Kate DarkSündenmädchen

 Gerechtigkeit erhöht ein Volk; aber die Sünde ist der Leute Verderben. Sprüche 14:34

 

Kühle Finger griffen nach Tabeas Hand und sie schreckte aus ihren Gedanken. Simon, ihr Ehemann, lächelte ihr zu und blickte anschließend wieder zum Pastor, der seine Andacht hielt. Jeden Sonntag in der Kirche zu sein, machte Tabea zu keinem besseren Menschen. Im Gegenteil. Sie war die personifizierte Sünde! Vorsichtig ließ sie ihren Blick über die Anwesenden gleiten, während ihr der Schweiß ausbrach. Ihr Magen verkrampfte sich, als sie wieder einmal das Gefühl hatte, beobachtet zu werden.

Ihre Augen blieben an dem Kreuz hängen. Konnte Jesus nicht woanders hängen und missbilligend auf sie niederstarren?

Wieso nur hatte Gott sie verlassen?

Tabea zwang die Tränen mit Macht zurück.

»Alles in Ordnung?«, flüsterte Simon kaum hörbar und drückte noch einmal ihre Hand. Was ihrer Beruhigung dienen sollte, sorgte lediglich dafür, dass sie sich eingeengt fühlte.

»Sicher«, log Tabea und dachte, dass eine weitere Lüge ihre Lage jetzt auch nicht mehr verschlimmern konnte.

Unruhig rutschte sie auf der Holzbank herum. Schon die vergangenen Wochen hatte sie ein flaues Gefühl in der Magengegend verspürt. Wogen ihre Sünden so schwer? Beinahe hätte sie gelacht, natürlich taten sie das. Sie hatte gleich gegen vier der zehn Gebote verstoßen. Vier!

Tabea presste die Lippen zusammen und sehnte das Schlussgebet des Pastors herbei. Sie musste hier raus, brauchte dringend frische Luft, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können. Fahrig strich sie sich eine verschwitzte Strähne aus der Stirn.

Endlich war die Messe zu Ende. Sie griff nach ihrer Tasche und stutzte. Ein Handy lag daneben. Wie war das dort hingekommen? Niemand hatte auf dieser Seite neben ihr gesessen. Ihres war es nicht und auch nicht Simons.

»Kommst du?«

Tabea sah zu ihrem Ehemann auf. »Geh schon mal vor. Jemand hat sein Handy vergessen. Ich bringe es rasch zum Pastor.«

Er nickte und ging. Tabea nahm das Telefon in die Hand. Die Berührung aktivierte den Sensor, der sofort den Sperrbildschirm anzeigte. Sie erschrak und das Telefon entglitt ihren zitternden Fingern. Der Bildschirm zeigte sie küssend mit einem Mann, der nicht ihr Ehemann war.

Tabea tastete auf Knien unter der Bank entlang, hob das Handy auf und drückte auf den kleinen runden Knopf, versuchte auf diese Weise, die Sperre zu lösen. Es funktionierte nicht.

Kalter Schweiß rann über ihren Rücken und ihr Mageninhalt drückte sich beunruhigend nach oben.

Tabea musste herausfinden, wem das Handy gehörte. Sie stand vom kalten Boden auf. Abermals drückte sie auf den Knopf und jetzt erschien der Zahlencode zum Entsperren des Displays. Einer Intuition folgend, gab sie ihr Geburtsdatum ein.

Das Menü erschien.

Oh Gott! Der Hintergrund zeigte ein weiteres Bild von ihr mit dem Mann. Wer hatte heimlich diese Aufnahmen gemacht? Tabea war so vorsichtig gewesen und die Affäre war über ein Jahr her!

Ihre Finger bebten, als sie die Funktion für die Fotos öffnete. Bis auf die beiden Bilder war der Ordner leer. Keine eingetragenen Kontakte. Keine E-Mails.

Was. War. Hier. Los?

Wer auch immer diese Fotos von ihr gemacht hatte, warum sendete er sie ihr erst jetzt? Was war das für ein krankes Spiel?

