als ich ankam, warst du noch nicht da und ich legte die Decken vor den Kamin und machte es uns schonmal gemütlich. Dann rauchte ich, weil du noch nicht aufgetaucht warst, unseren Freitags-Joint allein. Ich bekam eine Nachricht von dir, dass du aufgehalten wurdest und etwas später kommen würdest“. Josie schluckte. Sie hatte einen trockenen Hals. „Kann ich ein Glas Wasser bekommen, bitte?“ Jakob starrte sie gebannt an und griff hinter sich, um ein weiteres Glas auf den Tisch zu stellen und schenkte Whiskey ein. „Hier, was anderes gibt’s nicht“, sagte er. „Weiter“. Josie nahm einen Schluck Whiskey und musste husten. Sie nahm noch einen Schluck und fuhr fort. „Ich zog mich aus und legte mich auf die Decken. Ich wartete. Kurze Zeit später kamst du durch die Tür und bliebst bei meinem Anblick wie angewurzelt stehen. Dann hast du gelächelt, dich umgedreht und die Tür abgeschlossen. Das hat mich noch nicht wirklich verwundert, ich war ja auch etwas high. Ich freute mich immer noch. Als du zu mir rüberkamst, hattest du einen merkwürdigen Gesichtsausdruck. So einen hatte ich bei dir noch nie gesehen. Deswegen fragte ich dich, ob alles in Ordnung sei und du hast bloß „Ja, klaro“ gesagt.

