Susanne BinhackDie Schleife

»Du musst dich sauber machen«, sagte sie.
»Wie bitte?«, fragte Marlon.
»Du musst dir das Blut abwaschen.«
Marlon schaute an sich herunter und sah… nichts.

Marlon öffnete seine Augen und gähnte.
Was für ein eigenartiger Traum, ich hätte mir gestern Abend nicht diesen Film anschauen sollen.
Er stand auf, genoss erstmal eine warme Dusche und frühstückte. Auf dem Weg zur Arbeit spielte er in Gedanken erneut seinen Traum durch und musste über die vergangene Nacht schmunzeln. Im Büro angekommen, begrüßte ihn gleich seine Kollegin Sarah:
»Hey Marlon«, sagte sie und sah ihn mit großen Augen an. »Du siehst ja heute mal zur Abwechslung richtig ausgeschlafen aus.« Marlon warf Sarah einen genervten Blick zu.
»Höre ich da etwa Sarkasmus aus deinem Mund? Das kenne ich ja gar nicht von dir.« antwortete er und stellte seine Tasche ab.
»Ich hatte einen verrückten Traum. Anscheinend war ich voller Blut und ich wurde aufgefordert, es mir abzuwaschen, aber da war keins.« Marlon machte sich Kaffee und setzte sich. »Ich sollte wohl auf Tierdokus umsteigen und nicht immer nur Psychothriller anschauen. Vielleicht träume ich dann mal von halbwegs normalen Dingen.«
»Ja mach das mal zur Abwechslung. Ich kann sowieso nicht verstehen, wie man sich so etwas anschauen kann. Da wird einem ja schlecht.« Sarah schüttelte sich vor Ekel. »Ich geh dann mal an die Arbeit. Wir sehen uns später.« Marlon seufzte einmal und begann zu arbeiten.

»Du musst dich sauber machen. Wasch gefälligst das Blut ab, sonst sieht das noch jemand und stellt Fragen.«, sagte sie.
Marlon muss wohl kurz eingenickt sein, denn als er aufwachte, lag er mit seinem Kopf auf seiner Tastatur.
Jetzt schlafe ich schon auf der Arbeit ein, hoffentlich ist das niemandem aufgefallen.
Er musste sich kurz sammeln und schaute auf die Uhr.
12:36 Uhr, meine Pause ist fast vorbei.
Er entschied sich, einen Snack am Automaten zu holen und kurz an die frische Luft zu gehen, um noch eine zu Rauchen. Draußen checkte er noch seine Mails auf dem Handy und ging anschließend wieder an die Arbeit.
Nach weiteren langweiligen Stunden war endlich Feierabend.
Gott sei Dank, geschafft.
Marlon schnappte sich seine Tasche und verließ, nach dem er sich von Sarah verabschiedet hatte, das Büro. Auf dem Heimweg ging er noch kurz einkaufen, um sich anschließend gleich etwas kochen zu können. Seine Kochkünste waren nicht sonderlich gut, aber Hauptsache, er hatte was im Magen. Marlon schaltete den Fernseher ein, damit er etwas Unterhaltung hatte, als er ein Vibrieren bemerkte. Er schaute auf sein Handy, aber da wurde ihm keine Nachricht angezeigt. Wenige Augenblicke später vibrierte es erneut und Marlon begann sich auf die Suche zu machen. Im Wohnzimmer wurde er schließlich auf seinem Sofa fündig. Dort lag ein Handy.
»Was ist das denn?«, sagte er zu sich selbst und musterte es genauer. Das Handy kam ihm nicht bekannt vor. So langsam dämmerte es ihm, dass er unter Umständen nicht allein in seiner Wohnung war.
»Hallo?«, rief er zögerlich und schritt so leise wie möglich durch die Wohnung. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass er allein war, setzte er sich auf das Sofa und schaltete das Handy an. Man musste es mit dem Fingerabdruck entsperren. Marlon probierte es und der Startbildschirm erschien.
Wie kann das möglich sein?
Er sah, dass zwei Nachrichten eingegangen waren. Von Neugier getrieben, öffnete er die Erste. Es war ein Bild.
Ein Bild von ihm mit blutverschmierten Händen und einer toten Frau, deren Gesicht man aber nicht sehen konnte, da es außerhalb des Bildausschnittes war. Marlon zoomte hinein um genaueres zu erkennen, aber da war nichts, was ihm vertraut vorkam. Anspannung machte sich in ihm breit. Durch das ganze Blut auf dem Bild wurde ihm allmählich flau im Magen. Er ging zum Startbildschirm zurück, um die zweite Nachricht anzuschauen. Es war eine Textnachricht.
»Du musst dir das Blut abwaschen.«
Jetzt wurde Marlon endgültig schlecht, da er sich erinnerte, davon geträumt zu haben. Er rannte ins Bad und übergab sich. Als er fertig war, lehnte er sich erschöpft an die Badewanne und starrte minutenlang ins Leere.
Ich verstehe das nicht, wie ist das möglich?
Marlon raffte sich auf und ging ins Wohnzimmer zurück. Er nahm das Handy wieder in die Hand und durchsuchte die Nachrichten nach dem Absender, aber da war nichts. Auch sonst waren keine Kontakte, geschweige denn Apps darauf.

