flo1984Novembernacht

Novembernacht

ein Thriller von Florian Eberle

»Was in Dreiteufelsnamen…« Martin Baumann strich sich durch seine verschwitzen hellblonden Haare.

Es war ein warmer Freitag Nachmittag im April, er war gerade im Park Joggen, wie jeden Freitag zu dieser Uhrzeit, als er eine kurze Pause an einer Parkbank machte und mit seinen Dehnübungen begann.

Martin nahm sein blaues Frottee Handtuch um den Schweiß von seiner Stirn zu wischen, setzte sich auf die grün gestrichene Bank und sah neben sich ein herrenloses Smartphone liegen. Er schaute sich kurz um, es war jedoch Niemand zu sehen. »Einen kurzen Blick kann ich ja mal hineinwerfen«, grinste er.

Er schaltet das Smartphone ein, es war ungesichert, keine Passwort Eingabe nötig. Martin schaute in die Kontaktliste, evtl. war der Besitzer ja so auszumachen – Fehlanzeige, es waren keinerlei Nummer abgespeichert. Er schaute nochmal kurz auf, wandte aber dann gleich wieder den Blick nach unten. Jetzt war der Ordner mit den Bildern dran.

Eine Person die Einkaufstüten schleppte, auf dem nächsten Bild war ein Paar zu sehen, dass sich umarmte, danach ein Kind – Moment, es war er, es waren alles Bilder auf denen Martin Baumann abgebildet war.

Wie konnte das sein, wer hat die Bilder gemacht und warum lag genau dieses Handy hier auf dieser Parkbank? Martins stahlblaue Augen wurden immer größer, er strich sich über seine Narbe am Kinn, die er sich in Jugendtagen bei einem Kampf mit einem gleichaltrigen Jungen zugezogen hatte und die für immer sein Gesicht zieren sollte.

Er blätterte die Bilder hektisch durch, ein Bild von ihm mit seinem neunjährigen Sohn Torben beim Basketball spielen im Hof neben seinem Haus. Ein Bild auf dem er mit Torben und seiner Ehefrau Sybille am Abendtisch sitzt. Insgesamt befanden sich 25 Bilder auf dem Smartphone, auf allen Bildern war Martin zu sehen.

»Welches kranke Hirn macht Bilder von mir« fluchte er erregt. Außer den Bildern war nichts weiter auf dem Smartphone zu finden. »Das nehme ich mit und gehe Morgen damit zur Polizei« schnaubte er.

Martin nahm das Smartphone und steckte es in die Hosentasche seiner schwarzen Jogginghose. Er stand auf, dehnte sich nochmal und ging in Richtung seines Zuhauses. Auf dem Weg dorthin grübelte er ewig nach, was das alles zu bedeuten hat. Ein Perverser der ihn ausspionierte? Ein Streich? Aber von wem?

Die Gedanken kreisten während des Heimweges um das gefundene Smartphone und die vielen Bilder.

Plötzlich klingelte sein Handy – es war seine zwei Jahre jüngere Schwester Elke. Sie wollte sich erkundigen, weil Torben doch bald Geburtstag hatte, was man dem Jungen denn schenken könne. Die Kinder von heute haben ja bereits in frühen Jahren schon so ziemlich alles. Sollte er seiner Schwester das mit dem ominösen Smartphone erzählen? Lieber erst morgen, wenn es sich vielleicht aufgeklärt hat, was da gespielt wird. Sie wollten am kommenden Tag nochmal telefonieren, Martin musste nochmal Torben befragen, welche Wünsche er denn habe. Er freute sich riesig über den Anruf von Elke, da sie schon längere Zeit keine Telefonate mehr geführt hatten. Er liebte seine Schwester über alles. Martin und Elke waren früher immer gemeinsam unterwegs, in Kindertagen, sowie dann auch im Jugendalter. Als Erwachsene sahen sie sich dann auch mindestens einmal wöchentlich.

Er steckte das Handy wieder ein und ging weiter seines Weges.

Daheim angekommen, es war ein nettes kleines aber sehr schönes Haus, mit großem Garten in einer ruhigen Gegend, dachte er sich, das Ganze erst mal für sich zu behalten um seiner Familie nicht unnötig Sorgen zu machen. Vielleicht klärt sich ja alles am morgigen Tag auf, nachdem er bei der Polizei war.