Entsetzt schnappte sie nach Luft, als ihr ein weiterer Gedanke kam. Hatte jemand ihr dunkelstes Geheimnis entdeckt, das noch weit über Ehebruch hinausging? Das konnte nicht sein, oder? Sie hatte doch alle Beweise verschwinden lassen. Plötzlich raste ihr Herz, während ihr Blutdruck bedrohlich absackte. Schwindel erfasste sie. Ein Jahr lang war alles gut gegangen und jetzt holte die Vergangenheit sie ein.

Das Telefon in ihrer Hand kündigte vibrierend eine Mitteilung an. Tabea starrte auf das Display und konnte nicht fassen, was sie erblickte. Sie schwankte und musste sich an der Wand abstützen. Das Bild zeigte ihre jüngere Schwester Jette – geknebelt mit tränennassen Wangen, und einem Blatt Papier in den gefesselten Händen, auf dem in Großbuchstaben das Wort Gerechtigkeit stand.

Mist. Was sollte sie denn jetzt nur machen? Zur Polizei konnte sie nicht gehen. Die würden ihr doch jetzt niemals glauben. Sie hätte sie damals umgehend rufen müssen – nicht erst ein Jahr später.

»Liebling, was ist los mit dir? Du siehst blass aus und bist schon seit Wochen so abwesend.« Simon stand plötzlich vor ihr. »Muss ich mir Gedanken machen?«

Irgendwann würde sie ihm von alldem erzählen müssen. Doch heute war nicht dieser Tag. Sie brauchte mehr Zeit, zumindest solange, bis das mit den Bildern geklärt war.

»Nein, nein«, wehrte sie ab und versuchte sich an einem Lächeln. »Geh doch schon mal nach Hause, ich werde noch zu Jette fahren. Sie braucht meine Hilfe.«

Simon zögerte. Eine Falte hatte sich zwischen seinen Augen gebildet, ein sicheres Zeichen dafür, dass er gleich zu einer seiner langen Reden ansetzte. Das musste sie unterbinden. Für sowas hatte sie keine Zeit. Tabea legte eine Hand auf seine Schulter und beugte sich zu einem züchtigen Kuss vor.

»Ich komme bald nach, versprochen.«

Simons Protest erstarb. »Na gut, aber dann erklärst du mir, was dich bedrückt.«

Sie blickte ihrem Mann hinterher, als das Telefon in ihrer Hand erneut vibrierte. Das Display zeigte einen Countdown von dreißig Minuten an sowie eine Anschrift.

Tabea verzog nachdenklich das Gesicht. Sie hatte keine Ahnung, wo diese Adresse sein sollte. In ihrem eigenen Handy öffnete sie die Kartenfunktion und gab die Straße ein. Sei befand sich außerhalb ihrer Gemeinde. Tabea rannte los und stieß eine ältere Dame aus dem Weg. Es würde knapp werden, aber wenn sie sich Mühe gab, konnte sie es rechtzeitig schaffen.

Schweiß lief über ihren Körper.

Was war das? Tabea drehte sich um. War da ein Schatten? Folgte ihr jemand? Es fühlte sich so an. Überall spürte sie Augen auf sich, die bis tief in ihr Innerstes blickten. Genauso war es die vergangenen Wochen gewesen.

Tabea hetzte die Hauptstraße entlang, vorbei an den idyllischen Vorgärten der hübschen Einfamilienhäuser, in denen glückliche Familien noch beim Sonntagsfrühstück saßen. Immer weiter näherte sie sich ihrem Ziel. Mittlerweile hatte sie eine dunkle Ahnung, wohin sie ihr Weg führte.

Tabea dachte an ihren Nachbar Zane, den Mann auf den Bildern. Er war ein Amerikaner gewesen, der sein Land verlassen hatte, nachdem Trump zum Präsidenten gewählt worden war. Zumindest war das seine offizielle Begründung gewesen. Nach allem was geschehen war, konnte sie das nicht mehr glauben. Nicht nur einmal hatte sie sich gefragt, wie sie sich dermaßen in Zane hatte täuschen können. Was war nur damals in sie gefahren, Simon so zu verraten und zu hintergehen?

