LuVerschlusssache

„Wer hätte gedacht, dass ein Bild in meinem Handy mein komplettes Leben verändern würde.“ Flüsterte Leon zu sich selbst während er Saras Profilbild in der Online-Dating App betrachtete. Mit dem Daumen wischte er ihre restlichen Bilder durch. Blond und sportlich. Genau sein Typ. Während er sich auf seinem Bett die warme Sonne eines Samstagmittags auf den Bauch scheinen ließ, dachte er noch einmal an ihr erstes Date. Sie hatten stundenlang geredet und er war fasziniert davon wie schnell sie ihn durchschaute. Als sie sich mit einem innigen Kuss verabschiedete, hatte sie ihm gesagt das ihr klar sei das er aufgrund seiner Erlebnisse als Waisenkind Bindungsängste habe. Sie aber bereit sei sich darauf einzulassen.

Während er schmunzelnd da lag, wanderte sein Blick zu dem Spiegel an seinem Schrank. Gedankenverloren rieb er sich die Bartstoppeln und strich sich durch das dunkle Haar. Mitte dreißig, er hatte sich gut gehalten. Seine Stirn führte einen entschiedenen Kampf gegen seinen Haaransatz, bei dem es um jeden Millimeter ging. Schön das alle Gefallenen dieser Schlacht wenigstens eine neue Heimat auf seiner Brust fanden. Gähnend streckte er sich auf dem Bett aus. Rasieren oder Drei-Tage-Bart. Leon überlegte was Sara wohl besser gefallen würde. Bis zu ihrem zweiten Date heute Abend war ja noch genügend Zeit, um eine Entscheidung zu treffen.

Ächzend richtete er sich auf. Das Metall der Kurzhanteln in der Zimmerecke glänzte höhnisch in der Mittagssonne. Leon legte den Kopf schief. Eine kurze Einheit vor dem Frühstück/Mittagessen, in dem verzweifelten Kampf gegen jedes neue Fettpölsterchen oder eher heute Abend, um den Bizeps noch einmal in Form zu bringen. Joggen wäre bei diesem Wetter auch eine verlockende Alternative.

Ding-Dong

Wer klingelte an einem Samstag an seiner Tür. Egal wer es war, er musste sich damit abfinden, dass er zu dieser Uhrzeit nicht bereit war mehr als seine Boxershorts zu tragen. Gähnend schlurfte Leon zur Tür. Drückte den Knopf der Gegensprechanlage und rief mit krächzender Stimme „Hallo?“

Keine Antwort.

Leon räusperte sich, zweiter Versuch „Wer ist da?“

Wieder keine Antwort.

Zähneknirschend spähte Leon durch den Türspion. Niemand zu sehen. Sicherheitshalber öffnete er noch einmal die Tür, um den Treppenabgang nach oben und unten zu kontrollieren. Dabei wäre er fast auf das kleine braune Paket auf seiner Türschwelle getreten.

„Hab ich was bestellt?“ Nuschelte Leon zu sich selbst

In Zeiten von Online-Shopping war es ihm nicht möglich diese Frage kategorisch auszuschließen. Ein Blick auf den  weißen Aufkleber, mit seinem Namen und Adresse darauf, bestätigte diesen Verdacht, also nahm Leon das Paket mit nach drinnen. Achtlos begann er das Papier aufzureißen.

„Ein Handy? Das hab ich definitiv nicht bestellt. Schon gar nicht so eins.“ Schnaubte Leon verächtlich und betrachtete das kleine, schwarze Smartphone in seiner Hand. Kopfschüttelnd legte er es neben sich auf die Spüle und machte sich daran den ersten Kaffee des Morgens aufzusetzen. Mit Hilfe dieses Koffeinschubes würde er sich der weiteren Erforschung dieses Rätsels widmen.

Plätschernd goß er sich den Kaffee in seine Lieblingstasse.

Pting

Leon drehte sich zu dem Handy auf dem Küchentisch. Sein eigenes hatte er wie immer auf stumm gestellt. Das Display des fremden Mobiltelefons leuchtete hell auf. Leon legte den Kopf schief und las:

1 neue Nachricht

Leon nahm das Handy in die Hand, es ließ sich durch einfaches Wischen entsperren. Bereits auf den ersten Blick wurde ihm klar, dass auf dem Gerät nur zwei Apps vorinstalliert waren. Bildergalerie und Nachrichten.

Leon tippte auf die eingegangene Nachricht. Ein Bild öffnete sich auf dem Display und er stieß einen lauten Schmerzensschrei aus. Ein Gefühl als sei ihm ein heißer Nagel durch seine Augen in das Gehirn getrieben worden, durchzuckte ihn. Er presste seine Handballen auf seine Augen und der Schmerz ließ nach. In diesem Moment spürte er plötzlich das etwas Heißes seine Beine hinablief. Erschrocken rieß er die Augen auf. Das Mobiltelefon war auf den Boden gefallen, direkt in eine Pfütze aus Kaffee. Noch mehr Kaffee bedeckte seine Beine. Mit einem Handtuch wischte er sich hektisch die heiße Flüssigkeit ab. Was war gerade passiert? Überall auf dem Boden lagen Scherben, als sei seine Tasse regelrecht explodiert.  Stöhnend fischte er das Handy aus der Kaffeepfütze. Ein kleiner Sprung zog sich einmal über das Display. Na super, jetzt konnte er es auf jeden Fall nicht mehr zurückschicken.

Pting

Leon entsperrte das Handy. Eine Neue Nachricht. Diesmal ein Text:

Lauf.

Verwirrt legte Leon den Kopf schief. Was zur Hölle wurde hier gespielt?

Pting

Sie sind geich sa

Leon schnaubte verächtlich. Er biss sich auf die Lippe während er überlegte was er dem Idioten, der  ihm hier einen Streich spielen wollte, entgegnen sollte.

Pting

Sieh ais dem Fenstwr

„Wooow.“ stöhnte Leon genervt, mit Blick auf das Handy rief er „Bist du jetzt so aufgeregt, dass du nicht mal richtig tippen kannst? So wirkt das Ganze noch lächerlicher! Da fällt doch keiner drauf rein.“

Für einen Streich dieser Art kam eigentlich nur sein bester Freund Kalid in Betracht.

„Du kleiner Penner willst mir meinen Samstag und mein Date ruinieren.“ Flüsterte Leon zu sich selbst „Na warte dir zeig ichs.“

Er öffnete die Nachrichten-App und begann eine Antwort zu formulieren.

