emmakosmallaDie Schleife

 

Die Schleife

 

 

 

Heftig! Er hat sich also einfach aus dem Staub gemacht und sich nicht mehr gemeldet?“, fragte die Frau fassungslos.

 

Niemals.“

 

Der Regen prasselte so laut auf das Dach des Kindergartens, als wolle er dringend widersprechen und müsse sich Gehör verschaffen.

 

Aber das eigene Kind so im Stich zu lassen, und dich auch… So ein Schwein!“

 

Schwein!“, quietschte die kleine Millie begeistert, sie wusste nicht, worüber sich ihre Mutter mit der ihrer Freundin unterhielt und wenn sie es gewusst hätte, dann hätte sie es nicht verstanden. Noch kannte sie das Konzept von Lügen nicht.

 

Sie zupfte ihrer Mutter Giulia aufgeregt am Rock, für den es eigentlich schon viel zu kalt war, während diese nach der Tasche ihrer Tochter griff und sich verabschiedete.

 

Während der gesamten Auofahrt erzählte Millie ihrer Mutter voller Inbrunst, wie toll die anderen Kinder die neue Schleife gefunden hatten, die sie heute im Haar hatte. Der violette Stoff passte gut zu Millies blondem Schopf und als Giulia ihre Tochter im Rückspiegel betrachtete, dachte sie darüber nach, wie wenig sie in diese Welt passte. In ihrer Jugend und auch danach hatte sie nie Kinder gewollt, doch manchmal wurde ihr im Leben keine Wahl gelassen.

 

Ein namenloser Nachbar hob im Vorbeigehen die Hand, sonst gab es für Millie im Treppenhaus heute kaum etwas neues zu entdecken. So viele Menschen lebten in dieser Stadt und doch kannten sie kaum jemanden und wurden kaum gekannt, niemand wusste wirklich Bescheid über Giulia Anders und ihre kleine Tochter im vierten Stock.

 

Millie war bereits zum Spielen in ihrem Zimmer verschwunden, als Giulia die Kindergartentasche auspackte, die Trinkflasche und die Jacke ihrer Tochter herausholte und schließlich, am Boden des kleinen Rucksacks, auf etwas ungewöhnliches stieß. Sie legte die Stirn in Falten, während sie das Handy herausnahm. Es kam ihr bekannt vor, doch sie konnte nicht recht zuordnen, an wen es sie erinnerte. Giulia drehte das Gerät in ihrer Hand, dachte scharf nach, doch in dem Moment, in dem sie den Daumen auf den Home-Button legte, entsperrte sich das Gerät. Giulia hielt den Atem an. Es konnte nicht lange her sein, dass es zuletzt benutzt wurde, die Fotogallerie war noch geöffnet und beim Anblick der Bilder setzte ihr Herz einen Schlag aus. Tief in ihrem Inneren hatte sie gewusst, dass sie existierten, doch sie zu sehen war eine andere Sache. Sie zeigten Giulia mit blutverschmierten Armen, den Stein in der Hand. Hinter sich die Leiche ihrer Schwester. Langsam lies Giulia sich auf einen Stuhl sinken. Die Fotos konnten nur von Simon sein. Den hättte sie am liebsten vergessen, ihn so weit wie möglich in die hinterste Ecke ihres Gehirns geschoben, bis er dort versauerte. Nun wusste sie wieder, wessen Handy sie da in der Hand hielt. Machte auch Sinn, dass es ihren Fingerabdruck erkannt hatte, schließlich hatte sie ihn vor wenigen Jahren selbst dort eingespeichert.

 

Er hatte sie gefunden, Simon wusste, wo sie und Millie waren. Dabei hatte sie ihre Spuren so sorgfältig verwischt. Das Handy in ihrer Hand wirkte wie eine Drohung auf sie, eine stille Erinnerung daran, dass er etwas gegen sie in der Hand hatte. Tu was ich dir sage, hallte es in ihren Ohren nach, obwohl es Monate her war, seit sie diese Worte zuletzt gehört hatte. Noch immer dachte sie an den Klang seiner starken Hand auf ihrer Haut, wenn sie es nicht getan hatte.

 

Wieder fiel ihr Blick auf das Handy. Es schien ihr, als sei die Freiheit, die sie durch ihre Flucht vor Simon gewonnen hatte, gerade im Begriff, ein Ende zu nehmen.

 

 

Am frühen Nachmittag des darauffolgenden Tages wollte Giulia sich gerade auf den Weg in den Kindergarten machen, um ihre Tochter abzuholen, als es an der Tür klingelte. Es war ein Paket für Millie angekommen. Sofort machte sich in Giulia ein ungutes Gefühl breit. Sie hatte bei kaum jemandem ihre Adresse hinterlassen, seit sie hier wohnte. Sie öffnete das Paket, darin waren ein hübsches Kleid für Millie und eine Karte. Für meine kleine Prinzessin, stand darauf, auf dass wir uns bald wiedersehen. Giulia ballte die Hände zu Fäusten, wie gebannt starrte sie auf den Pappkarton vor sich. Nun gab es keinen Zweifel mehr, Simon hatte sie gefunden. Und sie war sicher, dass er ihr keine Ruhe lassen würde, bis er bekam, was er wollte. In Giulias Kopf begann sich ein Entschluss zu formen, langsam zuerst und dann immer schneller. Sie musste hier weg, an einen anderen Ort, wo er sie nicht finden würde, noch heute.

