IsibertDie Erbsünde

 

Die Erbsünde

07:07 Uhr. Ein trockenes Kratzen im Hals weckte sie aus einem tiefen traumlosen Schlaf. Ihr Rachen begann regelrecht zu brennen. Immer stärker als ob eine wabernde Glut angefacht wird und zu einem lodernden Feuer wächst. Die Augenlider zuckten und schafften es erst nach mehreren Anläufen sich zu öffnen. Sofort musste sie die Augen wieder schließen, denn die Helligkeit im Raum fuhr ihr wir ein Blitz hinter die Stirn. Mühevoll gelang es ihr die von der Nacht noch tauben und kribbelnden Hände vors Gesicht zu bringen. Vorsichtig blinzelte sie. Wo war sie? Das Blut in ihren Ohren fing an zu rauschen. Panik und Adrenalin rissen sie aus der letzten Lethagie, welche sie mit schwindender Kraft zu umklammern schien. Das war schon einmal passiert. Filmriss. Die letzten Stunden nichts als ein dunkles schwarzes Loch. Schwer atmend versuchte sie das Zimmer in Augenschein zu nehmen. Langsam konnte sie alles schärfer erkennen und sie blickte sich hektisch um. Zartrosa Tapeten, ein weißer Tisch, ein Schaukelstuhl, geblümte Gardinen, Kuscheltiere und Bücher in schweren Eichenregalen. Sie war in ihrem alten Kinderzimmer. Keuchend fasste sie sich an die Brust, ihr Herz raste, als wäre sie um ihr Leben gerannt. Genauso hatte es sich auch im letzten Sommer angefühlt. Zusammen mit ihren Freundinnen Katja und Nicole verbrachte sie ein Wellnesswochenende in Hamburg. Vor ihrem inneren Auge lief das Wochenende wie im Zeitraffer ab. Am zweiten Abend stürzten wir uns ins Nachtleben, aus welchem es ein böses Erwachen gab. Katja wurde überfallen und verbrachte die halbe Nacht auf der Polizeiwache. Nicole wurde schwanger und ich wurde auf einer Parkbank am Hafen wach. Ohne Erinnerung, was in den letzten Stunden geschehen war. Auf der Fahrt nach Hause schworen wir, niemandem zuhause davon zu erzählen. Nicole musste sich für ihren Part in der Geschichte nach drei Monaten etwas einfallen lassen, als die Folgen ihrer Nacht mit einem Unbekannten unübersehbar wurden. Was hatte Leonie aber heute in ihrem Kinderzimmer zu suchen? Sie war schließlich 33 Jahre alt, hatte ihr eigenes Zuhause, wo sie eigentlich neben Mann und Kind hätte aufwachen sollen. So wie jeden Morgen. Während sie die Beine aus dem Bett schwang, dachte sie krampfhaft nach woran sie sich erinnerte. Das Letzte, woran sie eine Erinnerung fassen konnte, war, dass sie ihren Vater besucht hatte. Das letzte Treffen lag einige Wochen zurück. Die ständigen Kopfschmerzen ihres kleinen zweijährigen Bens, die unzähligen Untersuchungen und das bange Warten auf die Ergebnisse. Sie hatte ihren Papa gebraucht. Brauchte jemanden zum Reden. Gegen sieben Uhr am Abend war sie eingetroffen, dann hatten sie Pizza und Wein bestellt. Mit Papa hatte sie auf dem Sofa gesessen, die Türklingel schrillte und der Lieferservice brachte die Bestellung. Soweit waren die Erinnerungen deutlich. Auch an das gemeinsame Essen konnte sie sich gut erinnern. Mit einem süßen schweren Lambrusco haben sie angestoßen und dann verschwammen die Gedanken. Sie bekam sie einfach nicht mehr zu fassen. Sollte sie so viel Wein getrunken haben? Oder stimmte etwas nicht mit ihrem Kopf? Immerhin war dies schon das zweite Mal, dass sie ohne Erinnerungen wach wurde. Sie sprang auf, lief zur Tür und rief nach ihrem Vater. „Papa, wo bist du? Papa? Kannst du mir verraten,“ mitten im Satz kam sie an der untersten Treppenstufe an und stockte. Das Wohnzimmer sah aus, als wäre eine Party mit mindestens dreißig Personen ausgeufert. Die Stehlampe war umgekippt, der Vorhang zerrissen, bunte Sofakissen lagen wild verstreut und hatten wie Teppich und Fußboden einiges von dem Rotwein abbekommen. Eine regelrechte Lache bildete sich neben dem verschobenen braunen Wohnzimmertisch. Das war doch Wein? Mit zittrigen Beinen näherte sie sich und schon stieg ihr dieser markante metallene Geruch in die Nase. Blut. Das war eindeutig Blut. „Papa?“, schrie sie und stürzte los. Sie rannte in jedes Zimmer, suchte jeden Winkel im Keller ab, den Garten, den Schuppen, die Garage. Ihren Vater fand sie nirgends. Bis auf das Wohnzimmer sah alles aus wie immer. Kein Chaos, aber auch keine Anzeichen, wo sich ihr Vater befinden könnte. „Die Polizei. Ich muss die Polizei anrufen.“. Mit schnellen Schritten war sie im Flur, wo sich das Festnetztelefon befand. Sie wollte danach greifen und bemerkte schon in der Bewegung, dass der Telefonhörer nicht auf der Station stand. Hitze stieg ihr in den Kopf und sie begann zu schwitzen. Denn schon nach dem Aufstehen eben, hatte sie bemerkt, dass ihr Handy nicht in der Handtasche war und auch im Wohnzimmer konnte sie nun weder ihr Handy noch das Festnetztelefon finden. „Wo sind denn die verdammten Teile.“ Nach kurzer Suche entdeckte sie in der Küche ein schwarzes Smartphone an das Fenster gelehnt, unnatürlich drapiert, als wolle es sagen: „Schau hier bin ich.“ Ihr Vater besaß kein Smartphone. Er verweigerte sich der modernen Technik. Ein Laptop war das Einzige, zu was er sich überreden hat lassen. Zögernd trat sie ans Fenster und betrachtete das Teil argwöhnisch. Zögernd griff sie danach und schaltete es ein. Der Homebildschirm erschien und das Hintergrundbild ließ sie aufschreien. Beinahe hätte sie das Handy fallen lassen. Das Foto zeigte sie. Am Hamburger Hafen auf der Bank, auf der sie letzten Sommer ohne Erinnerung wach geworden war. Sie lachte in die Kamera und trug ein grünes Kleid mit kleinen Elefanten drauf. Dieses Kleid kannte sie nicht, hatte sie noch nie gesehen. Die aufgeregte Hitze in ihrem Körper wich einer fröstelnden Kälte. „Was geht hier vor?“, keuchte sie. In dem Moment fiel ihr wieder ein, dass sie die Polizei anrufen wollte. Sie tippte 110 und prompt kam die Meldung „Notrufe blockiert. Deaktivieren Sie den Flugmodus“. Kaum hatte sie diesen abgeschaltet, erschien eine SMS im Display: „Keine Polizei! Kein Wort zu niemandem. Sonst ist dein Vater tot.“. Ungläubig starrte sie die Nachricht an. Eine Sekunde später erhielt sie eine weitere Nachricht: „Frankfurt Hauptbahnhof 15:11 Uhr Gleis 7. Sei pünktlich.“ Bevor sie weiter über diese Information nachdenken konnte, entdeckte sie den Hinweis einer eingehenden E-Mail. Es handelte sich um eine elektronische Fahrkarte von Frankfurt nach Hamburg. Kreidebleich erblickte sie ihr Spiegelbild in der Glasvitrine neben dem Kühlschrank. Sie trug ein grünes Kleid mit kleinen Elefanten.