Marlon konnte in der folgenden Nacht nicht schlafen. Er wälzte sich nur hin und her und grübelte, woher das Handy kam.
Am nächsten Tag ging er angespannt zur Arbeit und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und blickte sich um. Sarah war nirgends zu sehen. Sie war sonst immer vor ihm da.
Ein paar Minuten später ging die Tür auf und ein junger Mann kam herein.
»Guten Morgen Marlon. Entschuldige meine Verspätung.« Er legte seine Sachen ab und goss sich Kaffee ein.
»Ähm, hallo… Wer sind sie?«, fragte Marlon verunsichert.
»Hast du heute Morgen einen Clown gefrühstückt? Ich bin´s Daniel, dein Kollege!«
»Wo ist Sarah?«, fragte Marlon irritiert.
»Sarah? Hier arbeitet keine Sarah.« Daniel setzte sich an Sarahs Schreibtisch. »Ist alles ok mit dir?«
Marlon nahm seine Tasche und verließ das Büro. Er konnte noch hören, wie Daniel ihm etwas Unverständliches hinterher rief. Marlon ignorierte ihn.
Zu Hause angekommen, schnappte er sich sofort das fremde Handy und schaute sich die Nachrichten noch einmal an. Vor allem das Bild. Darauf war auf jeden Fall er zu sehen. Aber wer war die Frau? Da er ihr Gesicht nicht sehen konnte, betrachtete er ihre Kleidung genauer und stellte fest, dass sie ihm doch bekannt vorkam.
Das hatte doch Sarah gestern an!
»Oh nein, was habe ich getan?«, schluchzte er und Tränen rannen ihm die Wangen herunter. Marlon versuchte sich krampfhaft an den letzten Abend zu erinnern.
Aber da war nichts als Arbeiten und Abendessen. Wie immer. Also wie kann das sein? Und wer war dieser Daniel?
Fassungslos ging er zu seiner kleinen Bar und holte eine Flasche Whiskey heraus und trank direkt daraus. Einige große Schlucke später sank er betrunken auf sein Sofa und schlief mit dem fremden Handy in der Hand ein.

Marlon wachte Stunden danach mit starken Kopfschmerzen wieder auf und fragte sich, was das für ein Stechen in seinem linken Arm war.
»W-w-was ist…«, versuchte er zu fragen, aber mehr brachte er nicht heraus. Er war wieder eingeschlafen.