Oh nein, was passiert hier!?!?!? Bitte ich habe Angst

Leon tippte wild auf das Handy und lachte leise, als ihn ein Geräusch aufhören ließ. Sein Fenster war immer noch von der Nacht geöffnet und er hörte wie mehrere Autotüren zu geschlagen wurden. Er näherte sich dem Fenster und spähte nach unten. Zwei schwarze Limousinen waren in zweiter Reihe auf der Straße geparkt und er erhaschte gerade noch einen Blick auf drei Männer in grauen Overalls die unter dem Dach des breiten Anbaus verschwanden, der dieses und das nächste Wohnhaus verband.

Pting

Sie wrden divh holen

Leon räusperte sich, als ihm ein Schauer den Rücken hinab lief und seine Armhaare sich aufrichteten. Wer auch immer ihm diesen Scherz spielte, legte sich ganz schön ins Zeug.

„Kalid, Kalid, Kalid. Was soll der Scheiß.“ Flüstere Leon zu sich selbst und schielte nervös zur Tür. Sollte diese Tür irgendeinen Schaden nehmen, würde sein Vermieter ihn killen und damit ginge dieser Spaß entschieden zu weit.

Pting

Sie wissen wer du bust

„Was zur…Wie wer ich bin?“ Schnaubte Leon verächtlich, seine Hand um das Handy verkrampfte sich „Was soll der Mist.“ Mit dem Daumen öffnete er noch einmal die erste Nachricht, mit dem Foto. Darauf war ein circa drei jähriger Junge mit dunklen Haaren zu sehen. Er trug eine Art grauen Pyjama und saß in einer Sandkiste. Die Farben des Bildes wirkten blass, als seien sie von einem alten  Foto abfotografiert worden. Die Ränder waren unscharf und ließen alles leicht verschwommen wirken. Leon starrte den Jungen an und sein Kiefer verkrampfte sich.

„Was soll das? Was ist das für eine kranke Scheisse. Kalid das ist nicht witzig. Das ist kein Thema mit dem ich spaße und das weißt du auch.“ Flüsterte er zu sich selbst.

Pting

Lauf!!!

Leon schnaubte verächtlich „Fick dich!“

Bum Bum

Vor Schreck hätte Leon das Handy fast erneut fallen gelassen, als es donnernd gegen seine Tür klopfte. „Das ist nicht euer ernst.“ Rief er aufgebracht „Das geht zu weit! Ihr versaut meinen Samstag.“ Doch er konnte spüren wie seine Knie weich wurden.

„Hier ist Herr Schmidt, ich müsste nur kurz mit ihnen sprechen.“ drang eine schnarrende männliche Stimme durch das Holz. Leon leckte nervös über seine trockenen Lippen. Dieser Spaß ging entschieden zu weit und war noch dazu äußerst geschmacklos!

Bum Bum

„Öffnen  sie bitte die Tür, es gibt ein Problem mit dem Druck auf den Wasserleitungen. Wir sind von den Stadtwerken, ihr Vermieter hatte uns angerufen.“

„Ouuhhh.“ Leon keuchte erleichtert „Einen Moment!“

Jetzt wurde ihm klar wer ihm diesen Streich spielte. Tony aus dem ersten Stock wusste vermutlich durch seinen Vater, dem Hausmeister im Wohnblock, von dem Besuch der Techniker und hatte ihm das Handy vor die Tür gelegt, um ihm diesen Streich zu spielen. Sehr lustig! Mit dem Fuß schob er die Scherben der Kaffeetasse vorsichtig zur Seite und näherte sich der Tür.

„Ich komme schon.“

Auf dem Weg zur Tür schnappte er sich eine Jeans vom Sofa und schlüpfte humpelnd hinein, dann zog er zog sich noch ein T-shirt über. Den „Es-ist-Samstag-und-ich-bleibe-nackt-komme-was-da-wolle-Plan“ hatte er vor Aufregung vergessen.

Pting

Verschwinde!!!! Jetzt!!

„Ja, klar. Fick dich.“ Nuschelte Leon und öffnete die Tür.

„Guten Morgen Herr Kühn. Schmidt ist mein Name, dürfen wir herein kommen?“ fragte der Älteste aus der Gruppe. Leon schätzte ihn auf Anfang 50. Das schüttere grau melierte Haar hatte er streng nach hinten gekämmt, wodurch seine Stirn noch größer wirkte. Hängende Backen und Mundwinkel umgaben einen zusammengekniffenen Mund, in einem schlaffen Gesicht. Insgesamt wirkte der Mann leblos, bis auf seine strahlend blauen Augen, die sich nun förmlich in Leon hineinzubohren schienen. In seinem Kopf taufte er den Mann „Bloodhound“, wie den englischen Jagdhund mit den hängenden Backen.

Begleitet wurde Bloodhound von zwei jungen Männern mit angespannten Gesichtern, die nervös vor und zurück wippten. Leon konnte die Muskeln der Beiden durch die Arbeitsoveralls sehen. Er taufte den einen mit dem blonden Bürstenhaarschnitt, dessen Hals eins mit seinem Kopf zu sein schien, Kasten. Den anderen, der sich ständig nervös über die Lippen leckte, Gecko.

„Ja natürlich kommen sie ruhig rein.“ Antwortete Leon. Er hatte die Einladung kaum ausgesprochen da drängten sich Kasten und Gecko bereits in die Wohnung und begannen sich umzusehen. Stumm machte Kasten Bloodhound auf die Scherben und den verschütteten Kaffee aufmerksam. Bloodhound nickte leicht und wand sich dann an Leon, dem das Ganze nicht entgangen war.

„Herr Kühn ist ihnen heute Morgen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen.“ Fragte Bloodhound mit seiner schnarrenden Stimme.

„Ja.“ Antwortete Leon und beobachtete weiter Kasten und Gecko. Die nun begonnen hatten die Paketfetzen zu untersuchen.

„Ach jah.“ Fragte Bloodhound und zog interessiert eine seiner Augenbrauen nach oben. „Was denn genau.“

Leon wand ihm den Blick zu und antwortete mit kalter Stimme  „Drei als Arbeiter verkleidete Männer, die unangekündigt an einem Samstag bei mir vor der Tür stehen und behaupten sich für defekte Leitungen zu interessieren. Dann aber meinen Müll inspizieren.“

Leon schluckte schwer und seine Hand verkrampfte sich um das Handy. Bloodhound ließ ein keuchendes Geräusch hören, das wohl ein Lachen sein sollte.

„Entschuldigen sie bitte meine Mitarbeiter, die Beiden sind zuweilen etwas unsensibel.“ Sagte er und warf den Beiden einen kalten Blick zu, dann wand er sich wieder an Leon und fuhr fort „Wir sind wegen einer technischen Störung gerufen worden. Deshalb ist es wichtig das sie uns alles berichten was heute Morgen ungewöhnliches vorgefallen ist.“

Noch bevor Leon antworten konnte rief Kasten aufgeregt „Das Paket hat keinen Absender.“

„Bitte verlassen sie meine Wohnung!“ Sagte Leon nun deutlich, wobei er eine plötzliche Enge in seiner Brust und ein Ziehen in seinem Bauch spürte. Die Erleichterung die er vorhin verspürt hatte und die nach dem Öffnen der Tür bereits konstant abgenommen hatte, war nun vollends verschwunden.