Als er das Haus betrat stand schon Sybille, seine Frau, da und strahlte ihn mit ihren grünen Augen an. Sie sah etwas verschwitzt aus, roch aber trotzdem angenehm nach ihrem Parfum – ein dezenter Duft nach frischen Rosen. Ihre geschmeidige Haut glitzerte. Sie strich sich mit der linken Hand durch ihre gepflegten braunen schulterlangen Haare und leckte sich die Finger ihrer rechten Hand ab, sie hatte gerade eben einen leckeren Apfelkuchen gebacken. Nein, er wollte das mit den Bildern weiterhin für sich behalten, so tun, als ob nichts vorgefallen wäre.

Martin war auf dem grauen Sofa eingeschlafen, es war bereits kurz vor Mitternacht, Sybille war schon im Bett. Der Vollmond war direkt vor dem Fenster und erhellte den ganzen Raum. Ein kurzes bimmeln ließ ihn aufschrecken, es war sein Handy – nein, es war das Smartphone, welches er auf der Parkbank gefunden hatte und mittlerweile in seiner Jeanshose verstaut war. Neugierig fischte er es aus seiner Hosentasche heraus, es war eine Kurznachricht.

»Ich werde dich und deine Familie vernichten, für all das Leid und den Schmerz den du mir zugefügt hast, Martin Baumann! Du wirst leiden, so wie ich all die Jahre gelitten habe!«

Er ließ das Smartphone vor Schreck auf den Boden fallen, ein kalter Angstschweiß lief über seine Stirn, hinunter zur Narbe am Kinn. Er musste tief nach Luft schnappen, wollte doch lieber gleich die Polizei anrufen. Es bimmelte erneut.

»Ich beobachte dich Martin Baumann, ich weiß alles über dich. Wo du arbeitest, welche Zeitschriften du liest, welchen Wein du trinkst, einfach alles! Ich weiß auch, wo dein Sohn zur Schule geht, mit wem er sich trifft und vor allem mit wem sich deine Frau so trifft«

Ihm stockte der Atem – ein erneutes bimmeln: »Ich kann jeden deiner Schritte sehen, du bist mir vollkommen ausgeliefert Martin Baumann!« Martin wollte soeben auf die Nachrichten eine Antwort abschicken, als es nochmals bimmelte und eine erneute Kurznachricht hereinkam: »Und wenn du denkst du kannst zur Polizei gehen, dann denke mal scharf nach, was am 30. November vor genau 10 Jahren war, du hast sie umgebracht du Mörder!«

Es war totenstill im ganzen Haus, Martin vernahm nur das immer lauter werdende pulsieren seines Herzens, sein Kopf begann zu pochen, sein Atem wurde immer schneller und schneller. Kalter Schweiß, die Narbe brannte, ihm wurde schwindelig.

Es fiel wie ein Schleier, die Bilder wurden immer klarer.

Es war der 30. November. Martin war von einer Firmenfeier seiner Bank, in der er als Bankkaufmann arbeitete, auf dem Nachhauseweg. Es war eine feucht fröhliche Feier bei der auch das ein oder andere Bier und jede Menge Schnaps getrunken wurde. Auch Martin hatte zu tief ins Glas geschaut. »Das geht schon noch, ich kann noch fahren«, dachte er sich.

Dann passierte es auf einer dunklen Landstraße, die Nebelschwaden zogen über die Felder und Wiesen. Ein lauter Knall, eine Vollbremsung, das Auto drehte sich einmal um die eigene Achse und kam kurze Zeit später zum Stillstand. Seine Stirn blutete vom Aufprall auf das Lenkrad. »Meine Fresse, was war das.« Martin stieg aus, »Nur der Vordere Kotflügel ein Glück, wo ist nun das verdammte Reh?« Er ging einige Schritte weiter da lag sie, tot. Ein junges Mädchen, schwarz gekleidet. Kaum zu erkennen bei diesen Lichtverhältnissen.

Martin verschwand ohne den Notarzt oder die Polizei zu verständigen.

In den kommenden Wochen meldete er sich krank, er trank den ganzen Tag, nahm die verschiedensten Tabletten. Eine Flasche Korn zum Frühstück, hier eine Tablette, da eine Tablette, Wodka und Bier zum Mittag. Meistens schaffte er es gar nicht mehr bis Abend wach zu bleiben.

