ninamattesEin anderes Leben von Nina Mattes

 

Kurzgeschichte

Nina Mattes

 

Ein anderes Leben

Ich rieche ihr Parfüm. Den zarten Duft nach Iris und Milch. Der mich an die Veilchen in unserem Garten erinnert. Ich schaue in ihr kleines Gesicht. Wie schön sie ist. Liebevoll will ich sie in den Arm nehmen und für immer festhalten. Ganz fest. Dann sehe ich es. Das Blut. Es ist überall. Und plötzlich rieche ich ihn – den Tod.

 

In letzter Sekunde erwischt sie den Abendbus nach Hause. Es regnet in Strömen und sie ist klitschnass. Trotz der späten Stunde ist der Bus überfüllt mit Menschen, die alle hoffen, sicher und trocken heim zu kommen.

Eingepfercht steht sie im Inneren des Stadtbusses und sehnt sich nach einem freien Sitzplatz. An der nächsten Station drängen weitere durchnässte Menschen in den Bus. Eine unangenehme Muffigkeit breitet sich aus und beschlägt sämtliche Scheiben. Gefangen in der Masse der Fahrgäste, spürt sie einen übelriechenden Atem in ihren Nacken. Der Typ hinter ihr scheint ein Stadtstreicher zu sein. Sie versucht sich ein wenig wegzudrehen, um sich aus dieser misslichen Lage zu befreien. Stattdessen drängt der Stadtstreicher weiter massiv an ihren Rücken. Unmöglich nur einen Millimeter von ihm abzurücken. Ein Schauer läuft ihr über den Rücken.

Erst ein Glas Wein und dann ein heißes Bad, denkt sie und versucht das ungute Gefühl abzuschütteln.

Noch zwei Stationen. Halt durch. Wenn Du Glück hast, steigt dieser Penner vor dir aus.

Endlich. An der nächsten Station wird es leerer. Und so plötzlich wie sich der Mann hinter sie gezwängt hat, ist er verschwunden.

            Gott sei Dank!

 

Sie steht vor der Eingangstür des Mehrfamilienhauses und sucht mit klammen Fingern in der Manteltasche nach dem Schlüssel. Doch statt des gesuchten Gegenstandes, fühlt sie plötzlich den kalten Körper eines Handys in ihrer Handfläche. Verwundert blickt sie auf das dunkle Display. Wie kommt das Teil in ihre Manteltasche?

Sie starrt noch immer ungläubig auf das fremde Handy in ihrer Hand, als im Inneren des Hauses das Licht angeht und der neue Nachbar aus der Haustür tritt. Schnell huscht sie hinein, ohne ihn weiter zu beachten. Das Smartphone in der Hand sprintet sie nach oben in den zweiten Stock. Keuchend bleibt sie vor ihrer Tür stehen. Das Flurlicht erlischt und sie steht im Dunkel.

Ach, dieses verdammte Licht!

Es ist mucksmäuschenstill im Haus. Mit der freien Hand tastet sie im finsteren Treppenhaus an der Wand nach dem Lichtschalter.

Der schrille Klingelton des Mobiltelefons zerreißt die gespenstische Stille. Sie steht noch immer im Dunkeln, nur der Schein des klingelnden Handys spendet etwas Licht. Ihr Herz pocht wie wild als sie auf den grünen Hörer im erleuchteten Display wischt.

Hallo?“, ruft sie zaghaft in die Stille.

„Schau dir die Fotos an!“, befiehlt ihr ihr eine männliche Stimme raunend ins Ohr.

„Hören Sie…“, ihre Stimme hallt durch das leise Treppenhaus und klingt merkwürdig blechern. Aber der Unbekannte hat das Gespräch bereits beendet. Angespannt tastet sie erneut nach dem Lichtschalter und findet ihn.

Endlich!

Sie wühlt nervös in der anderen Tasche ihres Mantels nach dem Schlüssel. Als ihre Finger ihn umklammern, entspannt sie sich und schließt erleichtert auf. Noch in der Diele schält sie sich aus den nassen Klamotten und läuft nackt ins Badezimmer, um sich ein heißes Bad einzulassen. Sie streift den Bademantel über und geht in die Küche.

Auf dem Küchenblock steht noch die halbvolle Flasche Rotwein vom gestrigen Abend. Während sie sich ein Glas einschenkt, stößt sie mit den nackten Zehen an die leeren Weinflaschen auf dem Boden.

Mist.  