Bloodhound warf Kasten einen wütenden Blick zu und sagte dann in versöhnlichem Tonfall „Herr Kühn können sie uns sagen woher sie dieses Paket haben?“

Leons Knie wurden weich und sein Magen schien sich umzudrehen.

„Lassen sie diesen dummen Scherz und verlassen sie meine Wohnung.“ Antwortete er mit erstickter Stimme.

Bloodhound stieß enttäuscht Luft zwischen seinen Zähnen aus. Dann hob er plötzlich die Hand und rief wütend „Noch nicht!“

Leons Blick folgte seiner Handbewegung und sah das Gecko einen Schritt auf ihn zu gemacht hatte. Seine rechte Hand steckte auf Brusthöhe in seinem offenen Overall. Dort verharrte sie während er fragend seinen Chef anstarrte. Dieser wand sich noch einmal an Leon und sprach nun mit durchdringender Stimme „Herr Kühn woher haben sie dieses Paket und was hat sich darin befunden? Sie ersparen uns allen eine Menge Arbeit wenn sie einfach antworten würden.“

Leon war schlecht und seine Knie schienen unkontrolliert zu zittern. Kasten der nun die Durchsuchung der kleinen Einzimmerwohnung beendet hatte stellte sich hinter Leon, so dass er nun komplett umzingelt war.

„Herr Kühn bitte beantworten sie einfach die Fragen.“ Zischte Bloodhound.

„Wenn das hier ein Scherz sein soll dann geht das alles zu weit.“ Antwortete Leon mit leiser Stimme.

Bloodhound schnalzte mit der Zunge „Es tut mir leid Junge. Wir hätten das hier auch einfacher lösen können.“ Dann trat er einen Schritt zurück, lehnte sich gegen die Tür und fügte an die beiden Anderen gewandt hinzu „Packt ihn ein. Wir nehmen ihn mit.“

Pting

Leon sah nach unten. Die anderen starrten ebenfalls auf das Handy in seiner Hand. Instinktiv öffnete er die Nachricht mit einem Wisch seines Daumes. Ein weiteres Bild des Kindes in dem grauen Pyjama. Diesmal an einem hölzernen Tisch, mit einem Puzzle vor sich. Leons Schädel begann sofort wieder zu brennen und ein kalter Schauer jagte ihm über den Rücken. Es war als würde der Raum um ihn herum Luft holen und plötzlich brach das Chaos los. Der Esstisch schlitterte wie von Geisterhand über den Boden und schmetterte Kasten gegen die Wand. Als Gecko sich auf Leon stürzen wollte krachte ihm das Bücherregal in den Rücken und begrub ihn.

Ohne nachzudenken nutzte Leon das Chaos und rannte zur Balkontür, riss sie auf und sprang auf das darunter liegende Dach des Anbaus. Seine nackten Füße klatschen auf die raue Bitumenabdeckung. Doch das pumpende Adrenalin ließ ihn weder nachdenken noch Schmerzen spüren. Panisch sprintete er über das schwarze Dach zu dem angrenzenden Wohnhaus. Genau auf seiner Höhe war das Fenster seiner Nachbarin Frau Höhnlich geöffnet. Mit einem Satz sprang er hindurch und rannte durch ihr Wohnzimmer. Frau Höhnlich die gerade auf ihrem Sofa saß, quiekte erschrocken auf.

„Sorry Frau Höhnlich.“ Brüllte Leon während er durch ihre Wohnung hastete und versuchte keinen der sechs Rauhaardackel platt zu treten. An der Tür angekommen drückte er hastig die Klinke nach unten. Abgeschlossen.

„Wo ist der Schlüssel Frau Höhnlich!“ brüllte Leon panisch.

„Ähm, ähm am Sideboard.“ Rief Frau Höhnisch ängstlich „Aber nicht die Hunde rauslassen!“

Mit zitternden Händen und hektischer Atmung öffnete Leon die Tür mit dem Schlüssel. Dann hastete er immer zwei Stufen nehmend das Treppenhaus nach unten. Im Erdgeschoss riss er die Haustür auf und eilte nach draußen. Mit quietschenden Reifen bremste die schwarze Limousine vor ihm und Kasten sprang aus dem Auto.

„Stehen bleiben!“ brüllte er. Als Leon die schwarze Pistole in Kastens Hand sah, warf er sich herum und rannte zurück in das Haus. Mit großen Schritten nahm er die erste Treppe und bog dann nach rechts ab in einen langen Flur. Verzweifelt rüttelte er an den einzelnen Türen an denen er vorbei kam. Doch alle waren verschlossen. Panisch hämmerte er gegen die letzte Tür. Als hinter ihm jemand rief „Stehen bleiben.“

Kasten kam langsam durch den Flur auf ihn zu. Die Pistole auf Leons Brust gerichtet.

Pting

Leon blickte auf das Handy. Ein weiteres Bild. Der kleine Junge stand nun neben einer zerbrochenen Steinkugel. Neben ihm ein Mann mit einem weißen Kittel der ihm die Hand auf den  Kopf gelegt hatte. Wieder verspürte Leon den Schmerz im Kopf. Diesmal jedoch nur in der Schläfe und bereits wesentlich schwächer.

„Lass das Handy fallen!“ brüllte Kasten und Leon hob den Blick. In diesem Moment schien es als vollführe der Teil des Flures in dem Kasten stand eine seitwärts Rolle. Der Boden wurde zur Decke und der junge Mann wurde von seinen Füßen gerissen und gegen die Wand geschleudert. Dann krachte er gegen die Decke und stürzte auf den Boden, dort blieb er stöhnend liegen. Leon stand einige Sekunden wie versteinert da. Was hatte er gerade gesehen? Das toppte sogar den fliegenden Tisch und die explodierende Kaffeetasse. Ein Stöhnen riss ihn aus seinen Gedanken. Kasten war gerade dabei sich aufzurappeln. Leon stürzte sich auf ihn und versuchte ihm die Waffe zu entreißen. Doch Kasten hatte sich erstaunlich schnell erholt und zog die Hand zurück. Woraufhin Leon das nackte Handgelenk seines Gegners packte. In diesem Moment wurde alles schwarz. Vollkommen schwarz.

Leon und Kasten schwebten in absoluter Dunkelheit.

„Was ist das?“ brüllte ihn Kasten wütend an.