Tabea war von Geburt an strenggläubig erzogen worden und überzeugte Christin. Trotzdem hatte sie ihren Ehemann mit dem Nachbarn betrogen. Sie hatte nicht mal eine gute Ausrede, warum es dazu gekommen war. Auf einmal war da diese Anziehung gewesen, die Lust auf etwas Verbotenes. Und ehe sie sich versehen hatte, hatte Zane sie auch schon eingewickelt.

Wenn sie doch nur die Zeit zurückdrehen könnte!

Hoffentlich ging es ihrer Schwester gut. Niemals hätte Tabea gewollt, dass Jette in diese ganze Sache mit hineingezogen wurde.

Ängstlich blickte Tabea sich um. Sie verließ ihren kleinen Heimatort und bog in einen kleinen unscheinbaren Feldweg ab. Mitten in dem kleinen Waldgebiet am Dorfrand gab es eine verlassene Kapelle. Dort trafen sich oft die Jugendlichen – die älteren zum Feiern und die jüngeren für Mutproben.

Zum Glück war es noch Vormittag, denn Tabea fand dieses verlassene Gebäude unheimlich und würde es im Dunkeln freiwillig für kein Geld der Welt betreten.

Das Gestrüpp wurde immer dichter, je weiter sie in den Wald kam. Sie hatte das Gefühl, als würden die Äste nach ihr greifen. Sie zerkratzten ihr Gesicht und die Hände – ein geringer Preis für ihre Sünden. 

Endlich erreichte sie die Kapelle. Stellenweise war der Putz abgeplatzt, die kleinen Fenster eingeschlagen und der Eingang von rankenden Pflanzen umwuchert. Sie hatte keine Ahnung, was sie gleich erwarten würde, oder wer. Ihr Haar verfing sich und die Zweige zerrten an ihr, wie die Situation an ihren Nerven. Bis auf das fröhliche Zwitschern der Vögel, das in ihren Ohren wie höhnendes Gelächter klang, war weit und breit nichts zu hören.

Tabea stand vor dem Eingang. Ihr war speiübel, während ihr Herzschlag ein schnelles Stakkato hinlegte. Zögerlich öffnete sie mit zitternden Fingern die schwere Holztür, deren Scharniere kreischend protestierten. Tabea zuckte bei dem Geräusch zusammen. Im Innern war es dunkel. Nur durch die beiden zerbrochenen Fenster an den Seiten fiel ein wenig Licht herein. Sie brauchte einen Moment, ehe ihre Augen sich an die Düsternis gewöhnt hatten. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Die Schritte hallten von den Wänden wider und wirkten unnatürlich laut. Ihr Herz raste und sie tastete sich an kaputten Holzbänken vorwärts. Noch immer war nichts von ihrer Schwester und deren Entführer zu hören oder sehen.

War sie am falschen Ort?

Sie zog das Handy aus der Tasche. Kein Empfang.

Tabea schluckte und sah sich erneut um. Jetzt erkannte sie weiter vorne die Umrisse einer Gestalt auf dem Boden. Jette! Sie rannte los, doch bevor sie bei ihrer Schwester ankam, packte etwas ihren Fuß. Schreiend stürzte sie zu Boden und fiel in einen Scherbenhaufen. Ihre Tasche schlitterte über den Boden.

Langsam richtete sie sich auf die Knie auf. Das bunte Fensterglas schnitt in ihre Hände. Sie warf einen Blick zurück.

»Das ist nicht möglich«, keuchte sie entsetzt und kroch rückwärts von dem Mann weg, der sie mit einem gefährlichen Glitzern in den Augen betrachtete.

Bittere Galle stieg in ihr hoch und sie würgte. Fantasierte sie? Wie kam er hierher?

»Was ist los, Tabea? Hast du einen Geist gesehen?« Der Mann verzog höhnisch die Lippen – wie immer, wenn er sich auf Kosten anderer amüsierte.