05:03 Uhr. Es roch muffig und feucht. Als hätte man ihn in einen alten Turnschuh gesteckt. Ähnlich eng war es zumindest. Den Geräuschen und Bewegungen zu Folge, befand er sich in einem Kofferraum. Ruhig bleiben. Wenn er mich hätte töten wollen, dann wäre ich bereits tot. Er wollte sich mit der Hand an die schmerzende Schläfe greifen. Da bemerkte er, dass er seine Hände nicht bewegen konnte. Gefesselt am Rücken spürte er bei jedem Versuch sich zu bewegen, wie sich wahrscheinlich Kabelbinder immer tiefer in sein Fleisch zogen. Schweiß, oder war es Blut, lief ihm in die Augen und übers ganze Gesicht hinab. Es musste ja so kommen. Bereits als er letztes Jahr erfahren hatte, dass seine Tochter ein Wochenende in Hamburg gewesen war, wusste er, es würde etwas passieren. Fast vierunddreißig Jahre lang war es ihm gelungen Leonie von dieser verdorbenen Stadt fernzuhalten. Unauffällig. Nie hatte sie etwas geahnt. Das war wahrscheinlich der Fehler. Er hätte ihr längst von ihrer Vergangenheit erzählen müssen. Sie weiß eigentlich gar nicht, wer er ist, wer ihre Mutter war und woher sie selbst kommt. Sie denkt, sie haben schon immer in Frankfurt gelebt. Das ist eine Lüge. Eine Lüge, die nun nach über drei Jahrzehnten ins Wanken gerät. Offensichtlich völlig aus den Fugen geraten war. Leonies Ausflug, von dem einfach nichts aus ihr rauszubekommen war, war nicht unbemerkt geblieben. Das Monster hatte sie also gefunden. Sofort hatte er ihn erkannt, als ihm die Sinne am Abend schwanden und die Wohnungstür aufflog. Wahrscheinlich ein Betäubungsmittel im Wein. Als er die Pizzen entgegennahm hatte er nicht auf den Lieferanten geachtet. So wenig, dass ihm nicht auffiel, dass die Schlüssel neben dem Tischchen an der Tür fehlten, nachdem er die Transportbox von dort wieder wegnahm. Aber als er in der Tür stand, da hatte er ihn ganz klar erkannt. Das Ziel der Fahrt war ebenso klar: Hamburg, zurück in die Heimat. Doch was hatte er vor? Was hatte er sich für ihn ausgedacht? Was hatte er mit seiner Leonie gemacht? Er versuchte diese Gedanken nicht weiter zu zulassen, konzentrierte sich auf die rauschenden Geräusche der Reifen, das dumpfe Schnurren des Motors und spürte seine tauben eingequetschten Gliedmaßen. „Ich habe schon einmal meine Familie vor dir gerettet, es wird mir wieder gelingen“, brummte er in die Dunkelheit des Kofferraums. Er hatte allerdings keine Ahnung, wie er es dieses Mal schaffen sollte.

08:23 Uhr. Geschwitzt und außer Atem stellte sie ihr Fahrrad im Hinterhof des Hauses ab. Ohne es wie sonst abzuschließen hechtete sie zur Haustür und rannte in den dritten Stock. Mit nassen und zittrigen Händen fummelte sie den Schlüssel ins Schloss. Er wollte sich einfach nicht drehen lassen. Tränen stiegen ihr in die Augen. Plötzlich wurde die Tür schwungvoll geöffnet. „Leo, gut dass du endlich kommst, ich muss zur Arbeit und …“, der Rest des Satzes ging in dem Gebrüll ihres kleinen Sohns unter, der sich schluchzend in ihre Arme warf. „Er hat wieder ganz schlimme Kopfschmerzen seit heute Morgen um fünf. Ich habe ihm schon ein Zäpfchen gegeben. Es sollte bald besser werden. So ich muss los. Ich hoffe du hattest einen schönen Abend mit deinem alten Herrn. Die SMS klang zumindest feuchtfröhlich.“ Leicht gehetzt blickte er sie mit spitzbübischem Blick an und drückte ihr einen Kuss auf den Mund. Völlig überrumpelt von diesem Empfang brachte sie nur heraus: „Die SMS?“, und verstummte prompt. Lachend schob er sich im Türrahmen an ihr vorbei. „Du hast wohl besonders tief ins Glas geschaut, immerhin hast du mir um 23 Uhr eine SMS geschickt und gemeint, du übernachtest bei deinem Vater, da der Wein zu gut geschmeckt hat.“ Sein Kichern hörte sie nur noch, denn er war bereits im Treppenhaus verschwunden. Die Haustür fiel ins Schloss. Langsam schloss sie die Wohnungstür. Bens Schluchzen an ihrer Brust wurde immer lauter und er klammerte sich an sie. Am liebsten hätte sie ihn gepackt, in sein Bett geworfen, die Tür zugemacht und geschrien: „Lass mich jetzt in Ruhe, ich habe gerade andere Probleme.“ Sie unterdrückte die Wut, wie sie es in den letzten Jahren in der Therapie gelernt hatte. Bevor die Wut die Kontrolle über sie erlangte, drückte sie ihren Sohn fest an sich und flüsterte ihm beruhigende Worte ins Ohr. „Alles ist gut. Atmen. Alles ist gut. Atmen.“ Mit diesem Mantra bezwang sie die Wut und auch Ben schien sich allmählich zu fangen. „Mama, Kopf.“, schniefte er und blickte sie mit tränenüberströmtem Gesicht an. Sanft strich sie ihm über den Kopf und wiegte ihn sanft hin und her. Es sah fast so aus, als tanzten die beiden den Weg bis ins Kinderzimmer. Immer wieder diese Kopfschmerzen und dazu massive Stimmungsschwankungen. Hoffentlich kommen die Untersuchungsergebnisse bald und es kann nach einer Therapie gesucht werden. Bis jetzt konnte sich kein Arzt erklären, woher diese wahnsinnigen Kopfschmerzen kamen. Im Kinderzimmer angekommen, setzten sie sich auf den Schaukelstuhl und ihren Sohn, der nun am Einschlafen war, fest an sich gedrückt, schaukelten sie hin und her. So ruhig wie möglich versuchte sie dabei ihre Gedanken zu sortieren, welche wie das Schaukeln nur so hin und her rannten. „Mama muss nachdenken. Opa ist entführt worden, ich habe ein Handy gefunden mit einem Bild von mir drauf, an einem Ort, den ich gerne für immer vergessen würde, obwohl ich mich ja kaum an ihn erinnere, in einem Kleid, welches ich nicht kenne und in dem ich heute Morgen ohne Erinnerungen an die letzte Nacht wach geworden bin. Ach ja und ein Fremder schickt mir über dieses fremde Handy Nachrichten und will, dass ich heute Mittag nach Hamburg fahre.“ Mit leiser Stimme flüsterte sie ihrem schlafenden Sohn die Zusammenfassung des heutigen Morgens ins Ohr. Als Kommentar dazu, erhielt sie Bens gleichmäßiges Atmen. Er schlief tief und fest. Ein kurzer Blick auf die Pluto-Uhr an der Wand, verriet ihr, dass sie noch sechseinhalb Stunden Zeit hatte, bis sie am Bahnhof in einen Zug nach Hamburg einsteigen musste. Musste sie das? Sollte sie nicht vielleicht lieber doch zur Polizei gehen oder sich jemandem anvertrauen? Vorsichtig zog sie das unbekannte Handy aus der Handtasche, welche noch immer über ihrer Schulter hing. Es lag kalt und schwer in ihrer Hand. Es kostete sie einiges an Überwindung das Display einzuschalten, von welchem ihr ihr eigenes Bild entgegenlachte. Sie las sich die Nachrichten noch einmal aufmerksam durch. Die Anweisungen waren unmissverständlich. Keine Polizei, mit niemandem reden und um 15:11 Uhr in diesem Zug sitzen. Kein Wort von dem Verbleib ihres Vaters oder was sie in Hamburg erwartete. Sie durchforstete das Handy nach irgendwelchen Hinweisen, weiteren Fotos oder Anhaltspunkten, wer dahinterstecken könnte und was dieser Jemand von ihr will. Dass er etwas von ihr wollte, war ihr klar gewesen, nachdem sie das Foto gesehen hatte. Sie betrachtete dieses noch einmal genauer. Waren ihre Haare etwas kürzer? Wo waren die Falten, die sich seit einigen Jahren beim Lachen um den Mund und neben den Augen bildeten? Sie sah auf dem Bild irgendwie anders aus. So jung. Viel zu jung. Höchstens Anfang zwanzig. Konnte es eine alte Aufnahme von ihr sein? Nein. Sie war vor dem Wellnesswochenende niemals in Hamburg gewesen. Auch dieses Kleid gehörte nicht ihr. Sie zoomte näher ran. Betrachtete ihr jüngeres Ich. Je genauer sie schaute, desto fremder wurde die Frau auf dem Foto, deren Augen so freudig in die Kamera blickten. „Die Augen! Die sind grün. Meine sind braun. Oh mein Gott.“ Sie musste schlucken. Ein großer dicker Klos schien ihr die Luft abzuschnüren. Hätte sie nicht den schlafenden Ben auf sich gehabt, dann wäre sie aufgesprungen. „Mama. Du bist das auf dem Foto.“ Trauer und die Erinnerung an ihr dunkelstes Geheimnis bahnten sich ihren Weg und sie konnte nur noch stumm dasitzen. Heiße Tränen liefen ihr über die Wangen. Wusste jemand Bescheid?