Dann ein paar Wochen später, beim Schnaps kaufen, lernte er Sybille kennen. Die leuchtend Grünen Augen, die braunen langen Haare – ein Traum. Sie verliebten sich im ersten Augenblick. Martin hörte ab sofort mit dem Alkohol und den Tabletten auf, sie heirateten, bekamen Torben, zogen in ein schickes kleines Häuschen am Stadtrand und Martin verdrängte die Tat aus jener Novembernacht. Er löschte sie aus seinem Gedächtnis.

Wie konnte er so etwas nur verdrängen? Er hatte sich unbewusst eine komplett neue Identität und Realität erschaffen. Nun kam alles Verdrängte wieder zum Vorschein.

Martin rannte ins Badezimmer, er musste sich heftigst übergeben. Die komplette Kloschüssel, der Teppich davor und teilweise die Gardinen am Fenster waren mit Erbrochenem übersät. Es stank ekelerregend. »Mein Gott, was habe ich nur getan!« er heulte. Er musste erneut würgen und sich übergeben.

»Was ist denn hier passiert Martin?« Sybille stand kreischend vor der Badezimmertür: »Geht es dir nicht gut, Martin? Um Himmelswillen du hast ja alles vollgesaut!« Martin hob den Kopf: »Ich muss mir wohl was eingefangen haben und die viele Sonne heute beim Joggen war auch nicht gut, ich glaube ich habe mich übernommen! Bitte geh wieder ins Bett Schatz, ich mach das alles sauber und Morgen ist wieder alles in Ordnung.»

Sybille schüttelte den Kopf und meinte nur »Wenn das Morgen nicht sauber ist, kriege ich die Krise, du schläfst heute auf dem Sofa, du stinkst. Gute Nacht.«

Tatsächlich schaffte Martin es noch alles zu säubern und die Gardinen sowie den vollgekotzen Badteppich in die Waschmaschine zu werfen.

Ein Lichtstrahl fiel durch das Fenster, langsam machte er die Augen auf. Er gähnte und streckte sich, ein schöner Samstag Morgen – nein, kein schöner Morgen. Nun kam er ganz zu sich, sein Leben war nicht mehr das Alte. Er hatte eine furchtbare Tat begangen. Martin musste alle Spuren verwischen, schnell das Smartphone im nächstgelegenen Fluss entsorgen. Und dann, ja vielleicht würde dann alles im Sande verlaufen und er könnte sein altes Leben fortführen.

Ohne eine Sekunde zu zögern sprang er auf, nahm er sein bereits schon in die Jahre gekommenes Fahrrad, das an der Garage lehnte, und fuhr los. Die Vögel zwitscherten ein Lied, die Sonne strahlte und der Himmel war wolkenlos. All das interessierte Martin aber zum jetzigen Zeitpunkt nicht. Schnellstmöglich radelte er die Straße entlang zum Fluss, der keinen ganzen Kilometer von Martins Haus entfernt war, schaute sich dreimal um, nahm das Smartphone und schleuderte es in in den Fluss hinein. Es ging unter.

»Sie sind auch nicht mehr ganz sauber!«, zischte eine ältere Frau, die ihn beobachtet hatte und lief kopfschüttelnd davon. Auch egal, dachte sich Martin, Hauptsache das Ding ist weg.

Er fuhr wieder nach Hause, diesmal aber mit einer Erleichterung. Trotzdem schwirrten ihm noch jede Menge Gedanken durch den Kopf, seine Familie dürfte das niemals erfahren, niemals!

Er steckte den Schlüssel in die Haustüre, aber bevor er ihn umdrehen konnte, stand schon der kleine Torben da, der seinem Vater öffnete. »Martin, machst du mit mir meine Hausaufgaben?« grinste er »Nein, ich mache nicht deine beschissenen Hausaufgaben und nenn mich nicht immer Martin, ich heiße Papa, Vater oder Dad, merk dir das endlich mal!«, brüllte er seinen Sohn an.

»Was ist denn hier los, was schreist du Torben denn so an, wo warst du überhaupt so früh schon, vor dem Frühstück? Und tu mir einen Gefallen und zieh dich um, du stinkst immer noch nach Kotze!« fauchte Sybille. »Ich musste an die frische Luft und jetzt lasst mich bitte in Ruhe!« erwiderte er.