Josie machte eine Pause. Jakob hing wie gebannt an ihren Lippen. „Spannende Geschichte“, sagte er. „Fast, als wäre ich dabei gewesen.“ Dabei verwandelte sich sein Gesicht kurz in eine Grimasse. Josie schluckte und erzählte weiter. „Du beugtest dich zu mir runter und nahmst mich in den Arm. Ich spürte deine Anspannung, es war nicht so locker wie sonst immer. Ich zog dich auf die Decke und fragte dich noch einmal, was los sei. Du hast mich nur angesehen und versuchtest, mich zu küssen. Aber ich wusste, dass irgendetwas nicht stimmte und drehte meinen Kopf zur Seite. Du hast es weiter versucht, aber mir war nicht mehr danach zumute und ich habe dich weiter abgewehrt. Da wurdest du sauer, bist aufgestanden und rausgegangen. Ich hörte dich telefonieren, habe aber kein Wort verstanden. Ich zog mich wieder an, weil ich nur noch nach Hause wollte. Gerade, als ich rausgehen wollte, bist du wieder reingekommen und hast die Tür erneut verschlossen. „Schatz, es tut mir leid, ich wollte nur nett sein“, hast du gesagt und meine Hand genommen. Ich fragte dich wieder, ob alles in Ordnung sei, und du meintest, natürlich, ich will dich nur glücklich machen. Dann fingst du an, mich zu küssen und anzufassen. Ich hatte aber keine Lust mehr und stieß dich weg. So war es noch nie gewesen. Ich erkannte dich kaum wieder. Ich bat dich, aufzuhören, aber du hast weitergemacht. Schließlich flehte ich dich an aufzuhören, aber du hörtest einfach nicht auf. Ich fing an mich zu wehren und schlug um mich. Da wurdest du wütend und hast mir die Faust in den Bauch gerammt. Ich sackte zusammen und blieb auf dem Boden liegen. „Du blöde Schlampe, jetzt reichts mir aber“, hast du gebrüllt, dich auf mich geschmissen und mir die Kleider vom Leib gerissen. Ich konnte mich vor Schmerzen noch immer kaum bewegen und versuchte noch, mich zu wehren. Doch ich hatte keine Chance. Als du fertig warst, bist du aufgestanden, hast deine Hose hochgezogen und dir ein Glas Whiskey in der Küche eingeschenkt. Ich stand unter Schock. Ich lag auf dem Boden, hatte mich zugedeckt und weinte vor mich hin. Du hast das Telefon aus deiner Tasche geholt und jemanden angerufen. Erst als du sagtest: „Hast Recht gehabt, Bruderherz, war gar nicht so schlecht“, formte sich ein Gedanke in meinem Kopf, der aber so absurd war, dass dieser völlig unglaubwürdig schien. Du sagtest dann: „Ok, dann bis später Jakob“, und legtest auf. Da wusste ich es. Das warst nicht du. Ich setzte mich auf. „Wer bist du?“, fragte ich den Mann, den ich zu kennen geglaubt hatte. Er stand auf, verbeugte sich und grinste mir ins Gesicht. „Meine Dame, darf ich mich vorstellen. Mein Name ist Ben und Jakob ist mein Zwillingsbruder, wie du dir mittlerweile schon denken konntest. Er blickte mich mitleidig an. „Und hättest du dich nicht gewehrt, wäre es für dich viel einfacher gewesen, obwohl es so natürlich auch seinen Reiz hatte. Jakob kommt in ein paar Stunden, wir können es uns ja noch ein bisschen gemütlich machen. Völlig geschockt und gedemütigt stand ich auf. Mit um den Körper gewickelter Decke schwankte ich in Richtung Bad. Ben blieb sitzen und sah mir hinterher. Ich saß auf dem Klo und weinte, als mir die Hintertür einfiel. Vielleicht wusste Ben nichts davon. Ich griff mir die Decke und schlich mich aus dem Bad durch den Flur bis zur Hintertür. Dort drückte ich vorsichtig die Klinke herunter. Die Tür ging auf und ich schlüpfte hinaus. Draußen angekommen konnte ich mein Glück kaum fassen. Ich fing an zu laufen. Doch ich hatte mich wohl zu früh gefreut. „Hey, bleib hier“, hörte ich ihn rufen. „Wir wollten doch noch ein bisschen Spaß haben. Er rannte hinter mir her. Ich schmiss die Decke weg, in der Hoffnung, ich würde schneller werden, doch ich schmiss sie mir vor die Füße und verlor das Gleichgewicht. Schon war er über mir und drückte meinen Körper in die kalte feuchte Erde. Ich versuchte mich zu befreien und im Kampf bekam meine Hand einen Stein zu fassen. Ich holte aus, so gut ich konnte, und schlug mit letzter Kraft zu. Ich traf Ben am Kopf. Er fiel um und war sofort bewusstlos. Ich hatte Angst. Ich schlug nochmal zu, so oft, bis ich sicher war, er würde nicht mehr aufstehen. Ich blieb dort sitzen, wie lang, weiß ich nicht genau – bis irgendwann mein Vater auftauchte und mich dort fand. Er rief die Polizei, ich machte meine Aussage und wir fuhren nach Hause. Ich stand stundenlang unter der Dusche, dann versuchte ich zu schlafen. Ich hatte noch monatelang Albträume und du warst verschwunden. Unauffindbar, als hätte es dich nie gegeben. Ich hätte wirklich gerne mit dir gesprochen.“ Mit diesen Worten beendete Josie die Geschichte und sah Jakob an. Der starrte ungläubig zurück. „Mit mir gesprochen? Du hast meinen Bruder umgebracht. Was denkst du, hätten wir da besprochen? Ich bin froh, dass du jetzt darüber gesprochen hast. Nun habe ich die Geschichte von dir gehört und bin überzeugt, dass du verdient hast, was ich mit dir vorhabe.“ Er stand auf und rammte ihr blitzschnell eine Nadel in den Oberarm. Josie zuckte zurück, aber es war schon zu spät. Ein brennendes Gefühl breitete sich in ihrem Körper aus. Dann wurde es dunkel.