 

14:07 Uhr. „Hey ich danke euch vielmals, dass ihr so kurzfristig einspringen konntet. Hannes kommt heute erst spät aus dem Büro und Opa Fred hatte schon etwas wichtiges vor.“ Erleichtert, dass Bens Urgroßeltern sofort bereit waren auf den Zweijährigen aufzupassen, schob sie den kleinen Mann sanft über die Türschwelle. Leonie hatte ihnen eine saftige Lüge aufgetischt. Eine Freundin aus Mainzer Studienzeiten hätte ihren untreuen Mann Hals über Kopf zuhause rausgeworfen und bräuchte am Wochenende ihre Unterstützung. Da diese Freundin äußerst aufgelöst gewesen wäre, musste Leonie natürlich sofort los. Diese Story hatte sie auch Bens Vater auf die Mailbox gesprochen, denn er hatte sein Handy in Konferenzen immer ausgeschaltet. Ein Umstand, der sie sonst auf die Palme brachte, aber heute im Anbetracht der Situation die ganze Sache erleichterte. Er hätte Fragen gestellt, auf die sie in der Aufregung sicher keine Antwort gewusst und er bemerkt hätte, dass irgendetwas gar nicht stimmte. Freudig schloss Uroma Bärbel ihren Urenkel in die Arme und versicherte Leonie, dass sie sich gut um den Kleinen kümmern werden. „Wir könnten zum Spielplatz gehen, oder einen Kuchen backen, oder etwas basteln oder ein Eis essen.“ Aufgeregt und völlig aus dem Häuschen strahlte sie Ben und Leonie an, bevor sie mit ihm winkend um die Ecke im Wohnungsflur verschwand. „Was hat Fred denn so wichtiges vor?“ Von dieser Frage war sie so überrumpelt, dass Leonie die Augen weit aufriss, den Mund zunächst sprachlos offen. Mit einer Miene, die sie nicht zu deuten wusste, musterte Frank seine Enkeltochter. Ahnte er etwas? Krampfhaft versuchte sie sich etwas auszudenken. Wieso hatte sie vorher nicht dran gedacht, dass man sie fragen könnte, was Papa Wichtiges vorhatte. Plötzlich begann Frank zu grinsen: „Ah ich verstehe. Unser Fred hat mal wieder jemanden kennengelernt und wir sollen es noch nicht erfahren.“. Verschwörerisch zwinkerte er ihr zu. Erleichtert atmete sie aus und plapperte drauf los: „Ja, du kennst ihn ja, völlig berauscht, wie von Sinnen, gefangen genommen, äh eingenommen, naja du weißt schon.“ Die Worte sprudelten unkontrolliert aus ihr heraus, aber Frank schien deren Zweideutigkeit nicht zu bemerken und führte Leonies Gestammel auf ihr Unbehagen bezüglich einer neuen Liebschaft ihres Vaters zurück. „Dann kümmere du dich mal um deine Freundin, pass auf dich auf und komm mal wieder auf einen Kaffee vorbei, du siehst ja wie Oma Bärbel sich freut, wenn ihr uns besucht.“ Er lächelte, nickte und winkte ihr zu, als er die Tür schloss. Leonie verharrte noch ein paar Sekunden auf dem Treppenabsatz. Am liebsten hätte sie ihren Kopf an die eben geschlossene Tür gelehnt und geflüstert: „Helft mir“. Sie riss sich zusammen. Sie musste stark sein und alles tun, um ihren Vater zu retten. Entschlossen stapfte sie die Treppen hinunter und trat ins Freie. Die Wohnung der Großeltern lag direkt am Mainufer in der Nähe des Eisernen Stegs. Wäre die Lage nicht so prekär, hätte sie es wie immer genossen am Main entlang zu radeln. Heute fror sie trotz Sonnenscheins und wirklich herrlichen Temperaturen.

11:30 Uhr. Nachdem sie ihren Sohn vorhin endlich in sein Bett legen konnte, streifte sie das grüne Elefantenkleid noch im Kinderzimmer ab. Wie ein ekliges totes Insekt schob sie es mit der Fußspitze in die Ecke neben der Heizung. Wegwerfen wollte sie es nicht. Es hatte offensichtlich ihrer Mutter gehört und sie besaß nicht viel von ihr. Leonie und ihr Vater redeten oft über sie und ihre gemeinsame Zeit zu dritt. Über das Leben ihrer Eltern vor ihrer Geburt, wusste sie jedoch sehr wenig. Ihr Vater hatte ihr erzählt, dass er ihre Mutter bei Bekannten kennengelernt hatte, sie sich verliebt hätten, sie schnell schwanger wurde, seine Eltern gegen die Beziehung waren, aber Franziskas Eltern sofort bereit waren, alles für die kleine Familie zu tun und immer für die drei da waren. Ihre Großeltern väterlicherseits hatte Leonie nie kennengelernt und wenn sie nach ihnen fragte, wurde ihr Vater immer grantig und brach die Unterhaltungen schnell ab. Wo und ob sie noch lebten, wusste sie somit nicht. Noch immer stand sie halbnackt vor dem Bett ihres Sohnes und starrte das zusammengeknüllte Bündel Stoff an. Leer und taub fühlte sie sich. Mechanisch löste sie sich aus ihrer Starre, ging ins Schlafzimmer, zog sich eine helle Jeans und ein gelbes weites Shirt aus zarter leichter Strickwolle an. Im Badezimmer machte sie sich kurz frisch, putzte Zähne und band ihre braunen schulterlangen Locken zu einem losen Knoten im Nacken zusammen. Auf Makeup verzichtete sie. Nicht nur weil sie sich beeilen wollte, alles für ihre ungewisse Reise in die Stadt der Sünden vorzubereiten, sondern weil generell seit Bens Geburt Dinge wie Schminken nur noch sehr selten Gelegenheit fanden. Hannes war das egal, sagte er. Hannes der Strahlemann. Auch heute Morgen wieder keine Vorwürfe oder wenigstens ein beleidigter Unterton, dass sie einfach nicht nach Hause gekommen war. Nie beschwerte er sich oder fing einen Streit an. Alles schien für Hannes immer super auch wenn es für den größten Idioten klar ersichtlich war, um was für eine beschissene Situation es sich handelte, Hannes fand immer etwas Gutes daran. Hätte sie ihm berichtet, dass ihr Vater entführt und sie gezwungen war in die Falle eines unbekannten Psychopathen zu fahren, hätte er bestimmt aufmunternd das Abenteuer hinter der ganzen Sache gelobt. Jetzt wurde sie wieder unfair, indem sie ihm das in Gedanken unterstellte. Immer war sie es, die meckerte, über nicht erledigte Dinge im Haushalt, versäumte oder nicht abgesprochene Termine, Freizeitgestaltung, Anschaffungen. Eigentlich alles, was ihr gemeinsames Leben betraf. Je freundlicher er war, desto wütender wurde sie. Sie hasste diese wütende Seite an ihr. Sie wollte so nicht sein. Sie wollte nicht sie sein.

