darkxblueEin Fehler, der alles verändert hat

 

So ein Chaos!“ Ich seufze, als ich den Aktenordner mit den Fällen A – C zurück in den Schrank stelle. Das gesamte obere Regalbrett ist immer noch mit Materialien gefüllt, die mein Kollege nach seiner Entlassung aus der Kanzlei vor einem Monat hinterlassen hat.

 

 

Ach“, meint Natascha, die mir gegenüber sitzt und von der ich nur ihre Augen sehen kann, da der Rest von ihrem Monitor verdeckt wird, „erinnerst du dich noch an Anthony? Gegen sein Chaos ist das da die reinste Ordnung.“

 

 

Das stimmt allerdings.“ Sein Schreibtisch war die reinste Altpapiersammlung gewesen. Und über allem thronte auf einem dicken Bücherstapel eine Figur der Justitia, ein Geschenk seiner Eltern zum Bestehen des ersten Staatsexamens. Anthony war vor gut drei Jahren kurz nach mir als Rechtsreferendar neu in die Kanzlei gekommen. Dass wir beide die Neuen waren, hat uns damals verbunden. Frisch von der Uni, doch das zweite Staatsexamen noch bevor. Da wollte man alles richtig machen. Verrückte Zeiten. Doch ähnlich wie der Kollege ist auch Anthony nicht lange hier geblieben. Wenn ich mich richtig erinnere, hat er noch nicht mal sein Referendariat abgeschlossen. Ich nehme mir vor, gleich Montag damit anzufangen, die liegengebliebenen Dokumente aufzuräumen. Doch nun ist erst mal Feierabend. Das Wochenende wartet.

 

 

Als ich wenig später die Autotür hinter mir schließe und meine Einfahrt betrete, höre ich in der Ferne einen Motor aufheulen. Quietschende Reifen. Ein Geräusch, das mein Herz schneller schlagen lässt. Ich atme einmal tief durch.

 

 

Das Klingeln eines Handys lenkt mich ab. Das Geräusch scheint aus dem Busch zu kommen, der neben der Treppe zur Tür wächst. Und richtig. Als ich in die Hocke gehe, um nachzuschauen, sehe ich auf dem sandigen Untergrund ein kleines Telefon liegen. Ich strecke meinen Arm aus, um danach zu greifen, als das Klingeln verstummt. Verwirrt starre ich auf das Display, das erloschen ist. Wo kommt das denn plötzlich her?

 

 

Ich erhebe mich und verstaue das Handy in meiner Hosentasche. Darum würde ich mich später kümmern. Vielleicht hat der Postbote es verloren, als er heute die Post gebracht hat.

 

 

Ich schließe auf und lasse meine Tasche auf den Boden fallen, bevor ich mich in die Küche begebe. Ich brauche jetzt erst mal einen Tee. Das Handy in meiner Hosentasche vibriert. Ich ziehe es hervor und kann auf dem Display gerade noch eine Nachricht erkennen, bevor es wieder erlischt.

 

Ignoriere mich nicht!“

 

 

Huch? Mir stockt der Atem. Werde ich etwa beobachtet? Bevor ich überhaupt irgendwie reagieren kann, kommt eine weitere Nachricht hinterher. Und sofort gefriert mir das Blut in den Adern.

 

 

Es ist nicht bloß eine Nachricht. Es ist ein Foto. Zwei Autos nachts auf der Autobahn. Kratzer in der Heckscheibe des einen Auto, eine tiefe Beule im anderen. Das Foto offenbar aufgenommen aus dem Innenraum des vorderen Autos. Im hinteren Auto sitze ich. Ich höre die Reifen quietschen. Ein dumpfer Knall. Splitterndes Glas. Sofort bin ich wieder in der Situation. Das nächste, an das ich mich erinnere, ist das Geräusch meiner eigenen quietschenden Reifen, als ich ausschere und voller Panik auf das Gaspedal trete, ohne mich noch einmal umzusehen. Dieses Foto beweist, was ich so lange verdrängt habe. Ein Beweis, dass ich am Tatort war. Der Beweis, dass ich schuldig bin. Ich, eine Angestellte des Rechts.

 

 

Ich spüre, wie mein Herz pocht, höre das Pfeifen in meinen Ohren. Ich schlucke, obwohl mein Mund wie ausgetrocknet ist. Wie kann aus der Situation ein Foto entstanden sein? Es ging doch alles viel zu schnell. Und was mich noch viel mehr verstört, warum jetzt? Warum nach all dieser Zeit?

 

 

Ich schicke eine Frage. „Wer sind Sie?“ Und gleich noch eine andere hinterher. „Was wollen Sie?“

 

 

Ich bin nicht stolz darauf, was ich damals getan habe. Es war unvernünftig und grob fahrlässig. Doch ich war in Panik, konnte nicht klar denken. Der einzige Gedanke, den ich hatte, galt meinem bevorstehenden großen Staatsexamen, meiner zukünftigen Karriere als Juristin. Völlig irrational aus meiner heutigen Sicht. Hatte ich mich doch erst durch meine Kurzschlussreaktion strafbar gemacht. Fahrerflucht. Kein leichtes Vergehen. Und nun hatte es jemand aufgedeckt.

 

 

Das Handy vibriert.

 

Ich sehe, du hast meine Nachricht verstanden. Alles, was ich will, ist Gerechtigkeit.“

 

 

Er würde mich anzeigen.

