biankakDie Reminiszenz

Ich sehe es aus dem Türrahmen. Das kann doch gar nicht sein? Ist es meins? Ich überlege Hin und Her. Das kann nicht sein. Also fasse ich in die Außentasche meines Bademantels und ertaste mein Eigenes. Wem gehört es dann? War jemand im Haus? Ich kontrolliere die Fenster. Alle zu. Ich laufe so schnell es geht zur Haustür. Verschlossen. Wie kann das sein? Diese Frage stelle ich mir wieder und wieder. Ganz ruhig bleiben, dachte ich. Ich gehe zurück in die Küche, dorthin, wo das schwarze elektronische Gerät auf dem Esstisch liegt. Es ist ein Handy, nein, sogar ein Smartphone. Das erkenne ich an der fehlenden Tastatur, an dem glatten Display und an der Größe. Ich tippe mit meinem Zeigefinger darauf. Das Display wird hell und im Sperrmodus erkennt man auch die Uhrzeit, 7.34 Uhr am Morgen. Das ist meine übliche Zeit, um aufzustehen. Eigentlich hätte ich mir jetzt Frühstück gemacht und meinen schwarzen Kaffee. Daran ist jetzt nicht mehr zu denken. Ich habe das Gefühl mein Herz springt gleich aus meiner Brust und mir wird schlecht. Unmöglich, dass ich jetzt noch etwas essen kann. Ist nicht doch jemand im Haus? Habe ich wirklich in jedes Zimmer geschaut? Ich traue mich nicht, noch einmal nachzusehen. Mein Blick rutscht wieder zum Smartphone. Es gibt keinen Code zum Entsperren des Handys, also kann ich auf alles frei zugreifen. Besonders viele Apps gibt es auch nicht. Ich tippe auf die Kontakte und sehe zwei Nummern: Meine eigene und die meiner Tochter. Vielleicht war sie ja im Haus? Vielleicht ist es ihr Handy und sie hat es hier vergessen. Erleichterung überkommt mich. Ich habe wahrscheinlich wieder einmal zu viele True Crime Videos geschaut, dachte ich. Allerdings, wieso sollte sie ihre eigene Nummer in ihr Handy einspeichern? Ich beschließe, sie anzurufen.
„Die gewählte Rufnummer ist nicht vergeben…“, klingt es plötzlich aus meinem Handy. „Was?“, schimpfe ich es an.
Das Handy auf meinem Esstisch blinkt nicht auf.
„Okay, das ist jedenfalls nicht ihr Handy, aber wem gehört es dann?“, fragte ich mich selbst. Sofort bin ich wieder fokussiert auf das fremde Handy vor mir. Ich tippe auf die Fotos und erschrecke. Was ich sehe – damit hätte ich niemals gerechnet. Auf dem Handy, in der Galerie, ist nur ein einziges Foto. Ein Foto von mir.
„Das kann nicht sein! Das geht nicht!“, rief ich durch die Küche. „Wie um alles auf der Welt ist das möglich?“