Warum stand Zane vor ihr? Lebendig? Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, wie sein Körper im Leichenwagen abtransportiert worden war. Zuvor hatte sie nach seinem nicht vorhandenen Puls getastet. Er war tot! Sie wusste es mit Sicherheit, denn sie hatte ihn ermordet! Er konnte nicht vor ihr stehen.

Ihr Hals brannte davon, den Würgereiz zu unterdrücken. 

»So schweigsam?«, sprach der Mann weiter.

Tabea erhob sich mühsam auf die Beine, öffnete den Mund und übergab sich. Tote konnten nicht wieder aufstehen. Als ihr Magen sich entleert hatte, taumelte sie. Das alles war zu viel für Tabea.

»Oh nein, du kippst mir jetzt nicht um!« Zane packte sie grob am Oberarm und schleifte sie in Richtung Altar. Sie wehrte sich nicht, war viel zu verwirrt. Dies änderte sich schlagartig, als ihr Blick erneut auf Jette fiel, die geknebelt und gefesselt auf dem Boden lag. Tabea musste ihre kleine Schwester retten – um jeden Preis.

»Mach mit mir was du willst, aber bitte lass Jette gehen«, flehte sie und stellte sich schützend vor ihre Schwester. »Sie ist doch unschuldig.«

Zane verzog sardonisch die Lippen. »Du würdest dich wundern.«

Tabea verstand nicht, was er damit meinte.

Im nächsten Moment beugte er sich zu Jette hinunter, tätschelte grob ihre Wange und zog den Knebel zwischen den Lippen hervor. »Nicht wahr, kleines Mädchen? Du hast ganz schön was auf dem Kerbholz.« Drohend richtete er sich wieder auf. »Aber dazu kommen wir später.«

Tabeas Gehirn ratterte. Wie konnte sie ihre Schwester unbeschadet von hier fortbringen? Sie ließ sich auf die Knie sinken und streichelte über Jettes Kopf.

»Alles wird gut, hörst du? Dir wird nichts passieren.« Sie blickte zu Zane, der es sich in der ersten Reihe des Kirchengestühls gemütlich gemacht hatte. Entspannt saß er auf der Bank, ein Bein über das andere geschlagen und einen amüsierten Ausdruck im Gesicht.

»Also wirklich, Tabea. Hast du von deinem Betverein nicht gelernt, dass Lügen eine Sünde ist?«

Ihr Körper zitterte unkontrolliert. Fieberhaft suchte sie nach einem Ausweg, ihre Schwester unbeschadet zu befreien.

Anscheinend erwartete er keine Antwort, denn er redete einfach weiter: »Erzähl mir von deiner Affäre mit meinem Bruder.«

Tabea runzelte nachdenklich die Stirn. »Deinem Bruder?«

»Ja, meinem Bruder. Zane und ich sind – waren – eineiige Zwillinge. Ich will wissen, wer ihn ermordet hat. Warst du es? Hast du ihn hinterhältig erschlagen?«

Sie spürte förmlich, wie auch das letzte Bisschen Blut aus ihrem Körper wich. »Ich … ich … weiß nicht, wovon du redest«, stotterte sie.

Zanes Zwilling beugte sich vor. Seine Augen glühten im trüben Licht und wirkten wie die eines Dämons. »Oh doch, du weißt genau, was ich meine. Lüg mich nicht an, das macht alles nur noch schlimmer.«

»Wir hatten eine Affäre«, flüsterte Tabea erstickt und traute sich nicht in Jettes Richtung zu sehen. Sie könnte die Enttäuschung im Gesicht ihrer Schwester nicht ertragen.

»Das weiß ich bereits. Ich will das wissen, was du nicht aussprichst.« Der Mann stand auf, kam auf sie zu und ging in die Hocke. Er packte ihre Haare und zog den Kopf soweit in den Nacken, dass sie ihn anblicken musste. Ihre Kopfhaut prickelte unangenehm. Sein Griff war gnadenlos.

»Es gibt nichts anderes«, wimmerte Tabea schmerzerfüllt.