„Ich, ich habe keine Ahnung.“ Stammelte Leon und ruderte verzweifelt mit den Armen. Dann, als habe etwas nur auf diesen Satz gewartet, erstrahlte hinter ihnen ein leuchtendes Viereck, ähnlich einer Kinoleinwand. Leon legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. Plötzlich begannen sich auf dem Weiß Szenen abzuspielen. In Zeitraffer beobachteten sie einen Jungen der in der Schule von anderen mit Papierkugeln abgeschmissen wurde. Dann denselben Jungen einige Jahre älter wie er alleine durch einen dunklen Wald ging. Plötzlich rutschte er ab und brach sich das Bein. Derselbe Junge bei einem Arzt, der traurig den Kopf schüttelte. Während Leon verständnislos das Geschehen beobachtete, schien Kasten wesentlich mehr für den Jungen zu empfinden.

„Woher? Woher hast du das? Warum zeigst du mir das? Warum tust du mir das an?“ brüllte er mit tränenerstickter Stimme. Der Junge auf der Leinwand hatte gerade eine Ohrfeige von einem Mädchen bekommen. Jetzt saß er weinend in seinem Zimmer und plötzlich erkannte Leon den Jungen. Was er dort sah, war nichts anderes als der junge Kasten. Mit jeder neuen Szene wurde er älter und ähnelte mehr und mehr dem muskulösen Overallträger der heute Morgen in seine Wohnung eingedrungen war. Das letzte was sie sahen war Kasten der von einem Esstisch gegen eine Wand gepinnt wurde, dann ein Kasten der von seinen Füßen gerissen gegen mehrere Wände prallte und mit Leon um die Waffe kämpfte. Dann gab es einen Lichtblitz und Leon war wieder zurück in dem Flur. In der Hand die Pistole, saß er schweramtend auf dem Boden. Vor sich einen wimmerden, in Embryonalstellung eingerollten Kasten. Was war gerade passiert fragte Leon sich zum wiederholten Male an diesem Tag und ihm wurde übel. Wankend hastete er aus dem Gebäude, um draußen auf Gecko und Bloodhound zu treffen die neben dem leeren Wagen von Kasten standen. Bevor die Beiden reagieren konnten, sprang Leon mit einem Satz über den angrenzen Gartenzaun, wobei er das Handy festumklammert, die Pistole verlor. Hinter sich hörte er wütende Rufe, als er mit nackten Füßen durch drei Gärten rannte, bevor er bei der nächsten Straße ankam. Er musste seinen Heimvorteil nutzen. Mit letzten Kräften sprintete er über die Straße und in eine schmale Gasse zwischen zwei Wohnblocks. Diese rannte er keuchend entlang bis er zu einem kleinen Spielplatz gelangte. Mit letzter Kraft schleppte er sich zu einem der kleinen Holzhäuschen und versteckte sich schweratmend darin.

Die nächsten Minuten kamen ihm wie Stunden vor. In den kalten Sand gepresst, versuchte er seine Atmung zu beruhigen und wartete das, das Brennen seiner Lungen und das Hämmern seines Herzens nachließen. Zwischendurch spähte er immer wieder heimlich zwischen den Holzlatten hindurch ob einer seiner Verfolger dort auftauchte. Nachdem laut seiner Handy Uhr 20 Minuten vergangen waren, erlaubte er sich zu entspannen und richtete sich etwas auf. Sein Rücken schmerzte von der unbequemen Position und seine Füße brannten von dem barfuß laufen auf dem Asphalt. Er wagte es nicht einmal seine Fußsohlen anzusehen. Stattdessen mustere er das Handy in seiner Hand. Mit dem Daumen entsperrte er das Gerät und wischte noch einmal durch die Bilder. Auf allen Bildern war derselbe kleine Junge zu sehen. Auf einmal spürte Leon ein Zwicken in der Magengegend als sich ihm ein anderer Gedanke aufdrängte. Könnte er der Junge auf den Bildern sein? Mit vier Jahren war er als Findelkind in einem Waisenhaus abgegeben worden, dementsprechend existierten keine Bilder aus der Zeit davor. Das Kind auf den Bildern hatte auch dunkle Haare und waren das nicht seine Augen? Schnaubend verwarf er den Gedanken. Alle Kleinkinder sahen gleich aus! Viel interessanter waren die Wunder die das Handy vollbracht hatte. Er musste das Gerät näher untersuchen lassen, aber dafür brauchte er Hilfe. Stöhnend setzte er sich auf und humpelte zur Straße. Wobei sein Blick ängstlich umher wanderte.

Circa 20 Meter entfernt parkte ein gelbes Taxi. Der Fahrer lehnte an der Beifahrertür und wechselte ständig zwischen Fleischkäsebrötchen und Zigarette. Atemlos rannte Leon zu dem Taxi, riss die Tür auf und warf sich auf den Rücksitz. Der Fahrer steckte verwirrt den Kopf durch das Fenster nach Innen und fragte „Alder, samma tickste noch ganz sauber?“

„Das ist ein Notfall, bitte fahren sie mich zur Kirchstraße. Ich zahle auch das Doppelte!“

„Haste Patte?“

„Jah!“

„Ja, jud.“

Leon legte sich flach auf den Rücksitz, was ihm einen weiteren misstrauischen Blick des Taxifahrers einbrachte.

Pting

Bereit zuzuhören?

Pting

Fahr in die Berliner Straße, dort warten Antworten…

Leon starrte ungläubig auf das Handy in seiner Hand. Wer auch immer ihm da schrieb hatte ihm helfen wollen und er war mehr als neugierig herauszufinden was es mit der Sache auf sich hatte. Doch vorher brauchte er ein Paar Schuhe.

Nach circa 15 Minuten erreichten sie ihr Fahrtziel. Leon bat den Fahrer zu warten während er das Geld holte. Der verneinte jedoch und bestand darauf ihn zu begleiten. Gemeinsam mit dem mürrischen Taxifahrer stapfte er die knarrenden Treppen des Altbaus in den 1. Stock, um bei Al-Akari zu klingeln.

Die Tür schwang auf.

„Alter! Leon, Junge. Was geht ab? Ist das deine neue Freundin?“ fragte Kalid und zeigte auf den mürrischen Taxifahrer mit dem  Schnauzer.

„Mo, bitte gib dem Mann 80 Euro und dann lass uns reingehen.“

Mo zog die dunklen Augenbrauen nach oben, rieb sich mit der Hand den rasierten Schädel, lachte und verschwand kurz in der Wohnung.

„Ich hoffe das wars wert.“ Mit diesen Worten überreichte er dem Taxifahrer zwinkernd ein Bündel zerknitterter Schein. Der murrte etwas und lief wieder nach unten, während Leon bereits in die Wohnung drängte und sich auf die  Couch fallen ließ.