Ich bekomme Angst. Schweiß sammelt sich auf meiner Stirn. Meine Hände werden feucht und ich lasse das Handy auf dem Boden fallen, das eben noch in meiner Hand gelegen hatte. Doch irgendetwas stimmt hier nicht. Ich nehme das Handy erneut in die Hand, schaue mir das Foto, das vermeintlich mich zeigt, an. Es muss wohl von einer Überwachungskamera aufgenommen worden sein. Es sah jedenfalls nicht aus wie eine Handyaufnahme, denn es war unscharf, verpixelt und schwarz-weiß. Ich überlege scharf nach, wo das Foto entstanden sein könnte. Der Hintergrund ist unscharf, es ist nicht viel zu erkennen, außer eine Reihe von gleich aussehenden Häusern. Es kann überall entstanden sein. Man sieht lediglich, dass ich aus einem der Häuser herausgestürzt komme. So sieht es jedenfalls meinem Blick entnehmend aus. Womöglich ist es verfälscht worden, kommt mir dann in den Sinn. Aber es ist nicht zu verkennen, dass auf dem Foto tatsächlich ich zu sehen bin. Mein Gesichtsausdruck ist finster und wütend. Ich sehe angsteinflößend aus. Der Pullover, den ich auf dem Foto trage, ist schmutzig. Man kann nicht genau erkennen, was es ist, da die schwarz-weiß Färbung die eigentliche Farbe verfälscht. Vielleicht ist es Blut. Aber wieso zum Teufel sollte ich mit einem blutverschmierten Oberteil herumlaufen? In meinen Händen halte ich einen Gegenstand fest. Auch das lässt sich in der Aufnahme nicht genau erkennen. Das Foto ist abgeschnitten, somit sieht man nur den oberen Teil meines Körpers. Ich gehe alle Szenarien in meinem Kopf durch. Mir fällt nichts ein. Nichts, was das Foto hätte erklären können. Ich kann mir keinen Reim daraus machen. Schnell erfasst mich der Gedanke, dass sich womöglich irgendjemand einen schlechten Scherz mit mir erlauben möchte. Mittlerweile tropft schon der Schweiß von meiner Stirn auf dem Küchenfußboden. Dann trifft mich ein Geistesblitz. Meine Tochter! Vielleicht hat es etwas mit ihr zu tun. Immerhin ist auf dem Handy nicht nur meine, sondern auch ihre Nummer gespeichert, aber erreichen kann ich sie nicht. Wieso ist ihre Handynummer nicht mehr verfügbar?
Ich versuche es erneut. „Die gewählte Rufnummer ist nicht vergeben…“, klingt es erneut aus meinem Handy.
„Das kann doch nicht sein.“ Ich fahre mir mit meinen Händen durch die mittlerweile verschwitzten Haare.
Plötzlich überkommen mich Sorgen. Irgendwas läuft hier falsch, das fühle ich. Ich glaube, man nennt es Vaterinstinkt. Sie ist sonst immer erreichbar. Am liebsten würde ich sofort die Polizei rufen. Aber ich weiß, dass man immer etwas abwarten sollte. Meistens klärt sich ein Problem von selbst. Außerdem sollte ich meine Tochter nicht sofort als vermisst melden, denn sie kann ihren Aufenthaltsort frei wählen und muss niemandem erzählen, wo sie hingeht – auch nicht dem eigenen Vater. Das ist mir sehr wohl klar. Wenn ein erwachsener Mensch für ein paar Tage nicht zu erreichen ist, kann man nicht einfach nach ihm suchen lassen. Ich werde das Gefühl jedoch nicht los, dass irgendetwas nicht stimmt. Das ergibt doch alles gar keinen Sinn. Ich sollte vielleicht nicht die Polizei rufen, aber ich lasse die Sache nicht auf sich beruhen und begebe mich auf der Suche nach ihr. Zuerst mache ich mich auf dem Weg zu ihrer Wohnung.