»Lügnerin!«, zischte er. Sein Blick huschte zu Jette. »Dann eben anders.«

Bevor Tabea reagieren konnte, hatte er sie losgelassen und stattdessen Jette gepackt. Tränen erfüllten die Augen ihrer kleinen Schwester.

»Bitte, tu ihr nichts«, flehte Tabea leise.

»Ich will die Wahrheit wissen und auf die eine oder andere Weise werde ich sie heute erfahren.« Zanes Bruder zückte ein Messer und hielt es Jette an den Hals, dabei verweilten seine kalten Augen auf Tabea. »Es liegt an dir.«

Tabea schluchzte und hob beschwichtigend die Hände. »Okay! Okay, ich … bitte, lass meine Schwester gehen. Ich erzähle dir alles, nur, ihr darf nichts passieren.«

Er ließ mit dem Messer von Jette ab. »Rede.«

Tabea strich sich mit schmutzig klebrigen Fingern über das Gesicht. Ihre Wunden brannten. »Zane und ich hatten ungefähr drei Monate lang eine Affäre. Aber …« Sie hielt inne und unterdrückte ein Schaudern, als sie an den Abend zurückdachte. Sie wollte nicht in die Vergangenheit reisen und das noch mal durchleben.

Der Mann hob warnend das Messer.

»Ich glaube, er war betrunken«, erzählte sie leise weiter, während Tränen ihre Wangen benetzten. »Ich wollte die Affäre beenden, aber er meinte, das würde er nicht zulassen und es meinem Mann erzählen. Wir gerieten in einen Streit.«

Tabea schluchzte und wischte sich mit dem Ärmel Tränen und Rotz aus dem Gesicht. »Er stieß mich auf das Sofa, sagte, das würde ich noch bereuen und riss mir die Hose herunter.« Sie griff sich an den Kopf. Die Erlebnisse holten sie ein. Zane lag auf ihr, presste gewaltsam ihre Beine auseinander und riss die Bluse entzwei.

Eine Ohrfeige holte Tabea zurück in die verlassene Kapelle. Verstört sah sie auf. 

»Weiter«, zischte der Mann ungeduldig.

»Ich kann nicht«, jammerte sie und zog die Beine an die Brust.

»Tabby«, murmelte Jette belegt. Sie richtete sich trotz gefesselter Hände halb auf und rutschte auf Knien zu ihr. Jette lehnte die Stirn gegen ihre. »Es tut mir so leid.«

»Genug jetzt«, knurrte Zanes Bruder und zog Jette grob zurück. »Rede weiter.«

»Ich kämpfte gegen ihn an, dabei hat er meine Hände losgelassen und da stand ein Blumentopf auf dem Tisch.« Tabea schloss die Augen, glaubte, wieder in dieser Nacht gefangen zu sein. Die bedrohliche Atmosphäre erdrückte sie beinahe. Die Erinnerung an den Geruch nach Alkohol und abgestandenem Zigarettenqualm drohte sie zu überwältigen. Die Angst, die von ihr Besitz ergriffen hatte und dieser kleine Funke Lebenswille, der sie zu einer Mörderin gemacht hatte. »Ich habe danach gegriffen und den Blumentopf gegen seine Schläfe geschlagen. Einmal, zweimal, immer wieder, bis er sich nicht mehr gerührt hat.«

Zanes Bruder stand vor ihr, packte ihren Arm und zog sie auf die Beine. Ihre Nasen berührten einander fast und sie konnte die dunklen Flecken in seinen grünen Augen erkennen. »Und dann? Was ist dann passiert?«

»Ich habe ihn liegen lassen. Den Blumentopf habe ich mitgenommen. Meine Spuren habe ich verwischt.« Tabea hob das Gesicht und sah dem Mann in die Augen. »Ich würde es wieder tun, wenn mein Leben auf dem Spiel stünde.«

Er stieß sie wieder zu Boden und marschierte unruhig auf und ab.

»Was hast du jetzt vor?«, fragte Jette zögerlich.