15:17 Uhr. Der Zug rollte an. Dieses bei Verspätungen sonst so heißersehnte Quietschen der sich lösenden Bremsen und das typische Ruckeln, löste heute keine Erleichterung aus. Leonie verkrampfte mit jedem Meter, den der Zug zurücklegte, immer mehr. Ein ungutes Gefühl breitete sich geschwürartig in der Magengegend aus. Machte sie einen großen Fehler? Hatte sie etwas Wichtiges übersehen? Der Zug verließ den Bahnhof und nahm Fahrt in Richtung Hamburg auf. Hamburg, eine sündige Stadt. Im vergangenen Jahr war sie mit Katja und Nicole voller Vorfreude aufgebrochen. Sie waren bereits bei der ersten Haltestation mehr als angeheitert gewesen. Einen Piccolo nach dem anderen hatten sie vergnügt gackernd geköpft. Jede der Frauen war froh gewesen, dem kräftezehrenden, aber auch eintönigen Alltag für ein Wochenende entfliehen zu können. Katja alleinerziehende Mutter von Zwillingen im Teenageralter, hatte die letzte Party vor der Geburt ihrer Töchter vor elf Jahren besucht. Kurz nach der Geburt heiratete sie im zarten Alter von 21 Jahren den Vater ihrer Kinder. Wenige Jahre später Rosenkrieg und Scheidung. Mit zwei kleinen Kindern auf sich alleine gestellt, absolvierte sie eine Ausbildung zur Hotelfachfrau und arbeitete seitdem in einem süßen kleinen Frankfurter Hotel, schmiss nebenbei den Haushalt und kümmerte sich vorbildlich um die Mädchen. Sie hatte sich diese kleine Auszeit wohl von allen am meisten verdient. Auch wenn Leonie mit kleinem Baby und durchwachten Nächten durchaus ein starkes Pensum absolvierte, brauchte Katja den Trip deutlich mehr. Aber endlich mal raus aus den schlabbrigen von Milch besudelten Klamotten und etwas anderes erleben, als vollgekackte Windeln und Babygeschrei. Hannes hatte sie überzeugt die drei Jahre Elternzeit zu nutzen, ihre Position beim Verlag aufzugeben und sich ihrem Buchprojekt zu widmen. Ben war mittlerweile acht Monate alt und es war bisher keine Sekunde daran zu denken, am Schreibtisch zu sitzen und einen Roman zu schreiben. Sie war froh, wenn sie es einmal am Tag schaffte zu duschen, alleine aufs Klo zu gehen und vielleicht ein klein wenig im Haushalt zu erledigen. Sie hatte auch lange gezögert, ob ein Wochenende auf Hamburgs Amüsiermeile bei ihrem Schlafmangel so sinnvoll war. Das Wellnessrahmenprogramm hatte sie dann schlussendlich überzeugt. Nicole hingegen war an solche ausgelassenen Wochenenden gewohnt. Sie und ihr Mann Martin, unzertrennlich seit der neunten Klasse, hatten die Babyplanung nach mehreren gescheiterten Versuchen abgebrochen und widmeten sich ihren Karrieren an der Börse. An den Wochenenden genossen sie das Frankfurter Nachtleben oder leisteten sich kulturelle Städtetrips in die Metropolen Europas. In Hamburg angekommen gönnten sich die drei Damen am Nachmittag Massagen, Gesichtsmasken und ausgelassene Plaudereien über die gemeinsame Schulzeit sowie die gemeinsamen Erlebnisse. Am Abend ließen sie sich bei einem Fünfgängemenü verwöhnen und nach einem gemeinsamen Ausklang an der Bar, fielen alle in ihre Betten und genossen es zum ersten Mal seit Jahren für sich zu sein. Den Samstag verbrachten sie in der Innenstadt und ließen die Kreditkarten glühen. Aufgebrezelt und gestylt stürzten sie sich anschließend ins Hamburger Nachtleben. Der Kiez bei Tag wirkte grau, trist und schmuddelig. Jetzt bei Nacht erschien er noch immer schmuddelig, aber hell erleuchtet, überall bunte blinkende Lichter und imposante Gestalten, vom schillernden mit federgeschmückten Travestiekünstler bis zum goldkettenbehangenen Zuhälter. Gefühlt an jeder Ecke sah man Junggesellen-Abschiedsparty-Gruppen. Die zukünftigen Bräute mit Schleier und Krönchen, die Bräutigame in peinlichen Kostümen und die Mitfeiernden in dämlichen Gruppenshirts mit Aufschriften wie „Er heiratet, ich bin nur zum Saufen hier“, „Ich bin der Depp“ oder „Dead man walking. Das Ende ist nah“. „Wieder so zwei Bekloppte.“, schnaubte Nicole, als sie an der nächsten JGA-Truppe vorbeikamen und Kurs auf den „Pussy Olymp“ nahmen. Leonie und Katja tauschten irritierte Blicke aus. Wie hatte sie das denn gemeint? Fand sie die immer mehr ausufernden JGA-Sauf-Touren bekloppt oder die Idee, dass zwei Menschen den Bund fürs Leben schließen wollten? Bevor sie Nicole danach fragen konnten, war diese in ihren unglaublich hohen Manolos die zwei Stufen am Eingang des Edelclubs emporgeschwebt und verschwand bereits hinter einem schweren samtenen Vorhang. „Warte.“, presste Leonie durch die rotgeschminkten Lippen, welche sie zu einem schmalen Strich verzog, denn ihre Füße hatten ewig nicht in Highheels gesteckt und taten bereits jetzt höllisch weh. Auch Katjas Gesichtsausdruck spiegelte ein gewisses Unbehagen wieder, welches sie durch nervöses Zupfen an ihrem etwas zu kurzen Paillettenkleid noch unterstrich. Sie atmeten beide tief durch und traten schließlich ein. Staunend blieben sie mit offenen Mündern stehen. „Na? Habe ich euch zu viel versprochen?“ Verschmitzt grinsend schob Nicole ihre Freundinnen über einen weißglänzenden Marmorboden, vorbei an kleinen Nischen mit filigran gearbeiteten Säulen, die wie antike griechische Tempel aussahen, und überall nackte Skulpturen mit perfekten Körpern. In sinnlicher Pose reckte Aphrodite ihre wohlgeformten großen Brüste den Besuchern entgegen und Zeus seinen muskelbepackten Oberarm, in der Hand einen überdimensionalen Dildo. „In unserem Geschichtsbuch war dieser Herr aber mit Blitz in der Faust abgebildet, wenn ich mich recht erinnere.“, merkte Katja kichernd an. „Der ‚Zeus-Blitz-2000‘, ein wahrer Verkaufsschlager. Dreht die Cocktail-Karte nachher mal um. Da findet ihr einen ganzen Katalog verschiedenster göttlicher Hilfsmittel: Armors Pfeilchen, Poseidons Dreifuck oder Thors Rammer.“, erklärte Nicole mit breitem Grinsen. „Thor gehört doch gar nicht zur griechischen Mythologie und Armor ist römisch, Eros wäre…“. „Leo? Dein Ernst jetzt?“ Spöttisch rollte Nicole mit den Augen. „Ich glaube nicht, dass es auf dem Kiez auf historische Genauigkeit ankommt.“ Sie nahmen in einer der Tempelnischen Platz. Zwei große weichgepolsterte Ottomanen standen um einen kleinen Tisch, der wie eine abgebrochene Säule aussah. Schummriges Licht tauchte alles in eine geheimnisvolle Atmosphäre mit deutlich anrüchigem Touch. Die ausnahmslos männlichen Kellner waren alle so gut wie nackt und extrem gut gebaut. Der schrille Ton einer eingehenden SMS riss sie aus den Erinnerungen an das Mädels-Wochenende. „Wir sind angekommen. Mach keine Dummheiten kleine Rosi.“ Ihre Eingeweide zogen sich zusammen und sie sog hörbar die Luft ein. Unter der Nachricht befand sich ein unscharfes Bild. Ihr Vater lag in unnatürlicher Haltung zusammengekauert auf einem dunklen Untergrund. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, ebenso wenig, ob er überhaupt noch lebte. Sie begann am ganzen Körper zu zittern. Am liebsten hätte sie sich an Ort und Stelle übergeben. Dem Ohnmachtsgefühl folgte Wut. Sie wurde auf einmal so wütend. Sie packte das Handy mit beiden Händen. Am liebsten hätte sie es zerquetscht oder auf dem Tisch zertrümmert. Während sie sich das vorstellte, kam ihr plötzlich beim Betrachten des Geräts ein Gedanke, der ihr schon viel früher hätte kommen können. Wenn dieser Psycho mit ihr kommunizieren konnte, dann konnte sie doch ebenso Kontakt zu ihm aufnehmen. Sie blickte sich im gut besetzten Abteil um. Ein Anruf bei der Nummer hinter den Nachrichten könnte seltsam aussehen: „Ja hallo? Spreche ich mit dem verrückten Arschloch, dass meinen Vater entführt, mich erpresst und uns später beide töten wird?“ Eventuell keine gute Idee. Aber vielleicht könnte sie mit einer SMS mehr über das herauszufinden, was sie erwartete. Sie hätte so viele Fragen. Wer war dieser Typ? Woher wusste sie, dass es sich um einen Mann handelte? Warum vermittelte er den Eindruck, dass er sie kannte? Was hatte das alles mit dem Mädels-Wochenende zu tun? Was hatte er mit ihnen vor? Die Landschaft zog am Fenster so rasend vorbei, wie ihre Gedanken bezüglich einer passenden Frage, die so viel wie möglich Antworten lieferte. Zögerlich fing sie an zu tippen: „Was wollen Sie von uns?“ Mit pochendem Herzen drückte sie auf Senden. Wie gebannt schaute sie auf das schon längst wieder schwarze Display und wartete auf eine Antwort. Die Zeit schien noch langsamer zu vergehen, dabei schlich sie schon den ganzen Tag. Endlich wurde der Bildschirm wieder hell. Die Erleichterung darüber, sollte aber nur wenige Sekunden anhalten: „Keine weiteren Nachrichten. Du weißt, was zu tun ist.“ Verdammt. Sie war kein bisschen schlauer. Zum wiederholten Male ging sie alle Nachrichten nochmals durch, obwohl sie diese bereits auswendig konnte. Trotzdem sprang ihr plötzlich ein Detail ins Auge: Rosi. Er nannte sie Rosi. Das war nicht das erste Mal, dass man sie so nannte. Ihre Gedanken kamen zurück zu dem Abend im „Pussy Olymp“.  Sie waren gerade bei ihrem dritten „Ambrosiasmus“, als eine große schlanke Frau in einer wunderschönen griechischen lila Robe an den Tisch trat: „Guten Abend die Damen, ich bin die Geschäftsführerin und wollte mich erkundigen, ob alles zu ihrer Zufriedenheit ist.“ Leicht lallend erhoben wir unsere Daumen und antworteten im Chor: „Alles perfekt.“ Zufrieden nickend wandte sie sich zum Gehen ab, da schaute sie Leonie stutzend an: „Rosi?“ „Bitte, wer?“ Verwirrt blickte Leonie aus zusammengekniffenen Augen zurück, den Kopf vom Alkohol gehörig benebelt. „Ach nichts, entschuldigen Sie bitte, Sie erinnerten mich an eine Frau aus einem anderen Leben.“ Mit diesen Worten verschwand sie und die drei Freundinnen hatten sie sofort vergessen. Sie hatte nie wieder an diese Szene gedacht, bis die SMS jene Episode wieder in ihr Gedächtnis geholt hatte. Den Rest des Abends hatte sie nur noch bruchstückhaft vor sich. Nicole hatte immer heftiger angefangen mit dem halbnackten Kellner zu flirten, Katja hatte beim Aufbruch bemerkt, dass ihr Handy und Portemonnaie aus ihrer Handtasche verschwunden waren, und sie selbst nahm alles nur noch in Zeitlupe wahr. Sie erinnerte sich plötzlich im Taxi gesessen zu haben zusammen mit Nicole, die wild mit dem Kellner knutschte, und mit Katja, deren Gesicht immer missmutiger wurde. Entweder weil sie missbilligte, dass Nicole Martin betrog oder weil sie bestohlen worden war. Ihre Freundinnen hatten ihr später erzählt, dass Katja bei der Polizeiwache ausgestiegen war, dass Nicole und der Kellner, dessen Namen bis heute unbekannt blieb, sie zu ihrem Hotelzimmer brachten und dann sofort nebenan in einem der für den Trip gebuchten Zimmer verschwanden. Am nächsten Morgen war Leonie alleine auf einer Parkbank am Hafen aufgewacht. Sie trug noch immer ihre Abendgarderobe, einen schwarzen hauchdünnen Jumpsuit mit Spaghettiträgern und goldenen Pumps. Ihre Handtasche, wie sich später noch herausstellen sollte, war in ihrem Hotelzimmer, wo sie also gewesen sein muss, bevor sie am Hafen gelandet war. Völlig verwirrt traf sie auf ihre Freundinnen in der Hotellobby, als diese gerade zum Frühstück gingen und dachten Leonie schlafe noch ihren Rausch aus. Katja war nämlich nach ihrem Besuch bei der Wache sofort auf ihrem eigenen Zimmer verschwunden, um wenigstens noch ein bisschen Schlaf zu bekommen. Und Nicole, nun gut, die war auch beschäftigt, sodass niemand bemerkt hatte, dass Leonie das Hotel noch einmal verlassen hatte. Da allen die Ereignisse der letzten Nacht unangenehm war, traten sie schließlich relativ schweigend den Heimweg an, nach dem Motto „Was in Hamburg passiert, bleibt auch in Hamburg“. Als Nicole drei Monate später ihre Schwangerschaft verkündete, ahnten Katja und Leonie, dass Martin wohl nicht der Vater war. Ob dieser je von Nicoles Seitensprung erfuhr, wussten sie nicht. Aber die kleine Familie wirkte überglücklich. Über Hamburg wurde nie wieder gesprochen, spielte nie wieder eine Rolle. Bis heute. „Du weißt, was zu tun ist.“ Immer wieder blieb sie an diesem Satz hängen. Woher sollte sie wissen, was sie in Hamburg tun muss, wenn das Einzige, an das sie sich erinnerte, auf einer Bank am Hafen wachgeworden zu sein? Die Bank am Hafen. Dieselbe Bank wie auf dem Foto von ihrer Mutter. Das könnte ein Puzzleteil in diesem absurden Alptraum sein. Sie rief auf dem fremden Smartphone eine Standardkartenapp auf und suchte nach dem Standort der Bank in der Nähe der Landungsbrücke. Wenn sie ein wenig rauszoomte, wurden ihr sämtliche Lokalitäten von St. Pauli angezeigt. Der „Pussy Olymp“ befand sich nur wenige Straßen von der Bank entfernt. „Rosi“. Vielleicht war es kein Zufall, dass sie heute wieder so genannt wurde. Ein weiterer Besuch im Olymp könnte eventuell Licht ins Dunkle bringen. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet, dass sie in etwa einer Stunde in Hamburg ankommen würde. Die Lokalitäten hatten da noch lang nicht geöffnet, weshalb sie beschloss, zuerst die Bank aufzusuchen. Auch wenn sie keine Ahnung hatte, was sie erwartete, so sagte ihr Gefühl, dass sie auf dem richtigen Weg war. Aber wollte sie an dessen Ende ankommen? Seufzend lehnte sie sich zurück und verbarg ihr Gesicht in den Händen.