Ich fahre mit der Bahn, weil ich kein Auto habe. Das meiste kann man zu Fuß, mit der Bahn oder dem Bus erreichen. Der Verkehr ist hier viel zu stressig, daher entscheide ich mich für die Bahn. Ich steige an der Haltestelle aus, die in der Nähe der Wohnung meiner Tochter liegt. Von hier aus ist es nicht mehr weit. In Gedanken mache ich mir immer wieder Mut, dass alles gut sein werde, dass das Foto nichts zu bedeuten hat. Doch trotzdem schwirrt mir der Kopf. Mein morgendlicher Kaffee fehlt, das merke ich deutlich. Ich kann mich kaum auf meine eigenen Füße, geschweige denn, auf die Straße konzentrieren. Mit einem Mal bin ich da. Dies ist die Wohnung, in der sie eingezogen ist, nachdem ihre Mutter gestorben ist. Sie hielt es nicht mehr in dem Haus aus, in dem sie mit ihrer Mutter gelebt hat. Ich wohne dort immer noch, denn bei mir ist es umgekehrt, ich möchte genau in dem Haus wohnen, in dem sie mit mir gelebt hat. Bei diesem Gedanken werde ich traurig, wie jedes Mal, wenn ich an meine Frau denke. Ich schüttele den Kopf.
„Das ist in diesem Moment nicht relevant“, sagte ich zu mir selbst.
Die Wohnung sieht aus wie in meiner Erinnerung. Mir fällt auf, dass ich sie schon lange nicht mehr besucht habe. Es kommt mir vor, als wäre es schon Monate her. Ich gehe also die Treppe hinauf zur Haustür. Als ich die Klingeln betrachte, fällt mir auf, dass ihr Name nicht dran steht. Ich gehe noch einmal alle durch, aber finde sie nicht. Eigentlich bin mir aber sicher, dass sie genau hier wohnt, und zwar im Erdgeschoss. Die Hausnummer stimmt auch. Deswegen klingle ich jetzt bei dem Namen, wo eigentlich ihrer hätte stehen müssen. Nach ein paar Sekunden erklingt ein schriller Ton und ich kann die Eingangstür aufziehen. Ein paar Treppen höher erwartet mich ein schlaksiger, junger Mann. Ich schätze ihn auf Mitte 20. Er betrachtet mich eindringlich, bis ich endlich zu Wort komme.
„Ich suche meine Tochter“, sagte ich abrupt.
Ich hätte es wahrscheinlich netter formulieren können. Ein einfaches „Hallo“ hätte es schon getan. Doch ich bin so in Trance, so verwirrt, dass mir alles im Moment egal ist. Der junge Mann sieht mich verwirrt an, deswegen erkläre ich ihm schnell, was genau ich von ihm möchte. Ich erzähle ihm, dass sie hier eigentlich gewohnt hat. Frage ihn, ob er vielleicht wüsste, wo sie ist, seitdem sie nicht mehr dort wohnt oder ob er vielleicht ein Freund von ihr sei. Der schlaksige Typ sagte mir lediglich, dass er nicht wüsste wovon ich rede und, dass er hier schon seit fast einem Jahr wohne und sie nicht kenne. In meinem Kopf bilden sich noch mehr Fragezeichen. Ohne noch ein Wort zu sagen, verlasse ich den Hausflur und gehe nach draußen. Ich brauche frische Luft, das wird mir hier noch alles zu viel. Ich bin mir sicher, dass es ihre Wohnung ist. Plötzlich ist mir in den Sinn gekommen, dass sie auch weggelaufen sein könnte. Zwar wüsste ich nicht, welcher Grund sie dazu bewegt hätte, aber so etwas hört man ja immer wieder. Vielleicht möchte sie nicht gefunden werden und hat deswegen eine neue Handynummer. Ich muss dringend zurück nach Hause. Durch die ganze Aufregung habe ich vergessen, mit welcher Bahnlinie ich gekommen bin. Ich frage ein paar Passanten nach dem Weg. Mittlerweile ist auch mein Oberteil von Schweiß durchnässt. Aber zum Duschen ist jetzt keine Zeit.