„Alter, du musst die auch bezahlen, die blasen dir doch nicht zum Spaß einen.“ lachte Kalid und hielt sich dabei den Bauch „Und wo sind deine Scheiß Schuhe.“

„Ich brauch welche von dir.“ Antwortete Leon mit ernster Miene „Außerdem will ich das du das hier an deinen Computer anschließt.“

„Jou, du kommst hierher. Ich muss deinen überteuerten Lover bezahlen und dann willst du auch noch meine Schuhe? Welche denn? Vielleicht meine Jordans.“

Leon sprang auf und packte seinen Freund bei den Schultern, er sah ihm tief in die Augen und sagte „Hör mir jetzt genau zu. Heute Morgen ist echt kranke Scheiße abgegangen und ich brauche deine Hilfe! Jetzt!“

„Na ein Glück! Und ich dachte schon du willst mich jetzt auch küssen. Weil da würden 80 Euro nicht reichen. Wobei du ja nicht mal die hast. Ich glaube ich würds für deine Schuhe machen. Ach ups die hast du ja auch…“

„Kalid!“ rief Leon wütend „Ich meins ernst.“

Kalid starrte ihn erschrocken an „Okay, okay. Warte hier.“

Kalid verschwand in seinem Schlafzimmer, während Leon sich auf der Couch zurücklehnte und versuchte sich zu beruhigen.

„Hier. Die dürften dir halbwegs passen. Die sind mir inzwischen zu klein.“

Leon setzte sich wieder auf und nahm die Schuhe und ein paar Socken entgegen.

„Hör mir jetzt genau zu.“ Flüsterte er ernst während er sich die Socken und Schuhe anzog. „Was ich dir jetzt erzähle klingt total verrückt, aber du musst mir glauben!“

„Wow. Das ist wie in einem dieser Filme, da habe ich mein ganzes Leben drauf …“

Leon unterbrach ihn „Das ist noch viel krasser als in den Filmen.“ Kalid sah in zweifelnd an und setzte gerade dazu an, ihm zu erläutern wie „krass“ die Filme waren die er schon gesehen hatte. Doch Leon ließ sich nicht unterbrechen und begann den Ablauf den Tages zu schildern, wobei er sich immer wieder nervös durch die Haare fuhr. Als er fertig war starrte Kalid ihn wortlos an.

„Ich weiß das klingt verrückt. Aber hier ist das Handy. Schließ das an deinen Computer an, mach irgendwas damit.“

Kalid atmete hörbar aus. „Wow. Ich weiß nicht was ich sagen soll. Ja, ich mein … ja. Wir können die Bilder mal durch Google Bilder Suche laufen lassen. Und die Adresse die dir das Handy geschrieben hat. Die können wir auch mal googeln.“

Pting

„Ah! Siehst du!“ rief Leon erregt und die beiden Männer beugten sich gespannt über das Mobiltelefon.

Beweg dich! Sie werden dich holen und dann ist es das Ende!

„Wow das ist echt creepy.“ Sagte Kalid und begann das Handy mit dem Computer zu verbinden, während sich Leon wieder auf die Couch legte und seine Augen schloss. Einige Minuten später stöhnte Kalid ettäuscht auf.

„Also Google-Bilder-Suche hat gar nichts ergeben. Aber die Adresse hab ich mal überprüft. Da wohnt jemand berühmtes. Ein Professor Dr. Straub. Hat verschiedene Abhandlungen über Psychologie geschrieben. So sieht der Kerl aus.“

„Na super und wie soll der mir helfen.“ Stöhnte Leon.

„Sag mal Leon.“ fragte Kalid schüchtern „Denkst du, dass bist du auf den Bildern?“

„Hm, keine Ahnung. Hab ich auch schon überlegt, aber alle Kinder sehen doch eh gleich aus.“

„Vielleicht ist dieser Professor ja dein Vater oder so? Von dem Bild her hätte er schon Ähnlichkeiten mit dem Mann in dem Kittel. Die haben beide so ne richtige Haarmähne. “

„Selbst wenn es so wäre. Warum wollen diese Stadtwerkekiller mich dann umlegen?“ rief Leon aufgebracht. Kalid zog sich das Bild des Jungen auf den Laptop und vergrößerte es, während er vergleichend zu seinem Freund schielte.

„Warte mal.“ Flüsterte er erstaunt „Guck dir das mal an.“

Leon richtete sich auf und trat neben seinen Freund an den Bildschirm.

„Ich hab versucht an das Gesicht von dem Jungen ranzuzoomen.“

„Das ganze Bild besteht aus Buchstaben. Unterschiedlich farbige Buchstaben die ein Bild ergeben.“

„Wörter.“ Korrigierte ihn Kalid „Das sind Wörter. Deutsch und Russisch.“

„Seit wann kannst du russisch?“

„Kann ich nicht, aber die Typen mit denen ich manchmal Call of Duty spiele.“

„Lokomotive. Rucksack. Солдат. Die Wörter ergeben gar keinen Sinn.“ Flüsterte Leon verwirrt.

Brrrrrrrrrrrr

Die beiden Männer schreckten zusammen, als es an der Haustür klingelte. Kalid sah Leon unsicher an.

„Also das war mein letzte Bargeld, wenn das noch mehr Liebhaber von dir sind.“

„Mach die Tür nicht auf!“ zischte Leon entsetzt.

Kalid sah Leon ängstlich an.

Bumm Bumm

„Hallo? Herr Al-Akari? Hier ist die Polizei!“

„Das ist die Polizei! Da muss man aufmachen. Die machen einem sonst die Tür kaputt.“

„Fuck!“ zischte Leon „Das hab ich über Techniker auch gedacht und guck wo ich jetzt bin.“

„Versteck dich im Wohnzimmer.“ Flüsterte Kalid während er den Wohnungsflur betrat und an die Haustüre ging.

Leon konnte durch den Türspalt sehen, wie Kalid drei Männern die Tür öffnete. Zwei hatten Polizeiuniformen an und der Dritte war wie ein Sanitäter gekleidet. Leon konnte hören wie Kalid fragte ob er weiterhelfen könne.

„Guten Tag Herr Al-Akari, es geht um ihren Freund Herrn Kühn.“ Begann einer der Polizisten „Es kam heute Morgen zu einem schweren Verkehrsunfall, bei dem ihr Freund als Fußgänger gefährlich verletzt wurde. Unteranderem hat er eine Kopfverletzung erlitten und wurde ins Krankenhaus eingeliefert.“

Kalid zeigte sich schockiert.

„Das Problem ist, dass ihr Freund sich entgegen ärztlicher Anweisungen aus dem Krankenhaus entfernt hat. Die Pfleger berichteten, dass er unter schweren Wahnvorstellungen leidet. Es ist extrem wichtig, dass wir ihn zu seinem eigenen Schutz möglichst schnell finden und in ärztliche Betreuung zurückführen.“

„Ähm also ja.“ Nervös blickte Kalid über seine Schulter. Der Polizeibeamte folgte seinem Blick.