Martin verzog sich in sein Arbeitszimmer.

Gut, das Smartphone war entsorgt, aber wer wusste von dem damaligen tragischen Unfall vor 10 Jahren, wer hatte wissen können, dass er, Martin Baumann, dafür verantwortlich war und warum meldete sich Derjenige erst nach 10 Jahren? Er erinnerte sich zurück, es kam ihm auf der ganzen Fahrt definitiv kein Auto entgegen, oder war hinter ihm, es konnte gar niemand wissen. Es kann nicht sein. Selbst seine Kollegen dachten damals er würde im Hotel übernachten und am nächsten Tag nach Hause fahren. Ihn hatte niemals irgendjemand mit dem Unfall in Verbindung gebracht. Er öffnete das kleine hölzerne Schränkchen über seinem Schreibtisch und zog eine Flasche Korn hervor. Er nahm einen kräftigen Schluck direkt aus der Flasche. Der Alkohol rauschte die trockene Kehle hinunter. Gleich noch einen zweiten hinterher. Er suchte stundenlang im Internet über den damaligen Unfall, aber er konnte nichts, aber auch rein gar nichts finden.

Mittlerweile war es Nachmittag, als plötzlich die Türe in seinem Arbeitszimmer aufsprang.

»Martin, Schatz, Torben ist verschwunden, er war die ganze Zeit im Garten, ich hab schon alles abgesucht!«, rief Sybille aufgeregt und fuchtelte wild mit den Händen herum.

Ohne einen Gedanken zu verschwenden sprang Martin vom Ledersessel auf und eilte hinunter in den Garten: »Torben, Tooorbeeen, wo bist du? Tooorbeeen?«

Martin bekam es mit der Angst zu tun, waren die Drohungen doch war? Hatte man ihm seinen Sohn entführt? »Ich rufe jetzt die Polizei!«, schluchzte Sybille. »Nein, keine Polizei, wir suchen weiter!«, entgegnete Martin seiner Frau. Sie rannten beide zur Straße, da kam gerade Torben um die Ecke gerannt. »Was machst du denn für Sachen? Wir haben dir doch gesagt, du sollst das Grundstück nicht alleine verlassen, bei all dem was man heute so liest und hört.«, sagte Sybille erleichtert. Auch Martin fiel ein Stein vom Herzen.

»Ich bin nur der Katze hinterher, Entschuldigung.« sagte Torben.

In diesem Moment brummte Martins Smartphone – eine SMS.

»Auch das Handy in den Fluss werfen wird dir nicht helfen, Martin Baumann, ich beobachte dich genau, ich kenne jeden deiner Schritte.« Martin wurde kreidebleich. »Was ist denn nun schon wieder passiert Schatz, du siehst aus, als hättest du den Tod gesehen!«, seufzte seine Frau. »Nichts! Alles ist gut! Ich muss nur kurz weg, habe gestern was wichtiges in der Bank vergessen, muss da unbedingt dieses Wochenende nochmal drüberschauen, mein Chef killt mich sonst am Montag.«, erwiderte er. »Martin, was stimmt mit dir nicht, gestern Nacht die Kotzorgie im Badezimmer, heute morgen ohne Frühstück raus und jetzt bekommst du eine ominöse Nachricht, die angeblich von deinem Chef sein soll, du lügst mich an!«

Gerade als Martin los wollte, ging ein älteres Ehepaar an Baumanns Haus vorbei. »Schau mal Erich, das ist der Verrückte, der sein Telefon in den Fluss geworfen hat!«, sagte die ältere Frau abwertend. »Martin?!« Sybille schaute Martin fragend und vorwurfsvoll an. Ohne eine Antwort zu geben, ließ er Sybille und Torben auf der Straße stehen, stieg in seinen schwarzen Mercedes und raste davon.

Er wusste nicht wohin, nur weg. Nur überlegen wie es weitergeht. Wer war es, der ihm drohte, der von seinem dunklen Geheimnis wusste? Er musste die Person finden und dann zum Schweigen bringen. Er war ja schließlich ein Mann des Geldes und jeder Mensch ist kaufbar, die Summe ist nur immer eine Andere.