Bei mir zu Hause angekommen, beschließe ich, meine Rechnungen, meine Post und meine E-Mails zu durchsuchen. Vielleicht lässt sich hier etwas finden. Sie könnte beispielsweise das Geld von dem Sparbuch entnommen haben, das über meinen Namen läuft und ich ihr für ihr Studium zur Verfügung gestellt habe. Das wäre auf jeden Fall ein Indiz dafür, dass sie weggelaufen sei. Nach langem Stöbern, mittlerweile ist es schon spät am Abend und die Sonne geht bereits unter, habe ich nichts gefunden. Ich bin so erschöpft, dass ich mich am liebsten hinlegen würde. Kurz überlege ich sogar aufzugeben und morgen mit der Suche nach meiner Tochter und der Klärung des mysteriösen Bildes weiterzumachen. Plötzlich fällt mein Blick auf einen Flyer, der Mitten im Chaos auf dem Boden liegt. Es ist ein Formblatt mit Informationen für die ambulante Psychotherapie. Hatte sie Probleme? Wurde sie etwa therapiert? Davon wusste ich nichts. Vielleicht wegen des Todes ihrer Mutter, dachte ich. Wieso spricht sie denn darüber nicht mit mir? Mir wird plötzlich immer mehr bewusst, dass meine Tochter Geheimnisse vor mir zu haben scheint. Zuerst ihre Nummer, die nicht mehr verfügbar ist. Dann der rätselhafte Mann in der Wohnung, die wohl nicht mehr ihre Wohnung zu sein scheint. Und zuletzt dieser Flyer über eine lokale psychotherapeutische Klinik. Es muss jedenfalls ihr Flyer sein, denn ich habe den noch nie gesehen, geschweige denn mich damit auseinander gesetzt. Eigentlich wäre es jetzt nicht angebracht, die Klink anzurufen, es ist immerhin schon später Abend. Aber die Informationsstelle am Therapiezentrum müsste doch eigentlich noch tätig sein. Ich weiß, dass ich nicht so neugierig sein sollte, aber hier geht es immerhin um eine ernste Angelegenheit. Irgendjemand möchte mir etwas vermitteln, ich weiß nur noch nicht genau was. Ich rufe also beim Therapiezentrum an. Dort wurde mir leider gesagt, dass vertrauliche Informationen nicht weitergegeben werden können. Das habe ich geahnt. Sorge umhüllt meinen Körper immer weiter. Doch ich werde nicht müde. Ich habe eher das Gefühl, dass ich voller Adrenalin und Energie bin. Deswegen durchsuche ich weiterhin die Unterlagen, die vor mir liegen. Nach einigen Stunden stoße ich auf einen Zeitungsartikel. Er liegt inmitten der Rechnungen, wo er eigentlich gar nicht hingehört. Ich lese den Titel des Artikels. Es geht um den Tod einer Frau. Das Datum zeigt, dass der Vorfall hier in dieser Stadt vor einem Jahr geschehen ist. Wieso habe ich so etwas überhaupt aufbewahrt? Das bereitet mir nur noch mehr Sorgen um meine Tochter. Weil dieser Artikel mich jetzt nicht weiter bringt, lege ich ihn beiseite und suche weiter nach etwas Brauchbarem, etwas, was das Foto auf diesem Handy erklärt, etwas, was mir auf der Suche nach meiner Tochter hilft. Ich überlege, was ich als Nächstes tun könnte. Ich habe das Gefühl, dass das Verschwinden meiner Tochter irgendetwas mit dem Therapiezentrum zu tun hat. Wie soll der Flyer sonst in mein Haus kommen? Es ist genauso mysteriös wie die Sache mit dem Handy heute Morgen. Nach langem Überlegen beschließe ich zum Therapiezentrum zu fahren. Es hat womöglich bereits zu, aber ich empfinde diese Entscheidung als sinnvoller, als im Haus zu hocken. Hier werde ich noch verrückt. Ich könnte immerhin dorthin fahren, mir das Gebäude, den Ort genauer anschauen. Zum Schlafen würde ich sowieso nicht mehr kommen, dafür bin ich viel zu aufgewühlt. Ich habe sie nochmals angerufen, aber immer wieder sagte mir eine Frauenstimme am Handy, dass die Nummer nicht mehr vergeben sei. So langsam verliere ich die Nerven. Kann das wirklich wahr sein? Ist sie wirklich verschwunden? Wurde sie womöglich entführt? Vielleicht von der Person, die mir auch das Handy ins Haus gelegt hat? Wie viele Geheimnisse hat sie wirklich? Ich weiß inzwischen nicht mehr wo vorne und hinten ist. Ich fahre voller Sorge und immer noch schweißüberströmt zum Therapiezentrum. Die Verbindung dahin habe ich mir aus dem Internet herausgesucht. Das mysteriöse Handy nehme ich zur Not mit. Dort angekommen, wird mir schlecht. Ich erkenne diesen Ort. Nicht unbedingt das Therapiezentrum an sich, aber die Gebäude daneben. Es ist ein Wohnblock mit vielen kleinen Fenstern, die alle gleich aussehen. Es sieht genauso aus, wie die Häuser auf dem Foto des Handys, das heute Morgen auf dem Esstisch lag. Angst überkommt mich. Was hat das zu bedeuten? Ich war noch nie hier, davon bin ich überzeugt. Als ich das Handy heraushole, betrachte ich das Foto noch einmal haargenau. Und da fällt mir das Datum unten rechts auf. 15.03.2019. Es ist also fast ein Jahr her. Was habe ich vor einem Jahr hier gemacht? Ich denke intensiv nach, aber mir fällt es nicht ein.
„Ich war noch nie hier“, sagte ich laut. Ich spreche indes immer öfter mit mir selbst. Wahrscheinlich ist das alles heute zu viel für mich. Mein Körper macht da nicht mehr mit und ich kollabiere fast. Ich habe nichts gegessen, geschweige denn getrunken. Und dieses ungute Gefühl in mir wird immer stärker. Ist es Angst? Sorge? Panik? Oder doch nur Erschöpfung? Ich weiß es nicht. Jedenfalls ist hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung. Mir fällt wieder ein, dass mein eigentlicher Plan war, zum Therapiezentrum zu gehen. Das Tat ich dann auch. Derweilen ist es schon dunkel.