Als sie wieder zu sich kam, saß sie gefesselt auf einem Stuhl in einem Zimmer der Hütte. Sie erkannte den Fußboden, der aber nun mit einer durchsichtigen Plastikfolie bedeckt war. Sonst war das Zimmer bis auf ein paar Werkzeuge auf einem kleinen Tisch, leer. Werkzeuge, die sie kannte, da sie sie bei ihrer Arbeit auch benutzte. Ihre Augen weiteten sich vor Angst und sie wollte schreien, doch es kam nur ein leises Quieken aus ihrem Mund. Sie rüttelte an den Fesseln, doch sie war zu schwach und die Fesseln zu fest. Ihr Blick schweifte umher. Sie sah nichts, was ihr helfen könnte. Jakob war nicht zu hören. Sie musste irgendwie die Zeit nutzen, um hier rauszukommen. Leider war ihre Handtasche mit dem Messer unter dem Tisch geblieben. Sie kam auch nicht an die Folterinstrumente heran, die Jakob bestimmt vorhatte, an ihr zu benutzen. Nein, soweit durfte sie es nicht kommen lassen. Er schien irgendwie nicht mehr normal zu sein. Vielleicht konnte sie auf ihn einreden. Verzweifelt suchte sie nach einem Ausweg, als sie Schritte auf dem Flur hörte. Sie sackte zusammen. Zu spät, nun war es vorüber und sie würde schmerzvoll sterben. Die Tür ging auf und Josie wappnete sich schon gegen die Schmerzen, als plötzlich Moritz vor ihren Augen auftauchte. „Oh scheiße, Mann, ich hab’s doch geahnt“, murmelte er und machte sich an ihren Fesseln zu schaffen. Sie war noch nie so froh gewesen ihn zu sehen. „Beeil dich, er kommt bestimmt gleich wieder“, drängte sie. Moritz werkelte nervös an ihren Händen herum, bis diese schließlich befreit waren. Als die Fesseln an ihren Füßen ebenfalls entfernt worden waren, sprang Josie auf, nahm Moritz an die Hand und lief zielstrebig aus dem Zimmer und zum Küchentisch. Gott sei Dank, die Tasche war noch da. Sie nahm das Messer heraus und verschnaufte kurz. „Hast du eine Waffe dabei?“, fragte sie Moritz. Der schüttelte nur den Kopf. „Wo steht dein Auto?“ „Neben deinem“, flüsterte Moritz und schwitzte ziemlich stark. „Los, lass uns abhauen.“ Josie nahm die Türklinke in die Hand und drückte. Verschlossen. „Die Hintertür ist offen“, sagte Moritz. In diesem Moment drehte sich von außen der Schlüssel im Schloss und Josie und Moritz erstarrten kurz, um dann im nächsten Moment loszusprinten. Sie kamen nicht weit, denn plötzlich fiel ein Schuss. Beide blieben stehen. „Langsam umdrehen“, forderte Jakob sie auf. Josie bewegte sich zuerst und drehte sich Zentimeter für Zentimeter, sie hielt das Messer hinter ihrem Rücken versteckt. „Wo wollt ihr zwei denn hin? Das ist aber unhöflich.“ Jakob stand in der Öffnung der Hüttentür und zeigte mit einer Pistole auf die beiden Gefangenen. Moritz konnte beim Anblick der Schusswaffe ein Stöhnen nicht unterdrücken. „Josie, komm zu mir“, sagte Jakob in einer gruseligen Singsang-Stimme. „Komm her zu mir.“. Moritz schüttelte den Kopf. „Nein, geh nicht.“ Josie bewegte sich langsam auf Jakob zu. Der lächelte sie an. „Wir wollen uns den Spaß doch nicht durch diesen dahergelaufenen Typen vermiesen lassen“, rief er hämisch, zielte und schoss. Josie schrie auf. Moritz blickte Jakob ungläubig an und schwankte leicht. Dann sackte er langsam auf den Boden. Josie fing an zu weinen. Jakob packte ihre Hand und zog sie in Richtung Folterkammer. „Jetzt oder nie“, dachte sie und stach zu. Jakobs Lächeln erstarrte und er hob die Waffe, als plötzlich Sirenen zu hören waren. Sie schienen nicht mehr weit weg zu sein. Josies alter Freund machte einen gehetzten Gesichtsausdruck und verschwand schlurfend im Flur. Sie stürzte sich sofort auf Moritz und versuchte hektisch, seinen Puls zu finden. Und ja, da war er. Gott sei Dank. „Durchhalten“, flüsterte sie. Das wird schon wieder. Sie werden den Dreckskerl bestimmt kriegen.“ Sie hockte sich hin und hielt seinen Kopf, als sie die Schritte der Rettungskräfte vor der Hütte hörte.

 

Nachtrag

Die Rettungskräfte hatten Josies Vater im Badezimmer der Hütte gefunden. Da er bewusstlos gewesen war, hatte er sich nicht bemerkbar machen können. Er hatte die Sache aber den Umständen entsprechend gut überstanden.

Jakob wurde noch in der Nacht gefasst und ins Gefängnis gebracht. Auf ihn wartet jetzt der Prozess.

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