Mittlerweile verschwand langsam die Sonne und der Mond wurde sichtbar. Martin war immer noch mit seinem Auto unterwegs, irrte herum. Plötzlich, ein lauter Knall, Vollbremsung – er stieg aus, sein Atem wurde schneller, sein Blut begann in seinen Adern zu Kochen, seine Narbe fing an zu brennen. Ein Mädchen, schwarz bekleidet – tot. Er bückte sich zu ihr hinunter, drehte sie um: »Was? Eine Puppe?« Martin war entsetzt und erleichtert zugleich. Gerade als er aufstehen wollte, spürte er einen heftigen Schlag gegen den Hinterkopf, ihm wurde schwarz vor Augen, er sank zu Boden.

Ein Summen und Surren, sein Schädel brummte wie nach einer heftig durchzechten Nacht. Er begann langsam die Augen zu öffnen. Er saß auf einem Stuhl, seine Hände waren hinter seinem Rücken mit Handschellen gefesselt. Seine Füße waren an alte verrostete Eisenketten gebunden, die in einer Verankerung im Boden verschwanden. Der Raum war dunkel, er konnte so gut wie nichts erkennen. Er hob seinen Kopf nach oben, über ihm war ein Monitor an der Decke aufgehängt. Ein Film? Nein, es war sein Wohnzimmer! Er konnte Sybille und Torben sehen, die gerade auf dem Sofa saßen. Sie sahen traurig aus. Torben weinte.

Knarrend und jauchzend ging in diesem Moment eine schwere Türe vor Martin auf. Nun fiel ein klein wenig Licht in den dunklen Raum. Er konnte schemenhaft eine Gestalt erkennen, die sich gegen den Türrahmen lehnte.

»Wer bist du«, fragte Martin ängstlich. »Was hast du mit mir vor?« Die Gestalt betrat den Raum. »Ich bin dein schlimmster Alptraum, Martin Baumann. Du kennst mich nicht. Aber ich kenne dich, ganz genau sogar! Mein Name ist Thomas Rieger, na klingelt da was?« Der junge Mann, der Anfang 20 sein musste, trat näher an Martin heran. Er hatte eine kränkliche bleiche Haut und war auch eher von schmächtiger Statur. Die braunen Haare hatte er zu einem kleinen Pferdeschwanz zusammengebunden. Die Jeans und das rot-schwarz karierte Holzfällerhemd waren dreckig. Martin zerrte mit seinen Füßen an den rostigen Ketten. »Ich weis nicht wer du bist!« Der junge Mann trat noch näher an Martin heran. »RIEGER, du Schwein! Du hast meine Schwester auf dem Gewissen, du hast sie einfach tot gefahren und hast dich dann verpisst ohne ihr zu helfen, ohne die Polizei zu rufen, ohne auch einfach nur zu schauen, ob ihr Herz noch schlägt!«

Der Mann holte aus seiner hinteren Hosentasche ein kleines Metallrohr hervor und schlug es mit voller Wucht in Martins Gesicht. Martin schrie, es spritze einiges an Blut aus seinem Mund, zwei Zähne vielen auf den dreckigen Holzboden. Solche Schmerzen hatte er noch nie erleben, solch eine Angst noch nie erleiden müssen. Martin nässte sich ein. Wie ein Häufchen Elend saß er eingenässt, blutig und wimmernd auf dem alten Stuhl.

»Du hast gedacht, dich hat Niemand gesehen, ich habe dich aber gesehen! Ich war zusammen mit meiner Schwester auf dem Nachhauseweg von unseren Großeltern, als du uns beide plötzlich mit deinem Wagen umgefahren hast, ich lag im Graben, du hast mich nicht bemerkt. Als du zu meiner Schwester hingelaufen bist, habe ich dein Gesicht gesehen, deine Narbe auf deinem Kinn!« Der Mann holte noch einmal mit dem Rohr aus und schlug damit auf Martins linke Kniescheibe. Es krachte, Martin schrie vor schmerzen auf. Seine Kniescheibe war zertrümmert.

«Sie war erst 17 und hatte noch ihr ganzes Leben vor sich du mieses Stück Scheiße!« Nun zog er eine Zange aus seiner Hemdtasche. Er nahm Martins rechten Ringfinger, setzte die Zange an und zwickte zu. Der Finger brach. Es tat höllisch weh, Martin krümmte sich vor schmerzen.