„Dürfen wir mal kurz reinkommen.“ Fragte er und betrat bereits die Wohnung. Kalid öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, doch der Beamte unterbrach ihn als er mit lauter Stimme rief „Herr Kühn, kommen sie bitte raus. Wir tuen das hier zu ihrem eigenen Wohl.“ Der Polizist gab seinem Kollegen ein Handzeichen und dieser stellte sich an der anderen Seite der Schlafzimmertür auf.

„Herr Kühn, es ist sehr wichtig, dass sie sich umgehend wieder in Behandlung begeben.“ Ein Nicken und die beiden Polizisten stürmten mit gezogener Waffe das Schlafzimmer. Kopfschüttelnd kamen sie zurück in den Flur. Einer der Beiden kontrollierte das Bad. Bevor sie sich vor dem Wohnzimmer aufstellten. Ein stummer Befehl und beide stürmten das Wohnzimmer. Mit der Waffe im Anschlag durchsuchten sie die Schränke und spähten hinter die Couch. Einer der Beiden beugte sich aus dem geöffneten Fenster und inspizierte den Innenhof.

„Okay, keiner da.“ Erklärten sie als sie die Wohnung verließen „Bitte kontaktieren sie uns sobald sie von ihrem Freund hören. Erschöpft und kreidebleich sackte Kalid an der Wand zusammen.

 

Leon hockte in einem Gebüsch hinter einem prunkvollen Altbau. Seine Knie taten ihm weh und bei dem zweiten Fenstersprung des Tages hatte er sich zusätzlich das Fußgelenk verdreht. Außerdem taten seine Füße noch mehr weh. Da er kein Geld mehr für ein Taxi gehabt hatte, war er den Weg von Kalids Wohnung zu der Adresse aus dem Handy gelaufen. Hinzu kamen sämtliche Kratz- und Schürfwunden die er erlitten hatte, bei dem Versuch sich in diesem Gebüsch zu verstecken. Die Anweisungen des Handys waren klar. Seit dem er angekommen war hatte er mehrere neue Nachrichten erhalten. Aus Langeweile scrollte er noch einmal alle durch.

Begib dich in die Berliner Straße

Ein Bild des Gebäudes.                                                                                                                                                           

Versteck dich in dem Gebüsch auf der Rückseite, hinter dem Garten

Wenn es dunkler ist,  steig in das Fenster im zweiten Stock ein

Dort befindet sich ein Arbeitszimmer

Dort wirst du die Antworten finden

Plötzlich ließ ihn ein Geräusch aufschrecken. Die Terassentür die aus dem Haus in den Garten führte hatte sich geöffnet. Zwei ältere Männer traten ins Freie. Beide unterhielten sich leise. Einer der Beiden war ein gebückt gehender, kleiner Mann von circa 80 Jahren. Mit schlohweißem üppigem Haar und einer goldenen Lesebrille, von der ein Band um seinen Hals ging. Der Mann nutzte einen Stock um sich langsam und bedächtig vorwärts zu bewegen. Leon erkannte den Mann von den Bilder aus dem Internet als Professor Straub wieder. Sein Begleiter schien etwas jünger. Seine Haare waren von einem dunklen Grau und seine buschigen, dunklen Augenbrauen verliehen ihm einen finsteren Gesichtsausdruck. Dieser wurde durch die tiefen Furchen in seinem Gesicht und dem großen dunklen Leberfleck auf der Backe noch verstärkt. Leon taufte ihn deshalb Granit. Er schien dem Älteren zuzuhören doch sein Blick glitt unruhig über die Gartenanlage. Zu Leons großem Schreck wurden die Beiden von einer weiteren Person begleitet. Gecko war direkt nach ihnen aus der Tür getreten und scannte nun ebenfalls das Gelände mit zusammengekniffenen Augen. Ängstlich drückte sich Leon tiefer in sein Versteck. Er konnte nicht hören worüber die Beiden sprachen, jedoch schienen sie etwas zu diskutieren.

Es vergingen zwei Stunden bis die Drei sich wieder in das Haus begaben. Mittlerweile war es dunkel geworden und Leon wagte sich aus seinem Versteck. Leise schlich er durch den Garten zu der Wand des Altbaus. Dort starrte er zu dem Fenster im zweiten Stock. Die letzten Stunden hatte er sich immer wieder Gedanken gemacht wie er zu dem Fenster im zweiten Stock klettern und es öffnen sollte. Zuletzt hatte er darauf gehofft, dass die Situation aus der Nähe besser aussehen würde. Doch jetzt schien ihm die Lage noch aussichtloser. Angestrengt starrte er auf das Fenster in dem sich die Lichter der kleinen Lampen im Garten spiegelten. Als plötzlich ein Ruck durch seinen Körper ging. Ein Gefühl als hätte ihn ein Angelhaken an seinem Bauchnabel gepackt und mit aller Kraft aus dem Wasser gezogen. Keuchend stützte er sich an einem der Aktenschränke neben sich ab, als er sich auf den Teppich erbrach. Stöhnend wischte er sich mit der Hand den Mund ab. Sein Atem stockte, als ihm klar wurde, dass er in der Mitte des Arbeitszimmers stand, dass er die letzten Stunden beobachtet hatte. Er setzte dazu an das Geschehene zu hinterfragen, beschloss jedoch es nicht zu tun. Er würde die Fragen zu diesem Vorfall zusammen mit allen anderen hinten anstellen, ansonsten würde er riskieren das sein Kopf platzte. Stattdessen begann er das Arbeitszimmer zu durchsuchen.

Der kleine Raum wurde von einem schweren, aufwendig verzierten Mahagonitisch dominiert. An den Wänden reihten sich große Vitrinen, mit Modellen von Gehirnen und menschlichen Nervenlaufbahnen. An den freien Wänden hingen Schaubilder von chemischen Prozessen innerhalb des Körpers. Das einzige Licht in dem Büro kam aus dem Garten und fiel durch das Fenster hinein. Leon war versucht den großen Lichtschalter umzulegen, doch er hatte Angst unnötige Aufmerksamkeit zu erregen und suchte stattdessen im Dunkeln weiter. Er öffnete Schubladen, Schränke und Boxen. Doch nirgends fanden sich Unterlagen die in irgendeiner Weise von Interesse schienen. Nachdem er das komplette Arbeitszimmer auf den Kopf gestellt hatte, lehnte er sich gegen die Wand und ließ sich stöhnend daran herabsinken. Er schloss die Augen und auf einmal kamen ihm Zweifel. Zweifel an dem was er gerade tat und Zweifel an dem was er erlebt hatte. Was war wenn er verrückt war. Wenn er sich das alles nur eingebildet hatte. Seine Gedanken wurden zu einem reißerischen Strudel der alles durcheinander warf.