17:56 Uhr. „Du wusstest ich würde euch finden.“ Voller Abscheu blickte er auf die kauernde Gestalt am Boden. „Alt bist du geworden. Hätte dich ja fast nicht wiedererkannt. Du hättest dein Gesicht sehen sollen. Ich hatte ja Angst, dir fallen die Augen raus, als du mich gesehen hast. Naja vielleicht wirst du dir später wünschen, sie wären rausgefallen, damit du nicht mitansehen musst, was ich Feines vorbereitet habe.“ Er war sich sicher, dass der Dreckskerl wach war, aber er schien sich noch an die Regeln zu erinnern. Die Dienstboten hatten zu schweigen und den Blick zu senken. Niemals unaufgefordert sprechen. Auf Anweisungen warten. Keine Fragen stellen. Niemals. „Dachtest du wirklich, du kommst damit durch? Mich bestehlen und einfach abhauen. Das ist noch Niemandem besonders gut bekommen. Solltest du eigentlich selbst am besten wissen. Warst ja immerhin lang genug im Geschäft dabei. Hast einiges gesehen und gehört. Aber du hast meine Warnung einfach ignoriert. Du hattest doch deine Eltern mit durchgeschnittenen Kehlen gefunden. Oder etwa nicht?“ Er wartete kurz auf eine Reaktion und war beinahe enttäuscht, als diese ausblieb. Nur zu gerne hätte er ihm gezeigt, was es bedeutet, gegen die Spielregeln zu verstoßen. Schon immer hatte er sich gefreut, wenn die Angestellten Mist gebaut hatten und bestraft werden mussten. Als kleiner Junge durfte er seinem Vater dabei zusehen. Später hatte er diesen Job nur allzu bereitwillig übernommen. Heutzutage hatte er dafür seine Lakaien und machte sich nur noch selten selbst die Hände schmutzig. In diesem Fall jedoch würde er persönlich für die Höchststrafe sorgen und sie vollstrecken. Er schwang die Machete in seiner Hand und trat noch näher auf ihn zu. „Schau mal. Das ist die gleiche Machete, die deine Eltern umgebracht hat. Nostalgisch nicht? Du erinnerst dich, was wir mit Dieben gemacht haben? Genau ganz klassisch. Wir hacken ihnen die rechte Hand ab. Aber sei gewiss, so glimpflich kommst du nicht davon.“ Sein irres Kichern hallte von den nackten dreckigen Wänden. „In ein paar Stunden wird die kleine Rosi da sein und dann geht der Spaß erst richtig los.“ „Nenn sie nicht so!“ Trotzig hob er sein Kinn soweit es die Fesseln an Armen und Beinen zuließen. „Tststs. Wie eh und je, man muss nur die richtigen Knöpfe drücken. Stimmts. Du kennst doch die Regeln und Reden ohne Erlaubnis, muss bestraft werden.“ Mit diabolischem Lächeln ließ er die Machete an der gefesselten rechten Hand niedersausen. Dem Zischen der durchschnittenen Luft folgte ein dumpfes Knacken und ein metallenes Schaben, als die Machete den Boden berührte.