Angekommen bei der Klinik, fällt mir ein Zimmer auf, in dem noch Licht brennt. Es ist im Erdgeschoss und man kann geradewegs hineinschauen und einen Mann am Schreibtisch sitzen sehen, was an den fehlenden Gardinen liegt. Ich stehe bereits mehrere Minuten in der Dunkelheit vor dem Therapiezentrum und schaue diesen Mann an. Wegen meines verschwitzen Oberteils wird mir kalt und ich zwinge mich, schnell eine Entscheidung zu treffen. Soll ich hinein gehen? Ich werde das Gefühl nicht los, dass das alles mit dem Verschwinden meiner Tochter zu tun hat. Insgeheim hoffe ich, dass es nur ein schlechter Traum ist. Ohne noch einmal darüber nachzudenken, betrete ich die Klinik auf direktem Weg zu dem einzigen noch hell erleuchteten Raum, zu diesem Mann. Er muss wahrscheinlich ein Therapeut sein, der in dieser Klinik arbeitet. Ich weiß noch nicht, ob ich ihn einweihen soll, aber ich muss mit jemanden sprechen, sonst werde ich noch verrückt. Außerdem unterliegt er der ärztlichen Schweigepflicht, was mir etwas mehr Mut schenkt.
„Herr Weber, was ist los?“, begrüßte mich die unbekannte Stimme.
„Hallo, ähm…“ Eigentlich wollte ich ihn gerade um Hilfe bitten, aber wieso kennt er meinen Namen? Ich bin völlig verwirrt, verstehe nichts mehr. Was ist hier nur los?
„Woher kennen Sie meinen Namen?“, brach es dann aus mir heraus.
„Sie sollten sie sich lieber setzen, Herr Weber“, sagte er mit beruhigender Stimme.
Das Beruhigende in seiner Stimme hilft mir jedoch nicht, denn ich bin immer noch völlig aufgelöst. „Ich verstehe nicht recht, wer zum Teufel sind Sie?“ Ich bin unhöflich, das weiß ich. Ich merke in diesem Moment, dass ich öfter mit Aggressionen zu kämpfen habe.
„Herr Weber, ich bin seit einem Jahr ihr Therapeut. Sie kommen wöchentlich zu mir in die Sitzung und wir sprechen über Ihre Krankheit und den Tod Ihrer Tochter. Ich weiß, es muss ein Schock für Sie sein“, antwortet er daraufhin.
„Den Tod meiner Tochter?“, unterbrach ich ihn voller Entsetzen. „Das ist überhaupt nicht möglich. Da liegen Sie völlig falsch“, fügte ich hinzu. „Und was meinen Sie mit Krankheit? Ich bin nicht krank. Ich habe diese Klinik noch nie betreten!“
„Herr Weber, erklären Sie mir doch erst einmal, wieso Sie hier sind.“
Ich folge seinem Rat, denn ich weiß nicht, was ich im Moment sonst tun soll. Ich erzähle ihm alles. Das mysteriöse Handy mit dem Foto darauf. Die beiden eingespeicherten Handynummern. Ich erzähle ihm von meiner Tochter, deren Nummer nicht mehr verfügbar ist und die sich nicht bei mir meldet. „Können Sie mir helfen, bitte?“, frage ich ihn dann verzweifelt. Ich muss mit meinen verschwitzten Klamotten, den zerzausten Haaren und meinen Augenringen aussehen wie ein Wrack. Außerdem hört mein Magen nicht mehr auf zu knurren.