Doch  er wurde je aus seinen Gedanken gerissen, als ihn ein Klicken aufhorchen ließ. Vor ihm in der Dunkelheit schien etwas bläulich zu schimmern. Eine durchsichtige Gestalt lief durch das Zimmer, unter dem Arm einen Stapel Akten. Leon erkannte die Gestalt, als Professor Straub. Jedoch eine jüngere Version. Diese begab sich zu dem schweren Arbeitstisch und steckte einen Kugelschreiber in eine kleine Öffnung an der Seite. Mit einem Klicken öffnete sich ein Fach und eine Schublade glitt heraus. Die durchsichtige Gestalt des Professors legte die Akten hinein und schob das Fach wieder zu.

Mit neuer Energie richtete Leon sich wieder auf und wiederholte was der Geisterprofessor zuvor getan hatte. Ein Klicken und das Fach öffnete sich. Die Schublade klemmte zunächst doch mit etwas Kraft konnte Leon sie herausziehen. Darin befand sich ein Stapel vergilbter Akten. Ein roter Balken zog sich einmal quer über den gelblichen Einband. Leon öffnete die Akten und begann zu lesen. Das meiste waren Protokolle. Bericht und immer wieder einzelne handschriftliche Vermerke und Einträge des Professors. Namen und Daten waren größtenteils ausgeschwärzt. Immer wieder fehlten Seiten. Doch je weiter Leon las desto klarer wurde sein Bild.

20.Oktober 1989 – DDR – Mecklenburg Vorpommern, ———————————

Der kleine Junge in dem grauen Pyjama saß gedankenverloren an einem hölzernen Tisch, in einem grauen Raum. Vor ihm lagen in einem Glaskasten drei Objekte. Ein Dreieck, ein Viereck und ein Kreis. Dahinter waren jeweils drei entsprechende Öffnungen in den Tisch eingelassen. Der Junge neigte sich nach vorne und versucht die Objekte mit seinen kleinen Händchen zu ergreifen. Dabei stieß er gegen das Glas und zuckte erschrocken zurück. Verärgert legt er den Kopf schief. Er hatte dasselbe Rätsel schon hunderte Male gelöst, doch dieses Mal konnte er die Formen nicht ergreifen. Seine Bemühungen spiegelten sich in der großen, dunklen Glasscheibe die in der Wand zu seiner rechten eigelassen war.

Hinter der Scheibe, in einem Nachbarraum tippelte ein junger Mann mit dunklen Haaren, buschigen Augenbrauen und einem Leberfleck auf der Backe, nervös von einem Fuß auf den anderen. Er hielt eine Stoppuhr und ein Klemmbrett in der Hand und trug einen weißen Kittel. Neben ihm, ein einige Jahre älterer Mann mit blonder Haarmähne, ebenfalls in einen weißen Kittel gekleidet, mit einer goldenen Lesebrille die an einem Band um seinen Hals hing. Beide Männer musterten konzentriert den kleinen Jungen.

„Es funktioniert nicht Herr Professor.“ Flüsterte der junge Mann mit den buschigen Augenbrauen nervös „Er ist auch negativ! Das ganze Projekt ist ein Reinfall!“

„Nur die Ruhe.“ Entgegnete der Professor gelassen.

Der Junge hatte sein kleines Gesicht zu einer wütenden Grimasse verzogen und starrte konzentriert auf die Formen. Der Mann mit den buschigen Augenbrauen japste, als sich die Objekte in dem Glaskasten plötzlich wie von Geisterhand bewegten. Geschmeidig schwebte das Dreieck in die dafür vorgesehene Öffnung. Es folgten das Viereck und der Kreis.

„Das, das ist grandios!“ Frohlockte der junge Mann außer sich vor Freude „Auh!“

„Hören sie mir genau zu.“ Flüsterte der Professor eindringlich, während er den jungen Mann fest am Arm gepackt hielt. „Sie erzählen vorerst niemanden hiervon. Niemanden! Verstanden!“

„Aber Herr Professor, die Führung. Der Kader wird informiert werden wollen. Russland wird…“

Der Professor drehte ihm das Gesicht zu und musterte ihn mit festem Blick.

„Für unsere Forschung. Für unser Land. Für die Menschheit!“ Er zögerte kurz dann fuhr er fort „Ist es das Beste wenn wir erst weiter forschen, bevor wir Meldung darüber machen.“

29.Oktober 1989, 20 Uhr – DDR – Mecklenburg Vorpommern, ————————–

Der kleine Junge stand in seinem grauen Pyjama neben einer schweren Steinkugel. Hinter ihm saß der Mann mit der blonden Haarmähne entspannt in einem Klappstuhl, die Hände vor der Brust gefaltet und beobachtete ihn. Der kleine Junge legte den Kopf schief, dann streckte er langsam die Hand aus. Mit einem Krachen brach die Steinkugel in mehrere Teile. Der kleine Junge lehnte sich vor und fischte einen Bonbon aus der Mitte der Trümmer. Der Mann richtete sich auf und lächelte zufrieden, während er dem Jungen wohlwollend eine Hand auf den Kopf legte.

09.November 1989, 20 Uhr – DDR – Mecklenburg Vorpommern, ————————–

Der Mann mit der blonden Haarmähne packte hastig mehrere Mappen in seine braune Ledertasche, als seine Bürotür aufflog. Sein junger Kollege mit den buschigen Augenbrauen und den dunklen Haaren stürmt schwer atmend in sein Büro.

„Die…die Mauer ist gefallen!“ keuchte er.

„Ich weiß.“ Entgegnete der Professor gelassen.

„Sie wissen was zu tun ist!“ rief der junge Mann aufgebracht.

Der Professor wand sich ihm langsam zu. „Vertrauen sie mir.“

„Ich habe ihnen vertraut und sehen sie was passiert ist!“ brüllte er außer sich vor Wut „Die Russen haben gesagt alle Testsubjekte sind zu töten! Und sie haben Recht damit! Sie haben gesehen was er getan hat! Er ist gefährlich.“

„Vertrauen sie mir!“ sagte der Professor noch einmal eindringlich „Ich habe mächtige Verbündete auf der anderen Seite. Wir haben gemeinsam ein Verfahren entwickelt mit dem wir seine Kräfte blockieren können. Holen sie mir die Mappe mit den Bildern. Ich habe für alles vorgesorgt.“

Ein Geräusch ließ Leon hochschrecken. Die Tür zu dem Arbeitszimmer hatte sich geöffnet und der Professor betrat den Raum gemeinsam mit Gecko und Bloodhound. Mit müder Stimme begann er zu sprechen „Es tut mir leid, dass du es auf diese Weise erfahren musstest. Ich hatte gehofft das dieser Tag niemals kommen würde.“

Leon richtete sich zitternd auf, mit bebender Stimme fragte er „Bin, bin ich das? Der Junge?“

Der Professor atmete schwer aus, wobei seine Schultern nach unten sackte „Ja, das bist du.“

„Was haben sie mit mir gemacht?“

Der Professor holte tief Luft, während er sich mit einer Hand die Nasenwurzeln rieb, als habe er Kopfschmerzen.