»Nach dem Tod meiner Schwester wurde mein Vater in eine Fachklinik für psychisch kranke eingeliefert, er hat sich dort in seiner Zelle mit einem Bettlaken erhängt. Meine Mutter verabreichte sich und mir Schlaftabletten, sie starb, ich wurde gerettet. Ich habe meine ganze Kindheit und Jugend im Kinderheim verbracht. Jeder Tag war die Hölle für mich, jeden Tag die immer wiederkehrenden Träume« Er holte kurz Luft. »Aber aus mir wurde schließlich doch noch was, ich habe mein Abitur gemacht und Informatik studiert. Dich und dein Gesicht habe ich jedoch niemals vergessen! Bis ich vor ein paar Wochen einen Zeitungsbericht, über die Bank in der du arbeitest, gelesen habe und da habe ich dich erkannt! Dein Gesicht, deine Narbe! Du warst es Martin Baumann, wie lange habe ich auf diesen Moment gewartet dich endlich zu finden und dich und deine Familie zu zerstören! Für all die Jahre meines Leidens, für all die Jahre in der meine Schwester und meine Eltern nun schon tot sind.«

Er holte eine Fernbedienung hervor. »Achja, du fragst dich sicherlich, wieso dort oben im Fernseher dein Wohnzimmer zu sehen ist? Ich habe mich in all deine Geräte eingehackt, alles angezapft und deine Komplette Wohnung verwanzt. Die Bilder die du dort siehst, sind übrigens schon vor Stunden gewesen. Deine Frau, Sybille und deinen kleinen Torben habe ich längst hier in meiner Gewalt.« Martin begann zu weinen. Das Blut hatte mittlerweile sein ganzes Hemd getränkt.

»Dein Haus habe ich verwanzt, als ich mal wieder deine Ehefrau gefickt habe. War gar nicht so schwer sie zu verführen. Die dumme Kuh hat sich doch tatsächlich in mich verliebt.«, grinste er teuflisch und fuhr fort. »Ich habe sie seit Wochen jeden gottverdammten Tag gefickt, als der dumme kleine Martin Baumann in seiner Bank den Kunden in den Arsch gekrochen ist und ihnen sinnlose Bausparverträge aufgeschwatzt hat. Und Martin, weißt du was? Sie hat es genossen! Sie hat vor Lust geschrien wie am Spieß als ich in ihr kam. Ich habe alles auf Video, kannst es dir gerne anschauen.« Er lachte höhnisch. Martin wollte das alles nicht glauben, innerhalb von wenigen Stunden ist sein Leben zum Vorhof der Hölle mutiert. Martin bekam kein Wort mehr heraus, er saß nur noch wimmernd und schluchzend da.

»Der einzig Unschuldige in unserem Spiel, Martin, das ist dein Sohn Torben. Wobei meine Schwester auch unschuldig war…«, er überlegte kurz. »Wärst du damit einverstanden, Martin, dass ich deinen Sohn verschone? Ich werde nur dich und dein dummes Eheweib töten, dann kann der kleine Torben ein würdevolles Leben im Kinderheim verbringen. Ohne euch beiden verdorbenen Gestalten!« Er schaute Martin erwartungsvoll und grinsend an. »Ich fragte dich, wärst du damit einverstanden?«, er holte mit dem Rohr aus. »Ja, einverstanden«, röchelte Martin. »Oder lass uns das Ganze noch etwas interessanter gestalten. Du wirst deiner Frau mit der Axt den Schädel spalten. Ja so gefällt mir das Spiel«, mit einem schallenden Lachen verließ er den Raum. Die Schwere Tür knarrte und der Raum war wieder in Dunkelheit gehüllt. Er musste entkommen, er musste weg hier, egal wie beschissen sein Leben doch, mit all dem was er jetzt wusste, war.

Seine Augenlider wurden schwer, sein Atem verlangsamte sich, der Puls wurde wieder ruhiger und Martin schlief ein.