„Ja, ich kann ihnen helfen“, antwortete er darauf.
Freude überkommt mich. „Was? Wirklich?“, erwiderte ich „Wissen sie, wo sie ist? Haben Sie sie ebenfalls therapiert? Ich habe nämlich den Flyer…“
„Herr Weber, ich versuche Ihnen doch zu erklären, dass sie Tod ist“, unterbrach er mich. „Aber vielleicht zeigen Sie mir erst einmal das Foto des besagten Handys“, fuhr er fort.
Ich reiche ihm das Handy und erkläre, dass ich das nicht sein kann, dass ich noch nie in diesem Haus war.
„Herr Weber“, sagte er daraufhin. „Ihnen ist doch sicherlich aufgefallen, dass Sie häufiger mit Gedächtnisverlusten zu kämpfen haben. Versuchen Sie sich zu erinnern, wenn Sie das Foto anschauen.“
Ich blicke auf das Foto. Wie kommt er denn darauf, dass ich unter Gedächtnisverlust leide? Immerhin konnte ich ohne Probleme zur Wohnung meiner Tochter fahren. Den Weg kenne ich auswendig. Obwohl ich mich an den Rückweg nicht mehr erinnern konnte und Passanten fragen musste. „Egal“, flüsterte ich. Ich schaue das Foto weiterhin an. Mir fällt erneut das Datum unten rechts auf dem Bild auf. 15.03.2019. Da macht es plötzlich Klick. „Der Zeitungsartikel“, schrie ich schließlich auf. „Es ist das gleiche Datum, der Unfall geschah auch am 15.03.2019!“, fügte ich hinzu. „Aber Sie meinen doch nicht etwa…“, ich schluckte. Nein, das kann nicht sein!
„Ja, Herr Weber, sie haben etwas mit dem Unfall am 15.03.2019 zu tun. Haben Sie den Zeitungsartikel gelesen?“, fragte er mich mit seiner beruhigenden Stimme.
„Nein, nur überflogen.“
„Das Mädchen, das an diesem Tag umgebracht wurde, ist Ihre Tochter, Herr Weber“, sagte er.
Ich verstand die Welt nicht mehr. Seine Worte ergeben keinen Sinn. Das kann nicht sein. Plötzlich fange ich an zu weinen. Mein T-Shirt, welches eben noch durchnässt von Schweiß war, wird nun zusätzlich mit meinen Tränen durchtränkt.
„Sie waren es“, wiederholt er.
„Was?“, erwiderte ich voller Missbilligung. Ich kann nicht glauben, was er mir da gerade an den Kopf wirft. „Sie beschuldigen ernsthaft mich, meine eigene Tochter umgebracht zu haben?“ Ich bekomme keine Luft mehr, alles um mich herum dreht sich. Ich will doch einfach nur, dass es ihr gut geht, dass es Emma gut geht. Ich kenne diesen Mann überhaupt nicht und er will mir so etwas Grauenhaftes unterstellen? Plötzlich wird mir klar, was er versucht, mir die ganze Zeit zu sagen. Meine Tochter ist Tod.
„Hören Sie, Herr Weber, sie haben Ihre Tochter vor einem Jahr umgebracht. Die Gründe hierfür sind nicht eindeutig und auch noch nicht geklärt worden. Sie leiden an einer seltenen Früherkrankung von Demenz. Nach dem Tathergang haben sie eine Amnesie erlitten, weswegen sie sich nicht mehr daran erinnern können. Sie sind nur deswegen bei mir in Therapie, Herr Weber“, sagte er plötzlich.