Auf dem Küchenboden sucht sich der restliche Inhalt seinen Weg.

Den Anrufer und das Handy hat sie bereits aus ihrem Gedächtnis gewischt. Jetzt zählt nur der erste Schluck. Und es ist ein großer Schluck. Hastig spült sie mit ihm den ganzen Ärger des Tages, die unangenehme Busfahrt und den merkwürdigen Anruf auf dem fremden Handy hinunter.

Ah, tut das gut!

Sie schenkt sich ein zweites Glas ein und leert die Flasche. Im Küchenschrank sucht sie nach dem Korkenzieher und öffnet eine weitere Kostprobe ihres Lebenselixiers. Das Glas in der einen und den Wein in der anderen Hand, geht sie zurück ins Badezimmer.

 

Das warme Wasser verschafft ihr ein wohliges Empfinden, wärmt die kalten Glieder und der Wein zeigt langsam Wirkung, auch wenn sich nicht alle trüben Gedanken damit besiegen lassen.

Was für ein Scheiß Tag. Okay, ich war in letzter Zeit unkonzentriert und mir sind Fehler unterlaufen, aber deshalb gleich die Kündigung?

Den dicken Kloß im Hals spült sie mit einem weiteren großen Schluck Wein hinunter.

 

Die Entspannung weicht einer bleiernen Schwere, das Wasser hat seine wohlige Wärme verloren und ihre Haut ist mittlerweile schrumpelig. Ungeschickt hangelt sie sich aus der Wanne und stößt dabei die geleerte Weinflasche um.  Um sie herum beginnt sich alles zu drehen. Sie taumelnd zum Waschbecken, wischt über die beschlagene Fläche des Alibert und blickt in ihr Spiegelbild. Und plötzlich ist es wieder da, dieses schreckliche Gefühl.

Du bist schuld!

Fluchtartig wankt sie aus dem Bad in die Diele, stolpert über die nassen Klamotten auf dem Boden und will gerade in ihr Schlafzimmer flüchten, als ihr Blick auf das fremde Handy fällt.

Schau dir die Bilder an!

Jetzt erinnert sie sich wieder. Völlig benebelt, greift sie mehrmals daneben. Letztlich gelingt es ihr das Smartphone vom Boden aufzuheben und sie stolpert weiter ins Schlafzimmer. Sie schmeißt sich auf das Bett und schlüpft unter die Bettdecke. Alles um sie herum dreht sich und sie ist so unendlich müde. Das Handy gleitet ihr aus der Hand auf die Bettdecke.

 

Es ist zwei Uhr in der Nacht als sie erwacht. Durch das Fenster dringt nur spärlich der schmale Schein der Straßenlaterne ins Zimmer. Kopfschmerzen quälen sie und ihr Mund ist wie ausgedörrt. Sie friert, tastet nach dem Nachthemd, findet einen Zipfel davon und zieht es unter der Bettdecke hervor. Dabei hüpft das fremde Handy von der Bettkante auf den Teppich. Mühsam zieht sie sich das Nachthemd über, schwingt dann den Oberkörper aus dem Bett, um nach dem Mobiltelefon zu angeln. Der Versuch misslingt und sie fällt kopfüber auf den Boden.

Hoppla.

Ihr Kichern gleich mehr einem Glucksen. Sie rappelt sich auf, bleibt aber auf dem Boden sitzen und lehnt sich gegen den Nachttisch. Unkontrolliert tatscht sie auf das Display. Geblendet von der plötzlichen Helligkeit des Bildschirms, kneift sie die Augen zusammen. Das Handy scheint nicht gesperrt zu sein. Einen kurzen Augenblick zögert sie noch, dann drückt sie auf das Galeriesymbol.

Entsetzt schaut sie auf das Bild im Display. Mit einem Mal ist ihre Kehle noch trockener, doch sie ist unfähig zu schlucken, stattdessen stöhnt sie auf wie ein geschundenes Tier. Speiübel gibt sie dem Würgereiz nach und erbricht sie sich in den Schoss ihres Nachthemdes. Ohne an die Folgen zu denken, krabbelt sie über ihr Erbrochenes auf allen vieren in die Küche, das Handy fest umklammert. Zu ihrer trockenen Kehle gesellt sich ein säuerlich pelziger Geschmack auf der Zunge. Sie braucht jetzt dringend etwas zu Trinken.

Schnell.