Tabea sah zu ihrer Schwester. »Alles, was in meiner Macht steht, um dich zu retten.«

Der Mann lachte hart auf und öffnete Jettes Fesseln. »Ich glaube nicht, dass sie mit dir gesprochen hat.«

Tabea blickte geschockt und gleichzeitig verwirrt zu ihrer Schwester. Was war das für ein krankes Spiel der beiden? Das war alles fingiert gewesen? Sie steckte mit ihm unter einer Decke?

»Du tust ihr nichts, oder?«, fragte Jette.

»Sei still«, warnte er zornig.

»Du hast es versprochen«, beharrte Jette, während Tabea ungläubig das Spektakel beobachtete.

»Halt endlich die Schnauze«, knurrte der Zwilling und gab Jette einen Schubs, dass sie beinahe gegen die kaputtgeschlagene Sitzbank gefallen wäre. »Oder warte, lass mich kurz nachdenken! Wie wäre es, wenn du deiner Schwester erklärst, woher die Bilder stammen?«

Tabeas Augen irrten zu Jette, die zusammengesunken vor der Bank hockte.

»Ich wusste von deiner Affäre«, gab ihre kleine Schwester kleinlaut zu. »Ich habe die Fotos von dir und Zane gemacht.«

»Aber wieso?«, hauchte Tabea verzweifelt.

»Simon ist ein wunderbarer Ehemann, der dich aufrichtig liebt und du hintergehst ihn so schändlich. Ich war neidisch, weil du immer alles bekommen hast, was du wolltest.« 

Tabea schüttelte fassungslos den Kopf. »Ist dir auch nur einmal in den Sinn gekommen, dass ich für alles, was ich erreicht habe, hart gearbeitet habe? Dass mir nichts einfach in den Schoß gefallen ist?«

Jette schüttelte mit bebenden Lippen den Kopf.

»Ich habe Fehler gemacht – stimmt. Für die büße ich jeden Tag. Aber hast du je daran gedacht, was du mit diesen Bildern für einen Schaden anrichtest?«

Jette blickte sie kläglich an. »Es tut mir so leid. Ich wusste doch nicht, wohin das alles führt.«

Der Mann kam jetzt bedrohlich auf Tabea zu. Die Klingenspitze zeigte genau auf ihre Kehle. »Und jetzt werde ich Rache für meinen Bruder nehmen.«

»Es war Notwehr!«, schrie sie verzweifelt.

»Bullshit! Zane war der netteste Kerl, den ich kannte. Du kannst dir also mein Entsetzen vorstellen, als ich den Anruf erhielt, jemand hätte ihn erschlagen.«

»Dein Bruder war ein mieser Vergewaltiger«, presste Tabea mutiger hervor, als sie sich fühlte. Was hatte sie schon zu verlieren?

»Lügnerin!«, zischte er abermals und holte mit dem Messer aus.

Tabea kniff die Augen zusammen und wartete auf den Stich und dem damit verbundenen Schmerz. Doch stattdessen hörte sie einen dumpfen Schlag und eine Sekunde später, wie etwas auf den Boden plumpste. Sie hob zaghaft die Lider. Jette stand mit weit aufgerissenen Augen vor ihr, ein Stück Holz von der Kirchenbank in der Hand. Tabea traute sich fast nicht auf den Boden zu blicken.

»Ist er tot?«, fragte Jette zittrig, während sie das Holz fallen ließ.

Tabea holte tief Luft. Sie musste stark sein – für ihre kleine Schwester und für das, was noch kommen mochte. Jeder machte Fehler und Schuldzuweisungen würden niemanden helfen. Sie ging in die Hocke und fühlte nach dem Puls. Schwach, aber vorhanden. Sie schüttelte den Kopf. »Er lebt noch.«

Auf dem Boden entdeckte sie ihre Handtasche und hob sie auf. Sie zog ihr Handy heraus.

»Was hast du vor?«

»Ich werde die Polizei rufen.«

»Nein!«

Tabea umarmte ihre kleine Schwester und strich ihr beruhigend über den Rücken. »Ich muss. Es ist das einzig Richtige und das hätte ich schon vor einem Jahr machen sollen.«

Ein Sonnenstrahl fiel durchs Fenster. Tabea sah auf. Hatte Gott sie doch nicht verlassen? War das sein Zeichen, dass sie jetzt das Richtige tat?