Marlon wusste nicht, wie viel Zeit verging, als er zu sich kam. Er war noch etwas benommen. Was er aber erkannte, war, dass er sich nicht mehr in seiner Wohnung befand. Er lag in einem fremden Bett, in einem fremden Zimmer. Das Zimmer war komplett in Weiß gehalten und nur sehr spärlich eingerichtet. Als er an sich herunter schaute, stellte er fest, dass er eine Art weißen Pyjama trug und keine Schuhe, geschweige denn Socken anhatte. Beim Aufstehen bemerkte er, dass er an Händen und Füßen fixiert war.
Moment mal, warum bin ich gefesselt? Was geht hier vor?
Er riss an seinen Fesseln, aber bekam sie nicht locker. Marlon begann, ängstlich um Hilfe zu rufen, soweit es ihm in seinem Zustand möglich war. Doch es kam niemand.
Endlich ging dir Türe auf. Herein kam ein Mann in weißem Kittel mit einer Frau, die wie eine Krankenschwester aussah. Der Mann begrüßte ihn und fragte, ob er ihn erkennt, aber Marlon schaute ihn nur ganz verwirrt an.
»Mein Name ist Dr. Alexander Meyer, das ist meine Assistentin, Lea Krüger. Wissen Sie, wo Sie sind?«, fragte der Mann. Marlon verneinte.
»Hören Sie zu Jan, sie sind in einer psychiatrischen Einrichtung.« Der Arzt wollte weiter erzählen, wurde aber von Marlon unterbrochen.
»Moment mal, wieso sprechen Sie mich mit Jan an? Mein Name ist Marlon, Marlon Lorenz!«
»Weil das ihr Name ist. Sie heißen Jan Weber.«
»Jan Weber?« Marlon war entgeistert. Diesen Namen hatte er noch nie gehört.
»Sie müssen sich irren.«
Dr. Meyer drehte sich zu seiner Assistentin um, gab ihr einen Schlüssel in die Hand und sie verließ den Raum. Er trat zu Marlon ans Bett und sagte:
»Sie scheinen momentan keinen klaren Gedanken fassen zu können. Frau Krüger holt die Schlüssel für die Fesseln. Wir machen Sie los, aber nicht ohne Sicherheitsmaßnahmen für uns. Sie bekommen Handfesseln und wir gehen in den Therapieraum. Dort erkläre ich Ihnen, warum Sie hier sind.«
»Mein Name ist Marlon, bitte sprechen Sie mich so an.«
Frau Krüger kam mit dem Schlüssel und einem Pfleger zurück. Der tauschte die Fesseln aus und begleitete Marlon und den Arzt aus dem Zimmer. Sie liefen den kahlen Flur entlang und erreichten den Therapieraum.
Ich bin doch im falschen Film, oder. Wo ist die versteckte Kamera?
Dr. Meyer bot ihm einen Stuhl an und er begann zu erzählen.
»Marlon, dieses Gespräch führen wir nicht das erste Mal. Sie sind seit nunmehr 10 Jahren bei uns. Vor zwei Monaten hatte sich ihr Zustand etwas gebessert. Sie wussten, wie Ihr richtiger Name war und machten Fortschritte bei der Therapie. Aber dann hatten Sie einen Rückfall und dachten, sie wären wieder Marlon Lorenz.«
Was redet der denn?
Dr. Meyer sah ihm an, dass er das nicht glaubte, also suchte er in seinem Computer nach der passenden Patientenakte und begann mit der ganzen Geschichte.
»Ihr richtiger Name ist Jan Weber und Sie sind 23 Jahre alt. Sie kamen mit gerade mal 13 Jahren zu uns. Sie waren zutiefst verstört gewesen, da Sie Ihre Schwester Sarah verloren haben.« Der Arzt achtete auf Marlons Reaktion, aber er verzog keine Miene.
»Meine Schwester? Ich bin doch ein Einzelkind.«
»Nein, Sie hatten eine Schwester. Sie spielten gerade draußen im Garten, als Sie Sarah in Richtung Straße gestoßen haben. Das heranfahrende Auto konnte nicht mehr bremsen und erfasste sie. Die Notärzte taten alles, um sie zu retten – aber jede Hilfe kam zu spät.« Marlon betrachtete ausdruckslos den Arzt.
»Sie hatten Sarahs Blut an den Händen und haben wild um sich geschlagen. Daraufhin wurden Sie in ein Krankenhaus eingeliefert, um Sie nach Verletzungen zu untersuchen. Physisch war alles in Ordnung, aber kurz bevor man Sie entlassen wollte, sind Auffälligkeiten in Ihrem Verhalten aufgetreten.« Marlon regte sich immer noch nicht.
»So, ich soll also meine Schwester umgebracht haben… und wie erklären Sie sich Daniel?« Dr. Meyer wusste schon, dass Marlon nicht näher auf Sarahs Tod einging und direkt nach Daniel fragt. Marlon glaubte immer noch kein Wort.
»Nun ja, Ihr Unterbewusstsein hat ihn erschaffen. Genauso wie Ihre Arbeitsstelle und Ihre Wohnung.«
»Ja klar, das kaufe ich Ihnen nicht ab!«, sagte Marlon aufgebracht.
»Wollen Sie mir etwa sagen, ich sei verrückt?« Dr. Meyer schüttelte den Kopf und sagte: »Hören Sie, Marlon, Sie leiden unter einer Persönlichkeitsstörung, ausgelöst durch das traumatische Erlebnis mit Ihrer Schwester Sarah. Dadurch, dass Sie noch so jung waren, als es passierte, flüchteten Sie sich in eine Fantasiewelt. Sie haben sich so darin verloren, dass Sie alleine niemals rauskommen werden.«
»Nein, Sie lügen! Mein Name ist Marlon Lorenz, ich habe keine Schwester, ich führe ein ganz normales, langweiliges Leben!«, erwiderte Marlon zunehmend wütender. Dr. Meyer hielt es jetzt für besser, ihn wieder in sein Zimmer zu bringen. Der Pfleger begleitete sie erneut und musste Marlon schon deutlich fester halten. Dort angekommen, wurde er aggressiver und begann zu schreien, um sich zu schlagen und zu treten. Der Arzt sah keinen anderen Ausweg, als Marlon wieder ans Bett zu fesseln und ihm ein Sedativum zu verabreichen.
»So, das war es jetzt für heute. Sie werden es niemals verstehen.«, sagte Dr. Meyer und ging aus dem Zimmer raus.