„Nein, das kann nicht sein. Sie lügen!“, schrie ich. Noch nie habe ich so viel Schmerz erleiden müssen. Ich kann seine Worte kaum verstehen. Mein Sichtfeld wirkt durch die Tränen verschleiert.
Meine Stimme klingt brüchig, als ich sage: „Und das Handy von heute Morgen? Waren Sie das etwa?“ Ich zeige dabei auf ihn. Mittlerweile schreie ich fast, auch wenn meine Stimme bricht.
„Die Polizei versucht seit diesem Tag herauszufinden, wie es dazu kommen konnte. Sie leiden zwar an Aggressionen, jedoch offenbarte sich diese Aggression nie gegenüber Ihren Mitmenschen, meistens immer nur gegen Sie selbst. Wir, die Polizei und die psychiatrische Klinik arbeiten zusammen und versuchen immer wieder, die Erinnerungen bei Ihnen zu wecken. Man nennt es Reminiszenz. Sie waren bereits mehrere Monate in einer psychiatrischen Klinik, aber mittlerweile stellen Sie keine Gefahr mehr für Ihre Mitmenschen dar und machen wöchentlich diese Therapiesitzungen mit mir. Außerdem haben Sie eingewilligt, dass wir Sie kontrollieren dürfen und Ihnen zur Erinnerung verhelfen. Das Handy mitsamt dem Foto habe ich in Ihre Küche gelegt, Herr Weber. Für Ihr Haus habe ich einen Schlüssel. Ich möchte, nein, wir möchten, dass Sie sich erinnern, damit wir den Vorfall aufklären können. Sie haben damals zugestimmt, dass ich diese Therapiemethode an Ihnen probiere, sehen Sie.“
Er zeigte mir ein ausgefülltes Formular. Ganz oben in Druckbuchstaben steht Einverständniserklärung und unten meine Unterschrift. Ich überfliege diesen Zettel und es ist wahr, ich habe eingewilligt.
„Sie waren ganz aufgelöst nach der Tat, haben sich entschuldigt und immer wieder beteuert, wie sehr sie es bereuen. Sie haben es Zugegeben, Herr Weber. Es fand in diesem Haus statt, aus dem Sie auf dem Foto heraus kommen. Hier hat Ihre Tochter gewohnt. Ich dachte, das Foto könne Ihnen zur Erinnerung verhelfen.“
„Das kann nicht stimmen, sie wohnt nicht dort. Ihre Wohnung ist in der Badenallee“, sagte ich entsetzt.
„Das war ihre Wohnung. Kurz vor ihrem Tod ist sie in die Wohngegend direkt neben unserer Klink gezogen. Sie können sich wahrscheinlich nicht mehr daran erinnern, weil Sie sich nur noch an das erinnern, was vor Ihrer Demenzerkrankung passiert ist. Als man sie dann nach Ihrer Tat befragen wollte, war ihre Erinnerung darüber verschwunden und so ist es seitdem leider geblieben. Deswegen können Sie sich auch nicht an mich erinnern“, fuhr er fort.
„Das kann nicht sein. Ist das wahr? Was geschieht hier nur?“, sprach ich in mich hinein.
Völlig durch den Wind, streiche ich durch meine Haare. Mir stockt der Atem und die Luft im Raum wird immer enger.
„Aber wieso? Wieso habe ich das getan?“
„Lieber Herr Weber, genau das versuchen wir seit einem Jahr herauszufinden.“