Am ganzen Körper zitternd hat sie Schwierigkeiten auf die Beine zu kommen. Wackelig lehnt sie sich gegen den Kochblock. Atmet tief ein und aus. Versucht sich zu erinnern, wo sie den verdammten Gin versteckt hat.

Sie trinkt in hastigen Zügen aus der Flasche.  Wie eine Ertrinkende auf offener See. Der überschüssige Gin rinnt ihr übers Kinn, brennt in der Kehle. Sie denkt an das Foto auf dem Handy. Hustet. Trinkt weiter. Ihre Ohren rauschen und ihr Herz schlägt bis zum Hals.

Sie hat Angst. Todesangst.

 

Das Foto auf dem fremden Handy – das Foto ist ein Bild von ihr – aus einer früheren Zeit.

 

Der Küchenboden unter ihr wankt gefährlich. Sie ist kurz davor das Bewusstsein zu verlieren. Sie setzt den Gin am Küchentresen ab und sucht dort Halt.

Wie kommt das Bild auf das verdammte Handy?

Und wie kommt das Handy in ihre Manteltasche?

Sie muss sich konzentrieren und denkt angestrengt nach.

Ja, klar, der Penner aus dem Bus! Aber wer ist der Kerl?

Wie zum Henker kommt er an die Bilder?  

Was weiß er? Und was will er von mir?

Die Fragen schwirren in ihrem Kopf wie wild gewordene Hummeln. Das Rauschen in den Ohren wird stärker und der Kopf dröhnt so laut, dass er zu platzen droht. Sie nestelt auf dem Display herum und öffnet wieder die Fotogalerie.

Das Bild zeigt sie erneut, sitzend im Garten. Das Violett der wunderschön blühenden Veilchen im Hintergrund ist auf dem Foto gut zu erkennen. Im Arm trägt sie das Baby. Fast sieht es aus als lächele es in die Kamera. Das Foto wirkt auf den ersten Blick unschuldig. Gerade zu leidenschaftlich. Voller Liebe.

Sie wischt nach links und weitere Fotos werden sichtbar. Bilder von ihr und dem Baby – und von Thomas! Angsterfüllt schaut sie die Fotos an. Es sieht aus als hätte sie jemand beschattet. Als wüsste dieser jemand von ihrer Verzweiflung, der Schuld und dem Tod.

Ihr ganzer Körper verkrampft sich. Die pure Panik nimmt sie ein. Sie schnappt nach Luft, wie ein gefangenes Tier, dessen Schlinge sich immer weiter zuzieht. Wie in Trance plündert sie die Küchenschublade nach der Tablettenschachtel, findet sie und drückt gleich mehrere Tabletten aus der Blisterpackung, die sie mit einem Schluck Gin gierig hinunterspült.

Völlig benebelt vom Alkohol und den Tabletten fällt sie weinend auf den kalten Boden. Wimmernd wie ein kleines verängstigtes Kind, schlingt sie, am ganzen Körper zitternd, die Arme um ihre angewinkelten Knie und wiegt sich leise hin und her.

Kurz darauf tun Gin und Medikamente ihre Wirkung. Ein dunkler Schatten legt sich auf ihre Augen. Zugedröhnt sinkt sie in einen komatösen Halbschlaf.

 

Plötzlich schreckt sie auf, weil sie meint etwas gehört zu haben. Sie scheint nicht lange weggesunken zu sein, denn es ist noch stockfinster draußen. Angestrengt lauscht sie in die Wohnung hinein. Immer noch völlig berauscht, versucht sie einen klaren Gedanken zu fassen. Was hat sie so aufgeschreckt?

Mit jedem Herzschlag spürt sie eine drohende Gefahr. Es muss jemand in der Wohnung sein!

Er ist es! Er ist jetzt hier!

Sie tastet über den kalten Fliesen nach dem Handy, findet es aber nicht. Ihr ist schwindelig, dennoch gelingt es ihr langsam auf die Beine zu kommen. Vorsichtig blickt sie sich in der offenen Wohnküche um. Ihr Herz hämmert mittlerweile zum Zerspringen. Da, etwas bewegt sich hinter dem langen Wohnzimmervorhang. Sie kneift die Augen zusammen und schaut angespannt in die Richtung. Der Atem stockt ihr und das Blut gefriert in ihren Adern. Ganz leise geht sie auf Fußspitzen zwei Schritte vorwärts. Sie ist sich sicher, hinter dem Vorhang einen dunklen Schatten und den Umriss von Schuhen erkennen zu können.  