„In der Hochphase des Kalten Krieges habe ich ein geheimes Projekt geleitet, bei dem wir eine alte Versuchsreihe der Nazis wiederaufgenommen haben. Es ging darum Parapsychologische Soldaten auszubilden. Soldaten und Spione die allein mit Hilfe ihrer Gedankenkraft Gegner töten, Objekte bewegen oder Aufklärung leisten sollten. Der Westen hatte ähnliche Versuchsreihen durchgeführt. Alle scheiterten. Doch als ich als Leiter des Projektes eingesetzt wurde, beschloss ich einen anderen Ansatz zu verfolgen. Anstatt Erwachsene auszubilden, untersuchte ich die Fähigkeiten von Kindern. Wir nahmen Kinder aus ganz Ostdeutschland auf und unterzogen sie einem Training und abschließenden Tests. Die alle negativ verliefen. Bis zum 20.Oktober 1989. Dir ist etwas gelungen was vorher niemand geschafft hat. Doch in dem Moment wurde mir auch bewusst, wie gefährlich deine Fähigkeiten waren. Deutschland und die DDR waren auf einem guten Weg. Die Sowjet-Union war so schwach wie nie und der Frieden war zum Greifen nahe. Eine solche Entdeckung hätte alles gefährdet.“ Der Professor seufzte schwer „Schon einige Jahre zuvor hatte der BND Kontakt zu mir aufgenommen und ich beschloss ihr Angebot zu nutzten. Gleichzeitig forderte ich eine Gegenleistung. Ich wusste, dass wen die Russen von deiner Existenz erfahren würden, gäbe es nur zwei Optionen. Entweder wir liefern dich an die Sowjets aus oder wir töten dich! Also entwickelte ich eine Art Verschlüsslung für dein Gehirn. Mittels, nennen wir es einmal Hypnose, gelang es mir deine Fähigkeiten in deinem Kopf zu verschließen. Mein Kontaktmann beim BND sorgte dafür, dass du sicher untergebracht warst. Logischerweise konnte ich auch ihm nicht von deinen Fähigkeiten erzählen, schaffte es aber zu veranlassen das du ein Leben lang beobachtet wirst. Du und die einzige andere Person die von dem Erfolg der Testreihe weiß.“

Der Professor wand sich in Richtung Tür, der Mann mit den buschigen Augenbrauen und dem Leberfleck, den Leon Granit getauft hatte, war dort aufgetaucht. Gecko und Bloodhound drehten sich ebenfalls um, die Hand an den Waffen.

„Ich hätte ahnen sollen, dass dein Hass und deine Sehnsucht nach Rache der Grund für deine Rückkehr waren.“ Seufzte er mit schwerer Stimme „Nachdem gestern Nacht in eine unserer Forschungseinrichtungen eingebrochen wurde und man mir mitteilte das nichts abhandengekommen sei, wusste ich genau was du gestohlen hattest.“

„Er ist gefährlich!“ brüllte der Mann wütend „Und ich werde es beweisen!“

„Der Junge ist nicht böse.“ Flüsterte der Professor schwach.

„Er hat meine Frau getötet!“

„Deine Frau hat Suizid begangen und das tut mir leid.“ Antwortete der Professor und sah seinen ehemaligen Mitarbeiter traurig an.

„Nein, nein. So ist das nicht gewesen und das weißt du auch. Sie hat sich um ihn gekümmert. Sie hat ihn wie ihr Kind behandelt und als sie ihm nicht geben wollte was er wollte. Ist er in ihren Kopf gegangen und hat sie dazu gebracht sich zu ermorden!“ brüllte Granit mit zornrotem Gesicht.

„Deine Frau war Krankenschwester und es war ihre Aufgabe sich um die Testsubjekte, die Kinder zu kümmern, aber aus ihrer Akte geht auch hervor, dass sie starke Depressionen hatte.“ Entgegnete der Professor eindringlich.

„Das ist nicht wahr! Ihr habt ihre Akte manipuliert, um dieses Monster zu decken! Aber dafür werdet ihr heute bezahlen! Ich habe den Jungen aktiviert! Ich habe die Aktivierungscodes in den Bildern versteckt und ihn hier her gelockt. Jetzt wird er uns alle töten. Und dann wird die Welt sehen, dass er ein Monster ist, dass meine Frau getötet hat.“ Mit diesen Worten zog der Mann eine Pistole und ein Mobiltelefon. Die Waffe auf den Professor gerichtet bediente er das Handy.

„Legen sie Waffe weg!“ brüllte Bloodhound, er und Gecko hatten nun ebenfalls ihre Pistolen gezogen und auf Granit gerichtet.

Pting

Leon der alles wie versteinert verfolgt hatte, erwachte plötzlich aus seiner Lethargie. Wie in Trance zog er das Handy aus seiner Hosentasche.

„Tuen sie das nicht!“ rief der Professor „Er hat sie die ganze Zeit manipuliert und wir haben keine Ahnung was passiert, wenn ihre Fähigkeiten vollends aktiviert werden!“

Leon wischte mit dem Daumen über das Display und starrte auf das Foto. Es zwickte nur kurz in seiner Schläfe. Wieder der junge im grauen Pyjama.

Peng!

Der Mann mit den buschigen Augenbrauen und dem Leberfleck fiel wie in Zeitlupe auf die Knie. Als sein Arm erschlaffte, rutschte auch die Pistole aus seinem Mund.

One thought on “Verschlusssache

  1. Verrückt! Was eine spannende Geschichte! Wirklich nett! Dein Einstieg hat mir sehr gut gefallen, genauso wie auch dein Schreibstil. Der lädt einfach zum weiterlesen ein.
    Ab und an hat sich wohl mal ein Komma oder Rechtschreibfehler eingeschlichen, aber wir wollen es ja mal nicht zu genau nehmen hier 😉👆🏻
    Durch deine Absätze hast du für einen angenehmen Leseflow gesorgt.
    Als du dann aber mit dem „Geisterprofessor“ angefangen hast; war ich leider erstmal raus.
    Das war mir dann doch für meinen Geschmack etwas zu abstrakt.
    Aber ich wette, andere Leser, fahren genau darauf ab! Weiter machen!:)
    Herzlich – Lia 🌿

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