Ein Geräusch, Martin war wieder hellwach. Nur eine Maus die von einer Ecke zur anderen gerannt war. Er hatte immer noch höllische Kopfschmerzen, sein Knie war angeschwollen und pochte. Der gebrochene Finger schmerzte. Er riss an den Handschellen, versuchte irgendwie mit seinen Händen herauszukommen. Vergebens. Die Ketten, die an seinen Beinen hingen, aus den Verankerungen am Boden zu reißen, war ebenso keine Alternative. Er war diesem Rieger ausgeliefert, er hatte keinerlei Chance zu entkommen.

Die schwere Türe wurde wieder aufgestoßen, Rieger lief ohne einen Kommentar, ohne nur mit einer Wimper zu zucken, auf Martin zu. Nahm einen Schlüssel aus der Hosentasche, machte die Ketten von den Beinen, schloss mit einem weiteren Schlüssel Martins Handschellen auf. »Da du sowieso nur noch ein Häufchen Elend bist, mache ich dich frei. Wir sind am Spielende angelangt, Spielziel ist es, dass du mit der Axt, die im nächsten Raum auf dem Tisch liegt, deiner Ehefrau die Rübe runterhaust. Deine Frau sitzt ebenso in dem Raum, Sie hat einen Jutesack über dem Kopf, damit sie dir nicht mehr in die Augen schauen muss, ich hab ihr nämlich erzählt, dass du alles über uns weist«, er lachte. »Wo ist Torben?«, entgegnete ihm Martin entkräftet. »An einem sicheren Ort, ihm wird nichts passieren, ich bin ja kein Unmensch, im Gegensatz zu dir, Martin Baumann«, grunzte er. »Wir sind hier unter einem Haus, in einem alten Luftschutzkeller, du kannst es also vergessen abzuhauen. So, ich werde nun nach oben gehen und mir das ganze Spektakel am Bildschirm ansehen, du bist dran Martin, mach was draus und lass dir nicht zulange Zeit!«

Rieger verließ den Raum, diesmal ohne die Türe zu verschließen. Man hörte ihn eine Metalltreppe nach oben laufen. Eine Stahltüre wurde zugeworfen.

Martin lief durch den Raum, in dem er gefesselt war, bis zum nächsten Raum. Sein Bein zog er hinterher. Selbst wenn er fliehen wollte, allein schon wegen der zertrümmerten Kniescheibe hätte er nicht die geringste Chance gehabt. Er war total entkräftet.

Im nächsten Raum hing eine Glühbirne von der Decke herab, die den Raum etwas ausleuchtete. Links von ihm ging die Metalltreppe nach oben, auf der Rieger vor wenigen Minuten verschwand. Vor ihm stand ein alter, schäbiger Holztisch, auf dem die besagte Axt lag. Hinter dem Tisch, fast schon am anderen Ende des Raumes saß eine Person, beide Hände auf dem Rücken gefesselt, die Füße waren, genauso wie bei Martin, mit schweren Ketten, die im Boden verankert waren festgebunden. Die Person hatte einen braunen Jutesack auf dem Kopf. »Reichseigentum« war auf dem Sack zu lesen. Hose, wenn auch sehr verschmiert mit irgendwelchen undefinierbaren Flüssigkeiten, die Schuhe und Jacke, alles deutete tatsächlich darauf hin, dass es seine Frau war, die dort saß. Sie machte allerdings keinen mucks. Martin fragte leise, »Sybille, bist du das?«

Keine Reaktion, weder ein Wort, noch ein Kopfnicken. Er stupste Sie mit dem Stiel der Axt an. Plötzlich ein wildes zappeln, ein undefinierbares Geräusch trat unter dem Sack hervor, so als ob Jemand versuche zu reden. Höchstwahrscheinlich wurde ihr ein Knebel in den Mund gesteckt. Martin legte die Axt zur Seite, nahm beide Hände und wollte den Sack lösen um so ihr Gesicht zu befreien. »So geht das Spiel nicht, schummeln ist nicht erlaubt. Lass den Sack über ihrem, naja, Gesicht, oder was davon noch übrig ist. Mach dir keine Mühe, ich hab ihr die Zunge rausgeschnitten, sie kann dir nicht mehr antworten.«, schallte es aus einem Lautsprecher an der Decke. »Schatz, es tut mir leid«, schluchzend nahm Martin die Axt, hob sie nach oben, machte die Augen zu. Vor seinem geistigen Auge stellte er sich noch einmal vor, wie seine Frau mit diesem schmächtigen Typen in ihrem Ehebett den Akt vollzog.