»Sie werden mich verhaften. Ich will nicht ins Gefängnis.« Jette weinte an ihrer Schulter und es brach Tabea das Herz.

»Es war Notwehr, dir wird nichts passieren.«

Sie ging vor die Tür und wählte den Notruf. Jette war ihr gefolgt und griff unterstützend nach ihrer Hand.

Zehn Minuten später war das verlassene Gebiet rund um die Kapelle von Blaulicht und Sirenen erfüllt.

 

 

 

 

8 thoughts on “Sündenmädchen

  1. Du baust ziemlich gut Spannung auf und den Ort dafür finde ich richtig gut gewählt. Eine gläubige Christin, die in einer verlassenen Kapelle ihre Sünden gesteht. Eine super Idee! Mir ging der Schluss allerdings etwas zu schnell und bei der Offenbarung, dass die Schwester da auch etwas mit zu tun hatte, hätte ich mir mehr Gefühlsbeschreibungen gewünscht, was aber sicher einfacher gewesen wäre, wenn es sich nicht um eine Kurzgeschichte handeln würde.
    Aber eine sehr interessante Idee!

  2. Wow. Die Geschichte war wirklich bis zum Ende durchweg spannend aufgebaut. Auch dein Einwand mit Trump hat sogar für einen angenehmen schmunzler sorgen können. 😀 ich finde auch, dass du sehr schöne Vergleiche verwendest, die den Lesefluss flowen lassen 🙂
    Dran bleiben!:)

  3. Eine tolle Kurzgeschichte die du dir da ausgedacht hast. Der Plot ist super gewählt und das interagieren der Schwestern sehr einfallsreich. Wer ist Gut, wer ist Böse? Who Knows?

    Mein Lieblingstext von dir :

    Ihr Haar verfing sich und die Zweige zerrten an ihr, wie die Situation an ihren Nerven.

    Richtig Klasse!

    LG Frank aka leonjoestick ( Der Ponyjäger)

  4. Ein guter Aufbau und ein flüssiger Stil, dem ich gut folgen konnte. Auch der Schluss hat mir gut gefallen, gerade, dass sich alles doch „vernünftig“ und ohne noch mehr Blutvergießen gelöst hat.
    Das Bibelzitat am Anfang hat mich schmunzeln lassen – aber nur weil Bibelverse in meiner Geschichte ebenfalls eine nicht unbedeutende Rolle spielen, die im Klostermillieu spielt.

    Ein kleiner Logikfehler ist mir aufgefallen: Tabea sagt ihrem Mann, sie wolle noch zu ihrer Schwester Jette „fahren“. Anschließend wirkt es von der Erzählweise her, vor allem mit Dickicht und Waldweg, als gehe sie komplett zu Fuß, trotz der Zeitknappheit.

    Schön könnte man vielleicht noch erweitern, indem man den Mann in der Kapelle mit amerikanischen Akzent reden lässt. Sowohl Zane als auch sein Bruder werden einen solchen gehabt haben, wenn sie erst zu Trumps Zeiten nach Deutschland gekommen sind. Es wird kurz angedeutet, dass Trump nicht der eigentliche Grund für die Übersiedelung war, aber dann nicht weiter darauf eingegangen. Der Themenbereich könnte zusätzliche Spannung reinbringen. Gab es möglicherweise in den Staaten schon Probleme mit dem Gesetz, möglicherweise wegen Sexualdelikten?

    Alles in allem eine runde, spannende Erzählung, die mein „Like“ sicher hat.

    1. Vielen Dank für deine Rückmeldung. Es freut mich, dass meine Geschichte dir gefallen hat. Stimmt, den Akzent hätte ich noch einbauen können, aber der Grund der Übersiedelung hätte den Rahmen gesprengt. Autsch, der Logikfehler ist mir trotz gefühlten tausend Mal lesen nie aufgefallen. 🙂 danke für den Hinweis.

Schreibe einen Kommentar