 

Als sie durch die Tür des Kindergartens stürmte, fühlte sie sich zurückversetzt in den Moment vor ein paar Monaten, als sie sich entschlossen hatte, zu fliehen, um sich selbst und ihrer Tochter ein besseres Leben zu ermöglichen. Giulia nickte den Betreuern mit einem gezwungenen Lächeln zu, nahm Millie auf den Arm und verließ das Gelände so schnell, wie sie gekommen war. Die Schleife in Millies Haar war grün und sie flatterte im Wind. „Mami“, flüsterte das Mädchen schließlich leise, „Ich glaube, ich habe heute von Weitem Papi gesehen.“

 

 

Die neue Wohnung war nicht so hübsch wie die Alte, sie lag in einer noch riesigeren Stadt mit noch mehr Großstadtannonymität. Knapp ein Monat war vergangen und so richtig hatten sich weder Millie noch Giulia hier eingelebt. Wirklich schön war es nicht, doch es war sicher, häusliche Gewalt und Erpressung lagen weit hinter ihnen. Beim letzten Mal war es doch genauso, dachte sich Giulia. Es war, als steckte sie in einer Zeitschleife fest.

 

Doch die Tage vergingen und sie wurden zu Wochen, Millie fand Freunde und auch für ihre Mutter lief es gut, bis die Türklingel sie eines Tages beim Kochen unterbrach. Giulia seufzte und lief zur Tür, zupfte dabei ihre Bluse zurecht. Vorsichtig stellte sie sich auf Zehenspitzen und sah durch den Türspion. Mit einem erschreckten Schrei taumelte sie nach hinten. Wie hatte er sie gefunden? Giulia bekam es mit der Angst zu tun, langsam ließ sie sich mit dem Rücken an der Wand heruntersinken. Ihr Atem ging immer flacher und sie zitterte am ganzen Körper.

 

Giulia, ich weiss, dass du da bist. Mach die Tür auf“, befahl er mit jener herrischen Stimme, mit der stets gesprochen hatte, wenn er einen seiner Ausbrüche hatte. Durch die Tür kam sie gedämpft zu Giulia herein.

 

Wenn du jetzt aufmachst, werde ich dir nichts tun. Hier geht es nicht um dich und mich, ich möchte meiner Tochter beim Aufwachsen zusehen. Lass sie mich mitnehmen und du bist mich los.“

 

Der Geruch von verbranntem Essen stieg Giulia in die Nase. „Verschwinde“, rief sie mit fester Stimme.

 

Nicht, solange Millie noch bei dir ist.“

 

Langsam stand Giulia auf. Wieder spürte sie seine Schläge wie tausend Messerstiche auf der Haut. Alles war besser als das. Es musste ein Ende nehmen.

 

Eine Träne rollte über ihr Gesicht, als Giulia die Tür zu Millies Zimmer einen Spalt breit öffnete und hindurchschlüpfte. Ihre Hände zitterten wie nie zuvor, als sie die blaue Schleife aus dem Haar ihrer Tochter löste.

 

Mir sind die Hände gebunden“, flüsterte sie dem Kind zu, während sie das lange Band immer enger um seinen Hals schnürte.

Von Emma A. Kosmalla

 

5 thoughts on “Die Schleife

  1. Ich finde die Symbolik sehr gut gemacht, dass sich Giulia wie in einer Zeitschleife gefangen fühlt, aus der es keinen Ausweg für sie gibt und der Mordwaffe, der Schleife im Haar ihrer Tochter.

    Auch cool, dass die Mordwaffe so “unschuldig” am Anfang der Geschichte schon auftaucht!

    Du beschreibst an manchen Stellen sehr sehr gut. Zum Beispiel gefällt mir die Stelle, an der ein namenloser Nachbar im Vorbeigehen die Hand hebt. “Sonst gab es für Millie im Treppenhaus heute kaum etwas neues zu entdecken.” Ich finde das beschreibt die “anonyme” Situation, in der die beiden sich befinden so gut! Also dass es für Millie mal etwas neues ist, wenn sie überhaupt gegrüßt werden und dann auch noch, dass der Nachbar für die beiden auch nur jemand namensloses ist.

    Ich weiß nicht ob das gewollt war, aber Millie wird glaube ich immer beim Namen genannt außer am Ende, wo sich Giulia vielleicht etwas von ihrer Tat distanzieren muss und Millie nur noch als “das Kind” wahrgenommen wird. Das hat dem ganzen irgendwie auch nochmal eine gruseligere Note gegeben

    Deine Erzählstil hat mir echt super gefallen, danke dafür 🙂

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