Das Blut spritze ihm ins Gesicht, als er ihr den Schädel mit einem festen Hieb spaltete.

Der Eisengeschmack des roten Saftes gab ihm den Rest, er musste sich übergeben und sackte entkräftet zu Boden.

Er dachte er sei schon tot, doch er wachte wieder auf. Die Türe oberhalb der Metalltreppe stand offen. Martin schleppte sich nach oben, er schaute nach links und rechts, es war niemand zu sehen. Es war ein altes Haus, überall Spinnweben und Schimmel an den Wänden. Es roch modrig. Es sah so aus, als ob in diesem Haus schon Jahrzehnte keiner mehr gewohnt hatte. Martin irrte durch das ganze Haus, Torben war nicht auffindbar.

Nun lief er einen langen Gang mit einer äußerst hässlichen alten Tapete, die in ihm ein seltsames Unwohlsein auslöste, entlang. Diese stammte wohl noch aus den 50ger oder 60ger Jahren. Dann eine Tür nach draußen. Er hatte es geschafft. Er öffnete sie. Die Nacht wich dem Morgen, die ersten Vogelstimmen waren bereits zu hören. Martin schleppte sich durch einen verwucherten Garten, bis zum Ende des Grundstücks. Dort stand tatsächlich sein Mercedes. Sogar die Schlüssel steckten. Durchnässt von Urin und Blut setzte er sich auf die feinen gepflegten Ledersitze. Er fuhr los, zwar schwierig mit dem kaputten Fuß, aber es ging irgendwie. Ersteinmal musste er sich orientieren, einen Weg zu seinem Haus finden, alles Bargeld und Klamotten zusammenpacken und dann weg ins Ausland. Doch wo war Torben?

Die ersten Sonnenstrahlen waren zu sehen, als Martin an seinem Haus ankam. Er stellte das Auto in die Hofeinfahrt, lief zur Haustür, suchte den Schlüssel heraus und sperrte auf.

»Martin, wo warst du solange, Torben und ich haben uns solche Sorgen gemacht, wir waren de ganze Nacht über wach, Torben hat nicht mehr aufgehört zu weinen.« Entsetzt über Martins Erscheinungsbild stotterte Sybille. »Was, was ist mit dir passiert? Geht es dir gut?«

Martins stahlblaue Augen waren aufgerissen, er brachte keinen Ton heraus. In diesem Moment hörte man die Reifen von mehreren Autos quietschen. Mehrere Autotüren wurden fast zeitgleich geöffnet.

»Baumann, kommen Sie mit erhobenen Händen raus! Wir haben das Haus umstellt.«

Der junge Pfleger eilte dem älteren Arzt mit dem weißen Kittel den langen kargen Flur hinterher. An der Decke hingen Leuchtstoffröhren, rechts und links des Ganges befanden sich Stahltüren. Der Arzt blieb stehen, schaute auf eine Liste und drehte sich nach rechts zu der einer der Türen hin. »Hier haben wir einen ganz schlimmen Fall, das ist der Schlächter von Neudorf.« Der Arzt öffnete eine kleine Luke in der man in die spartanisch eingerichtete Zelle hineinschauen konnte. Der Mann in der Zelle lag fixiert auf einem Bett. Der Pfleger entgegnete: »Vor dem haben mich meine anderen Kollegen auch schon vorgewarnt, der hatte doch seine Schwester fürchterlich zugerichtet und ihr den Kopf mit einer Axt zertrümmert! Wie lange liegt er nun schon hier?« »20 Jahre in etwa und keinerlei Besserung in Sicht. Er selbst hatte damals auch einige Verletzungen, wir gehen davon aus, dass er sich diese selber zugefügt haben muss um alle in die Irre zu führen. Er ist schwerst gestört und wird vermutlich sein ganzes restliches Leben hier verbringen. Alles was er sagt und jemals gesagt hat ist der Name „Thomas Rieger“. Ich weis nicht, was er uns damit sagen will.« Fragend schaute der Pfleger den Arzt an: »Weis man denn wer dieser Thomas Rieger war?« Der Arzt rückte seine eckige Brille zurecht. »Ja, das schon, es war ein kleiner Junge, der bei einem schrecklichen Unfall vor über 30 Jahren mit seiner Schwester starb.«

Ende

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