20:09 Uhr. Sie stand vor der Bank und blickte sich unsicher um. Wurde sie beobachtet? Würde man sie gleich überfallen und verschleppen? Unschlüssig trat sie von einem Fuß auf den anderen und zog trotz sommerlicher Temperaturen fröstelnd ihre Jeansjacke enger um ihren Körper. Einige Minuten waren vergangen. Nichts schien zu geschehen. Vorsichtig trat sie näher auf die Bank zu und setzte sich, so dass sie weiterhin die Umgebung nach allen Seiten hin beobachten konnte. Nervös checkte sie mehrmals in der Minute das Smartphone, weil sie hoffte vielleicht doch weitere Instruktionen zu erhalten. Gerade als sie es nicht mehr aushalten konnte still zu sitzen, näherte sich ein Obdachloser der Bank. Da er sie mit festem Blick hinter einem struppigen grauen Bart fixierte, nahm sie eine abwehrende Haltung ein. „Locker bleiben min Deern, hier den Umschlag soll ich dir geben.“ Leicht zitternd übergab er mit unerwartet sauberen Fingern einen grünen Umschlag. Zögerlich und ihn weiter taxierend nahm sie diesen entgegen. Mit fahrigen feuchten Händen öffnete sie den Umschlag und zog einen kleinen Zettel hervor: „Gib dem Penner das Handy und komm endlich vorbei. Hintereingang.“ Neugierig wurde sie beäugt. Er schien zu wissen, dass sein Auftrag noch nicht ganz vollendet war. „Hier, das Teil soll ich ihnen geben steht hier.“ Auch wenn ihr das Ding von Anfang an unheimlich war, so ganz ohne Handy nun dazustehen, empfand sie noch unangenehmer. Langsam zog sie ihre Hand zurück, da packte er sie plötzlich am Handgelenk und mit festem Griff zog er sie von der Bank: „Lauf weg min Deern, so lange du noch kannst.“ So schnell wie er sie gepackt hatte, so schnell ließ er sie auch wieder los und zog sich blitzartig zu seinem Platz an einem Baum in Wassernähe zurück. Erschrocken rieb sie sich das Handgelenk und schaute dem Mann nach, der sich unter dem Baum zu seinem Hund niederließ, welcher ihn freudig schwanzwedelnd empfing. Sollte sie seine Warnung in die Tat umsetzen und einfach davonlaufen? In den nächsten Zug nach Frankfurt springen und Hamburg hinter sich lassen? Ihren Vater im Stich und sterben lassen? Nein sie musste dieses Mal das Richtige tun. Zu welchem Hintereingang sollte sie gehen? Da sie nur zwei Adressen in Hamburg in ihrem Leben bisher besucht hatte, das Hotel und den „Pussy Olymp“, beschloss sie Letzteres aufzusuchen, da ihr ja bereits im Zug der Zusammenhang mit dem Namen „Rosi“ aufgefallen war.