Marlon erwachte aus einem unruhigen Schlaf. Er schaute auf die Uhr und stellte fest, dass es 6:18 Uhr war. Da er sowieso in zwölf Minuten aufstehen musste, entschied er sich das jetzt schon zu tun. Er gähnte und ging ins Badezimmer. Heute duschte er länger als gewöhnlich und machte sich anschließend Frühstück. Danach ging er zur Arbeit und dachte dabei über seinen merkwürdigen Traum nach. Er solle sich das Blut abwaschen. Er schmunzelte. Dort angekommen, begann seine Kollegin Sarah ihn gleich zu nerven.
»Du siehst ja heute mal zur Abwechslung richtig ausgeschlafen aus.«
In seiner Mittagspause musste er wieder eingeschlafen sein, denn die war schon zur Hälfte vorbei, als er erwachte.
Wieder so ein komischer Traum.
Er war froh, als der Tag vorbei war. Auf dem Heimweg war er noch einkaufen und kochte sich danach etwas einigermaßen Essbares. Während dem Abendessen vernahm er mehrmals ein Vibrieren, das nicht von seinem Handy kam. Er begann zu suchen und wurde schließlich auf dem Sofa fündig. Marlon nahm das fremde Handy und konnte es sofort entsperren.
Zwei Nachrichten waren eingegangen, ein Bild und eine Textnachricht.

   

 

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