Er ist wirklich hier! Oh, mein Gott!

Sie überlegt aus der Wohnung zu flüchten. In Gedanken spielt sie die Flucht durch. Sieht aber ein, dass der Fremde aufgrund ihres Zustandes in jedem Fall schneller sein wird. In ihren Schläfen beginnt es zu hämmern, heftige Übelkeit steigt in ihr auf.

Verdammt …

 

Der Weg nach draußen scheint aussichtslos. Sie hat Angst jeden Augenblick das Bewusstsein zu verlieren, angesichts der Gefahr, die sie nun tatsächlich bedroht. Mit aller Macht konzentriert sie sich und geht so leise wie möglich wieder zwei Schritte zurück.

Wachsam tastet sie nach dem Messerblock, findet ihn und umklammert fest entschlossen den Ahorngriff des japanischen Kochmessers.

Ich muss ihn töten!

Sie muss ihn zerstören, bevor er sie zerstört. Es scheint der einzige Weg das Kapitel ihrer dunklen Vergangenheit für immer zu beenden. Sie muss den Eindringling töten. Zu allem entschlossen, schleicht sie sich an den Vorhang heran und sticht mit aller Kraft zu. Doch der Eindringling kann sie abwehren und versetzt ihr einen Faustschlag ins Gesicht. Der Schlag ist heftig. Sie geht zu Boden. Das Messer noch in der Hand rappelt sie sich leicht benommen auf und folgt dem Fremden zur Küchentheke. Der fährt herum. Erschrocken weicht sie zurück und verliert dabei das Gleichgewicht. Sie versucht sich an der Theke festzuhalten, reißt aber im Fallen die fast leere Flasche Gin mit, die laut auf den Bodenfliesen zerschellt. Völlig hysterisch springt sie wieder auf. Sie hat jegliche Kontrolle verloren und merkt die Schnitte der Scherben auf ihren Fußsohlen nicht. Die Bilder im Kopf und die Angst vor dem, was der Fremde weiß und vorhat, greift sie erneut an und sticht zu. Wieder kann der Eindringling den Angriff abwehren und schlägt ihr das Messer aus der Hand.

Das Blatt wendet sich. Plötzlich ist sie die Gejagte. Der Fremde tritt zu. Der Fußtritt in den Magen nimmt ihr für einen kurzen Moment den Atem. Sie taumelt und stößt einen Schmerzensschrei aus.

Was willst du von mir?

In wilder Raserei fliegt alles in seine Richtung was sie zwischen die Finger bekommt Teller, Tassen, Töpfe. Vor ihrem Inneren tauchen die Bilder längst vergangener Zeit auf. Sie mit dem Baby auf dem Arm. Das Baby wie es tot in seinem Bettchen liegt. Bilder von Thomas und wie er versucht sie zu trösten. Sie trüge nicht die Schuld am Tod des Kindes.

Aber sie weiß es besser!

Und währenddessen schreit sie und stürmt im Wahn mit dem abgebrochenen Flaschenhals einer Weinflasche auf den Eindringling zu.

Der Angreifer benötigt nur einen einzigen Messerstich. In einer raschen Bewegung hebt er das japanische Kochmesser auf und sticht entschlossen zu. Erst begreift sie nicht, was passiert ist. Sie sieht nur den Ahorngriff aus ihrem Bauchraum ragen. Der Angreifer lässt von ihr ab und flüchtet aus der Wohnung. Sie blickt an sich hinunter, dann löst sie sich aus der Erstarrung und zieht mit aller Kraft das Messer aus ihrem Leib. Doch es ist zu spät. Sie spürt kurz das Blut aus ihrem Körper schießen und bevor sie tot auf den Boden schlägt, denkt sie nochmal an ihr Baby.

Ich wollte dich nicht töten. Bitte verzeih!

 

 

Als man die Leiche findet, deutet alles im ersten Moment auf einen schweren Kampf zweier Personen hin. Im Laufe der Ermittlungen stellt sich jedoch heraus, dass die Tote seit einigen Monaten aufgrund des massiven Einflusses von Alkohol und Pharmazeutika unter Wahnvorstellungen und Identitätsverlust litt und, sie sich allem Anschein nach, das Kochmesser selbst in den Bauch gerammt hat.

Den plötzlichen Kindstod ihres zehn Monate alten Babys hat sie nie überwunden.

 

 

 

 

3 thoughts on “Ein anderes Leben von Nina Mattes

Schreibe einen Kommentar