21:00 Uhr. Ein kleiner dunkler Durchgang neben der pompösen Fassade des „Pussy Olymp“ war weit und breit die einzige ersichtliche Möglichkeit, um zur Hinterseite des Gebäudes zu gelangen. Es kostete sie viel Überwindung diesen zu betreten. Sehnsüchtig blickte sie zur Straße zurück. Ein verliebtes Paar in den Zwanzigern flanierte Händchen haltend auf der gegenüberliegenden Straßenseite entlang. Sie hatte das Gefühl, dass die Frau zu ihr rüber schaute. Flehend erwiderte sie ihren Blick. Erkannte sie eventuell, in welcher Not sich Leonie befand. Die junge Frau wandte sich ihrem Freund zu und sie küssten sich leidenschaftlich. Mist. Die Frau hatte die intensive Blicke wohl falsch gedeutet. Panisch schaute sie sich nach weiteren Menschen um, die ihre Notlage vielleicht erkennen könnten. Eine alte Frau schleppte schleichend ihre Einkäufe nach Hause. Ein Mann in kurzen Hosen radelte mit einem Headset telefonierend gemütlich an ihr vorbei. Niemand nahm Notiz von ihr. Jetzt oder nie. Mit festen Schritten ging sie auf die Gasse zu. Unauffällig ließ sie ihre Geldbörse zu Boden gleiten und lief weiter. Mit jedem Meter sank ihr Mut ein Stück weiter. Doch sie durfte nicht stehen bleiben. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte sie einen Hinterhof und sah eine rote Metalltür, deren Farbe durch Rostblumen an vielen Stellen abblätterte. Wie der Obdachlose zuvor schien sie ihr zuzurufen: „Lauf“. Behutsam ergriff Leonie die Türklinke. Das Blut rauschte ihr dabei in den Ohren. Adrenalin in jeder Faser ihres Körpers als sie sich quietschend öffnen ließ. Ein schwarzes Loch klaffte dahinter, welches sie förmlich zu verschlucken drohte. Ihre Augen mussten sich zunächst an die Dunkelheit gewöhnen, bis sie eine kleine marode Treppe ausmachen konnte, welche hinab unter die Erde führte. „Klar geht es nach unten in den Keller. Wie in jedem Horrorfilm geht das Mädchen alleine in den düsteren Keller. Nie in den hell erleuchteten ersten Stock.“ Leise murmelte sie diese Worte mit einem gewissen Galgenhumor, ein kläglicher Versuch, um sich selbst Mut zu machen. Vorsichtig schob sie ihre Turnschuhe Zentimeter für Zentimeter über einen unebenen Betonboden. Es roch modrig und an der ersten Stufe angekommen stütze sie sich an der Wand ab, welche sich kalt und feucht anfühlte. Mit angehaltenem Atem und wackeligen Knien ging sie sieben Stufen hinab. Mit beiden Händen tastete sie nun die Wände rechts und links nach einem Lichtschalter ab. Sie fand allerdings nichts außer klebrigen Spinnenweben und bröckeligem Putz. Angestrengt versuchte sie irgendetwas zu erkennen und verkrampfte in Erwartung, dass gleich jemand auf sie zusprang und packte. Da. Ein schwacher Lichtschein am Boden. Die Haare im Nacken begannen zu kribbeln. Da war eine Tür, durch deren winzigen Spalt am Boden ein wenig Licht fiel. Die Klinke war schnell gefunden, aber ließ sich nur schwer drücken. Sie lehnte sich leicht mit der Schulter an der Tür an und stemmt die Klinke herunter. Ein ohrenbetäubendes Knarzen durchbrach die unheimliche Stille, als die Tür nachgab und nach innen aufflog. Sofort entdeckte sie ihren Vater am Boden in der Ecke des kleinen Raums. „Leo, du musst sofort verschwinden.“ Keuchte dieser mit weit aufgerissenen Augen. Es brauchte nur drei Schritte und sie war bei ihm. Erleichtert kniete sie sich neben ihn und fuhr aber erschrocken zurück als sie ihn umarmen wollte. Seine Arme waren an in den Boden eingelassenen Metallfesseln fixiert, an seiner rechten Hand klaffte eine riesige Wunde und überall war Blut. Entsetzt wandte sie sich ab. „Kleines. Es fehlen nur zwei Finger. Bitte du musst jetzt gehen.“ „Nein, ich lasse dich hier nicht zurück.“ Hektisch begann sie den Raum nach einem Schlüssel absuchen, oder irgendetwas um die Fesseln aufzuhebeln. Dabei ignorierte sie das eindringliche Flehen ihres Vaters. „Suchst du diesen hier Rosi Schätzchen?“ Erschrocken fuhr sie herum und erblickte die Geschäftsführerin des „Pussy Olymp“, die rechte Hand erhoben, an der ein Schlüsselbund klimperte. Wie beim letzten Aufeinandertreffen trug sie eine fließende Tunika-Robe und war eine wirklich imposante Gestalt dort im Türrahmen. Leonie war schon im Begriff sich auf sie zu stürzen, um ihr die Schlüssel abzuringen, da zuckte sie im letzten Moment zurück, als sie in deren anderen Hand eine schwarze Pistole entdeckte. „Hier Rosi, die hast du wohl auf der Straße verloren“.  Mit einer schnellen Bewegung warf die Frau ihr die Geldbörse vor die Füße, von der Leonie gehofft hatte, so würde man sie vielleicht irgendwann finden. Trotzig reckte sie ihr Kinn: „Wer sind sie? Was wollen sie von uns? Und wer zur Hölle ist diese Rosi?“ „Das ist Indra, eine Freundin deiner Mutter.“ Presste ihr Vater feindselig knurrend hervor. „Als Freundin kann man Rosi wohl nicht bezeichnen. Sie hat mich vor über dreißig Jahren immerhin hier zurückgelassen. Bei IHM.“. Die letzten Worte spie sie geradezu aus. Verwirrt blickte Leonie zwischen ihrem Vater und dieser Indra hin und her. „Mama hieß nicht Rosi, sie hieß Franziska.“ Indra brach in schallendes Gelächter aus: „Oh je ich sehe ihr habt noch einiges zu besprechen. Habe ich recht Tommy?“ Tommy? Fragend suchte sie im Gesicht ihres Vaters nach Antworten. Dieser fixierte jedoch weiterhin Indra mit der Pistole. „Dann lasse ich euch zwei alleine und sage IHM Bescheid, dass die Gäste nun vollständig sind.“ Während sie dies sagte, zog sie die Tür zu. Laut krachend fiel sie ins Schloss und ein klirrendes Geräusch verriet, dass die Tür dieses Mal abgeschlossen sein würde, wenn man versucht sie zu öffnen. „Papa was ist hier los?“ Auch wenn sie endlich Antworten auf ihre Fragen haben wollte, so hatte sie jetzt doch Angst vor dem, was sie gleich hören würde. „Die Kurzfassung?“ Niedergeschlagen und mit monotoner teilweise stockender Stimme fing er an zu erzählen.: „Hamburg war das Zuhause von mir und deiner Mutter. Als wir uns kennenlernten, war ich 22 und sie 17. Thomas Beck und Rosi Schaub. Das waren unsere Namen bevor alles fürchterlich schieflief. Rosi und ich arbeiteten beide für die einflussreichste Familie auf dem Kiez. Ich war so etwas wie ein Dienstbotenjunge, der nicht nachfragte, sondern alle ihm aufgetragenen Aufgaben erledigte. Deine Mutter war Tänzerin im edelsten Club der Stadt und Xavers Freundin, der Sohn des Big Boss und damals mein bester Kumpel seit der dritten Klasse. Drei Jahre lang lebten wir in Saus und Braus. Feierten die wildesten Partys und waren gern gesehene Gäste bei Hamburgs Upperclass. Dann habe ich mich in deine Mutter verliebt und sie sich in mich. Xaver hat die Situation daraufhin geregelt, wie seine Familie immer alles regelte: mit Gewalt und Bestrafungen. Meine Eltern hat er eigenhändig umgebracht, um mir deutlich zu zeigen wo mein Platz im Unternehmen ist. Ins schäbigste Hurenhaus sollte Rosi geschickt und so ihr Wille gebrochen werden. Gemeinsam mit ihren Eltern gingen wir zur Polizei, packten aus, was wir über den Familienclan wussten und erhielten dafür die Teilnahme an einem Zeugenschutzprogramm mit neuen Identitäten, in einer neuen Stadt, in einem neuen Leben. Xaver wurde zwar verhaftet und verurteilt, kam jedoch nach wenigen Jahren wieder frei. Offiziell aufgrund eines medizinischen Gutachtens, dass er bedingt durch Geschwüre im Gehirn psychisch nicht zurechnungsfähig gewesen sei. Die Geschwüre hätten diese unkontrollierten Wutausbrüche und Gewaltexzesse hervorgerufen. Aber im Hintergrund sind sicherlich zusätzlich Gelder geflossen. Über dreißig Jahre hat er uns nicht ausfindig machen können. Bis du mit deinen Mädels in einem seiner Clubs aufgetaucht bist.“ Er schien noch mehr sagen zu wollen und sie hätte so viele Fragen gehabt, als die Tür wieder mit Schwung geöffnet wurde. „Moin Moin allerseits. Hallo Leo, schön dich auch einmal nüchtern und wach zu sehen. Schon bei unserem ersten Treffen letztes Jahr, als Indra anrief, weil sie einen Geist glaubte gesehen zu haben, warst du ziemlich weggetreten, als ich dich im Hotelzimmer abholte. Schade, du trägst gar nicht mehr dieses hübsche grüne Kleid. Ah ah, Tommy halte dich zurück. Du möchtest doch deine restlichen acht Finger noch behalten.“ Mit der Machete drohenden ging er auf Leonies Vater zu, welcher sich wutschnaubend in seinen Fesseln wandte. „Wobei,“ kichernd schlenderte er wieder ein paar Schritte zurück, „wo ich dich heute Nacht hinschicke, brauchst du keinen einzigen Finger mehr. Tommy du hast mir meine Rosi gestohlen. Sie gehörte mir. War mein Eigentum. Doch damit nicht genug, nachdem diese schlechte Kopie von Rosi,“ er wedelte abschätzig mit der Hand Richtung Leonie, „letztes Jahr plötzlich hier aufgetaucht ist, dachte ich, ich könnte meine Rosi nun endlich wieder nach Hause holen. Und was musste ich erfahren: Sie ist tot. Du Tommy bist schuld an ihrem Tod. Hättest du sie mir nicht weggenommen, dann würde sie noch leben.“ Am Ende überschlug sich seine Stimme beinahe, so hatte er sich in Rage geredet. „Dafür Tommy wirst du heute und hier sterben.“ „Halt Stop.“, Leonie war plötzlich in Panik aus ihrer Ecke aufgesprungen. „Er kann nichts für Mamas Tod. Ich alleine trage die Verantwortung für ihren Tod.“ So jetzt war es endlich raus. Nach all den Jahren des Schweigens. Dieser Einwurf hatte diesen Irren scheinbar aus seinem Konzept gebracht. Er fuhr sich durch die Haare. Blickte zunächst unschlüssig im Raum hin und her. Da klingelte sein Handy. Alle zuckten kurz zusammen. „Was?“ bellte er in das Gerät. „Verdammt ich bin beschäftigt. Ja ich komme.“ Ohne ein weiteres Wort marschierte er zu Tür hinaus, warf diese zu und schloss ab. „Schlechter Zeitpunkt vor diesem Killer über deine Schuldgefühle bezüglich des Todes deiner Mutter zu sprechen, oder was meinst du?“, zischte ihr Vater verärgert. „Schuldgefühle? Papa ich bin schuld an Mamas Tod. Sie ist wegen mir gestorben. Ich wollte, dass sie stirbt.“, fügte sie noch ganz leise hintenan. „Unsinn. Es war ein Unfall. Du warst auf die Straße gelaufen und da kam dieses Auto angerast. Sie hatte es noch geschafft dich zurückzuziehen und wurde dabei von dem Wagen erfasst.“ Traurig schüttelte Leonie den Kopf. „Sie hatte mir verboten auf der Straße zu spielen. Da wurde ich so sauer, dass ich bewusst auf die Straße gelaufen bin. Als sie mich schimpfte wurde ich noch wütender. Ich habe mir sogar gewünscht, sie würde einfach verschwinden und nie mehr wiederkommen. Im nächsten Moment war sie tot.“ Sie zitterte plötzlich am ganzen Leib und konnte ein Schluchzen nicht mehr unterdrücken. „Herrgott Leo, du warst sieben Jahre alt und wenn man jeden des Mordes beschuldigen wollte, der sich im Zorn wünscht, der Gegenüber möge tot umfallen, dann müsste wahrscheinlich jeder in den Knast.“ „Du hast mir also niemals insgeheim die Schuld an ihrem Tod gegeben?“ Noch nie hatte sie über diese Gedanken gesprochen. Sie hatte sich so geschämt, dass sie nicht einmal ihrer Therapeutin von diesem Detail erzählte. „Nein nie. Lass uns darüber reden, wenn wir hier raus sind“, schlug ihr Vater vor. „Noch habe ich keine Ahnung, wie wir das anstellen wollen. Leider habe ich das Gefühl, du hast ihn eben noch wütender und unberechenbarerer gemacht.“ Wie zum Beweis seiner Worte stürmte Xaver mit völlig irrem Blick wieder herein. „Alle beide. Ich werde euch alle beide vernichten.“ Er packte Leonie, die vor Schreck aufschrie. „Lass sie los.“ Die Angst war ihrem Vater ins Gesicht geschrieben. „Bitte.“ Xaver packte sie darauf noch fester, legte ihr einen Arm um den Hals und drückte zu. „Du wirst zuschauen, wie deine Tochter stirbt, bevor ich dir das Licht ausblase.“ Leonie verlor den Boden unter den Füßen und trat ins Leere. Sie bekam keine Luft mehr. „Hör auf! Xaver!“ Seine Stimme überschlug sich. „Sie ist DEINE Tochter!“ Stille. Als hätte er sich verbrannt ließ er Leonie los, welche nach Luft japsend niederging und verzweifelt versuchte von Xaver wegzurücken. Wie ein eingesperrter Tiger begann dieser auf und ab zu gehen. „Du lügst. Versuchst Zeit zu schinden. Eure Ärsche zu retten.“ Die Fassade bröckelte, der Stachel des Zweifelns saß und versprühte sein Gift. „Das ändert nichts. Rein gar nichts. Du kommst hier nicht lebend raus Tommy. Aber vorher musst du leiden. So einfach mache ich es dir nicht. Ich rufe die Jungs und dann wirst du sehen, wie wir deine Kleine in der Familie willkommen heißen.“ Er zückte sein Smartphone, trat vor die Tür und bellte unmissverständliche Befehle. „In zehn Sekunden seid ihr hier unten. Kommt durch die Tür hinter der Bühne.“ Seine Stimme war mal lauter mal leiser zu hören. Wahrscheinlich lief er vor der Tür auf und ab. Leonie kroch ängstlich zu ihrem Vater. Mit seiner unverletzten Hand umfasste er die ihre fest. „Leo es tut mir so leid, ich weiß nicht wie…“ „Ist das wahr?“, flüsterte sie kaum hörbar, während sie auf Geräusche vor der Tür warteten. „Hast du das eben ernst gemeint? Ist er wirklich mein Vater? Bin ich die Tochter eines geisteskranken Monsters?“ Er sah ihr fest in die Augen und legte alle Sanftmut, den er aufbringen konnte in seine Stimme: „Es tut mir leid Kleines, aber es ist leider die Wahrheit, ich…“, er verstummte, als plötzliches Gegröle und laute Schritte zu vernehmen waren. Die angekündigte Horde. „So viel zum Thema schlechter Zeitpunkt.“, sagte sie mit Trotz in ihrer vor Angst zitternden Stimme und krallte sich an den Beinen ihres Vaters fest. Da flog die die Tür auf. Vollvermummte SEK-Polizisten standen plötzlich vor den beiden mit auf sie gerichteten Maschinengewehren. „Leonie und Frederik Faller?“