Nachwort

Ich habe mich für die Thematik Demenz entschieden, weil ich finde, dass es nicht angemessen genug behandelt wird. In meinem sozialen Umfeld habe ich außerdem Erfahrung mit dieser Krankheit gemacht und kann gut einschätzen, wie beeinträchtigend dieser Gedächtnisverlust sein kann. Durch eine zusätzliche Recherche zu diesem Thema wurde mir aber auch deutlich, wozu Menschen fähig sind, was sich für mich als ein geeignetes Thema für einen Kurzthriller herausgestellt hat. Ich habe mich außerdem bewusst dazu entschlossen, dass der Protagonist, Herr Weber, nicht in polizeilicher Gewahrsam verbleiben sollte, da ich der Überzeugung bin, dass Demenzkranke zwar in einer Weise unberechenbar sind, es sich aber dennoch um eine Krankheit handelt und der Patient individuelle therapeutische Hilfe bekommen sollte. Zumal es verschieden ausgeprägte und vorkommende Demenz gibt. Ich habe mich in meiner Kurzgeschichte auf Vaskuläre Demenz fokussiert, die vor allem auch frühzeitig und unabhängig von Alter und Vorerkrankungen entstehen kann. Zu den Symptomen gehören unter anderem ein hoher Blutdruck, dementsprechend auch Schweißausbrüche, Verwirrtheit, (unbedingte) Aggressionen, Orientierungslosigkeit, unkontrollierte Handlungen und Gedächtnisverlust (meist das, was nach der Erkrankung folgt). Diese Symptome habe ich in meine Geschichte eingebaut, damit der Leser vielleicht bereits beim Lesen einige kleine Denkanstöße bekommt. Die Reminiszenz-Therapie ist eine psychologische Maßnahme, in der die Erinnerungen insbesondere von Demenzkranken hervorgerufen werden können und sollen. Es handelt sich also um eine Art Erinnerungstherapie, die jedoch noch nicht ausreichend erforscht wurde. Ich erhoffe mir, mit dieser Geschichte Spannung aufgebaut, aber auch das Interesse bezüglich der Demenzkrankheit gesteigert zu haben.

Bianka Kröker

One thought on “Die Reminiszenz

  1. Moin Bianka,

    noch keinen Kommentar zu deiner tollen Geschichte? Na gut, dann mach ich mal den Anfang, sind die doch so wichtig für uns „ Hobbyautoren“ .

    Ich finde deine Geschichte SUPER! Die Verwirrung um deinen Protagonisten die du skizzierst ist, großartig.

    Ich habe hier in diesem Wettbewerb schon eine andere Geschichte zum Thema Demenz gelesen. Ich mag die Möglichkeit, die diese Krankheit bietet um daraus einen tollen Plot zu stricken.
    Wenn der Protagonist nicht genau weiß, was um ihn herum geschieht, wie soll es dann der Leser wissen? Das sorgt für eine spannende, fesselnde Kurzgeschichte. Und darauf kommt es doch an, oder?

    Deinem Schreibstil konnte ich sehr gut folgen und deine Geschichte lies sich flüssig lesen. Deine Charakterentwicklung ist auch wirklich gut. Die Angst um den Verlust der Tochter hast du wirklich glaubwürdig erzählt. Emotionen transportieren gehört eindeutig zu deinen Stärken. TOP!

    Deine erste Geschichte?

    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für’s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

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