 

22:27 Uhr. Die Beamten eskortierten die beiden zu einem Krankenwagen, der im Hinterhof vor der roten Tür stand und Leonies Vater sofort einlud. Neben diversen Einsatzfahrzeugen entdeckte Leonie plötzlich ihre Großeltern, die dort mit sorgenvollen Gesichtern warteten. Bärbel sah sie als Erste und rannte mit ausgestreckten Armen auf Leonie zu. Erst als sie sich in ihre Umarmung fallen ließ, sah sie die Tränen, die ihrer Oma übers Gesicht liefen. „Alles wird gut.“, flüsterte diese ihrer Enkelin ins Ohr. Währenddessen war auch Opa Frank zu ihnen getreten und musterte Leonie mit großer Erleichterung. „Hast du mir die Geschichte mit meiner Freundin, die ihren Mann rausgeschmissen hat, doch nicht geglaubt?“ Zerknirscht gab er zu, dass er nichts geahnt habe. „Dein kleiner Ben hat uns die Augen geöffnet. Beim Spielen haben wir ihn aus Spaß gefragt: ‚Wohin fährt die Mama heute?‘ Darauf antwortete er mit einem Wort: ‚Hamburg.‘ Sofort haben wir versucht Fred zu erreichen, haben dann die verwüstete Wohnung vorgefunden und als wir in eurer Wohnung Franzis Kleid im Kinderzimmer entdeckten, wussten wir, dass er euch gefunden haben musste.“ Mit einem Kopfnicken voller Abscheu wies er in Richtung Xaver, der eben in Handschellen in einem der Streifenwagen verschwand. „Wir haben sofort unseren Kontakt im Zeugenschutzprogramm angerufen und sind nach Hamburg aufgebrochen. Nach einigen Telefonaten am späten Abend wurden wir schließlich informiert, dass man Xaver hier in seiner Tanzbar vermutete.“ Bärbel nahm Leonies Gesicht in ihre Hände und sah ihr in die Augen: „Du hast bestimmt viele Fragen Liebes.“ „Oma, Opa, wie heißt ihr eigentlich?“

 

Ein paar Tage später. Hannes und Leonie saßen mit dem kleinen Ben, noch puterrot vom letzten Wutanfall, beim Frühstück. „Ach so Leo, deine Freundin Sarah, aus Mainz, also die hat ihren Mann am Wochenende tatsächlich rausgeworfen.“, verlegen kratze sich Hannes am Kopf. „Du hattest mir ja auf die Mailbox gesprochen, dass du ihr bei der Trennung helfen wolltest. Da du dein Handy ja nicht dabeihattest, habe ich eventuell bei Sarah angerufen, eventuell sind dabei Begriffe wie Trennung und Untreue gefallen und ganz eventuell hat sie daraufhin wohl den Paul zur Rede gestellt, der dann alles gestanden hat.“ Leonie und Hannes schauten einander an und prusteten los. Sie konnten sich vor Lachen kaum auf ihren Stühlen halten, sodass sie beinahe das Klingeln des Telefons überhört hätten. „Leonie Faller, Hallo?“, kicherte sie leise in den Hörer. „Ja guten Tag Frau Faller, hier ist Doktor Bezel von der Bretano-Kinderklinik in Frankfurt. Wir haben soeben die Ergebnisse von Bens MRT erhalten. Ich muss ihnen leider mitteilen, dass wir einen Tumor am vorderen Teil des Frontallappens gefunden haben. Könnten sie heute Nachmittag in die Klinik kommen, um alles weitere zu besprechen.

8 thoughts on “Die Erbsünde

  1. Deine Geschichte gefällt mir bis auf ein kleines Detail sehr gut.
    Die Geschichte der Freundinnen ist eine ganz gut Ablenkung, nur war ich Tatsache versucht, sie zu “überscrollen”, weil ich wissen wollte, wie die Hauptstory weiter geht.
    Meiner Meinung nach solltest du einen Roman daraus machen, das Storyboard steht ja schon 😉
    Vielen Dank für deine Geschichte!

  2. Moin ,

    eine tolle Geschichte die du dir da ausgedacht hast. Für eine Kurzgeschichte vllt etwas zu lang, aber da sie spannend und fesselnd erzählt wurde, habe ich sie dennoch in einem Rutsch gelesen.

    Dein Plot war gut ausgearbeitet und die ein oder andere Wendung war stimmig eingesetzt.
    Für mich als Hamburger ein Highlight im Pussy Olymp einen Mädelsabend zu verbringen…😉😅

    Dein Ende wirkt auf mich allerdings ein wenig wie Effekthascherei. Ob Ben nun krank ist, oder nicht, spielt für die Handlung der Hauptstorie doch gar keine Rolle.

    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für’s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

    1. Vielen Dank für den tollen Kommentar.
      Stimmt es ist egal, ob Ben krank ist. War nur zum gedanklichen Weiterspinnen der Geschichte gedacht, ob er wegen seiner Krankheit so ist/wird wie sein Großvater. Für die Hauptstory aber irrelevant und könnte man streichen … guter Punkt !
      LG

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