 

Vielleicht wäre es das Richtige. Vielleicht sollte ich mich dem endlich stellen. Dann hätte zumindest mein Gewissen endlich wieder Ruhe. Ich weiß so gut wie nichts über den anderen Unfallbeteiligten, dem ich hinten ins Auto gefahren bin. Ich habe nie recherchiert, wie es ihm ergangen ist. Weil ich viel zu viel Angst davor hatte, was ich herausfinden würde. Ich habe es verdrängt und versucht zu vergessen. Was mir aber auch nicht gelungen ist, denn die Szene jagt mich noch immer regelmäßig in meinen Albträumen. Ich kann es diesem Menschen nicht verübeln, wenn er mich zur Rechenschaft ziehen möchte.

 

 

Nicht nur dafür, dass du abgehauen bist.“

 

 

Was?

 

 

Erinnerst du dich noch?“

 

 

Auf dem Display wird ein Foto geladen. Es zeigt mich, wie ich einen dicken Umschlag vor den Stufen meiner Haustür aufhebe. Mir wird ganz kalt, denn ich erinnere mich noch ganz genau, was in diesem Umschlag gewesen war. Fotos. Von mir. In meiner eigenen Wohnung. Aufgenommen ohne dass ich es mitbekommen habe.

 

Dies kann nur eins bedeuten. Mein Stalker ist zurück.

 

 

Ich muss mich setzen. Ich habe mich gerade damit abgefunden, dass ich mich stellen muss und mit den Konsequenzen der damaligen Fahrerflucht leben muss. Das wäre okay gewesen. Ich bin dafür bereit, das zu akzeptieren. Doch wofür ich nicht bereit bin, ist, dass dieser Wahnsinn wieder los geht. Das kann nicht sein. Das darf nicht sein.

 

 

Ich überlege. Damals habe ich mit dem Gedanken gespielt, den Stalker anzuzeigen, doch leider habe ich mich nie dazu überwinden können. Die Polizei hätte sowieso nichts tun können, denn physisch angegriffen hat er mich nie. Er hat mir Angst eingejagt, mit meiner Psyche gespielt, was vielleicht noch schlimmer gewesen war. Und das alles warum? Damals habe ich gedacht, dass meine Trennung der Auslöser gewesen ist. Denn kurz nach der Trennung von meinem Ex-Freund hatte es angefangen. Doch dass wirklich er dahinter steckte, konnte ich nie beweisen. Und mit ihm habe ich seit Ewigkeiten nichts mehr zu tun gehabt und mir fällt kein Grund ein, was er nun noch von mir wollen könnte. Eigentlich, wird mir jetzt klar, hatte diese Stalkerei ziemlich genau nach diesem Unfall aufgehört.

 

 

Ganz genau. Ich bin wieder da. Und nur damit du es weißt, ich war es. Ich habe den Unfall damals provoziert. Du hattest keine Chance auszuweichen.“

 

 

Er war dabei gewesen? Er war derjenige im anderen Auto gewesen? Warum? Ich hatte mich jahrelang mit der Frage gequält, wem ich geschadet hatte. Ob ich jemanden ernsthaft verletzt oder sogar getötet hatte. Und alles nur wegen eines Verrückten?

 

 

Ich wollte, dass du weißt, wie es sich anfühlt, ausgebremst zu werden.“

 

 

Das Handy liegt warm in meiner Hand. Die letzten Nachrichten kamen Schlag auf Schlag. Und mit jedem Schlag fühle ich mich dem Abgrund näher. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Ausgebremst? Wen hatte ich je ausgebremst? Sollte das überhaupt etwas bedeuten?

 

 

Wer bist du?“ Schreibe ich zurück, weil es das einzige ist, zu dem ich noch fähig bin.

 

 

Du wolltest mich damals anzeigen, weil du dachtest, ich sei dein Ex-Freund. Du hast nicht mal nachgeguckt, wer im anderen Auto gesessen hat. Denn dann wüsstest du nun, dass ich nicht dein Ex-Freund bin.

 

Aber ja, ich hatte gehofft, es würde schlimmer ausgehen. Für uns beide. Nun hatte ich Zeit genug, um zu planen. Damit es beim nächsten Mal ‘besser’ ausgeht.“

 

 

Ich spüre, wie meine Hände eiskalt werden. Das Handy fällt aus meiner Hand. Ich muss… los. Ich muss noch mal los. Wenn schon nicht damals, muss ich es jetzt tun, bevor er seinen Worten Taten folgen lassen wird. Auch wenn ich mich damit selber belaste, denn mein eigenes Vergehen wird dabei zur Sprache kommen.

 

 

Ich hebe das Handy vom Boden auf, mein Beweisstück, greife nach meiner Tasche und verschwinde aus der Tür. Rein in mein Auto, Schlüssel ins Schloss. In meinen Ohren höre ich immer noch den dumpfen Knall, als mein Auto in der Dunkelheit der Nacht auf das andere Fahrzeug aufprallt. Zu so später Stunde waren keine anderen Autos unterwegs gewesen. Das Fahrzeug war kurz zuvor von der Überholspur zu mir auf die rechte Fahrbahn geschert und hatte so plötzlich gebremst, dass ich keine Zeit zu reagieren hatte. Jetzt wird es mir klar. Ich hatte es verdrängt, hatte immer mir die Schuld an diesem Unfall gegeben. Doch nun sehe ich es klar vor mir. Ich hatte keine Chance gehabt. Ich hätte nur die Polizei rufen müssen. Sie hätten es protokolliert. Mir wäre nichts passiert. Meine Karriere wäre nie in Gefahr gewesen. Und vor allem hätte ich Gewissheit darüber gehabt, wie es der Person im anderen Auto ergangen war. Ich hätte mich nicht jahrelang mit Bildern in meinem Kopf gequält, die so nie passiert waren.

 

 

Ich sehe die Polizeidienststelle schon vor mir. Noch eine Kreuzung passieren, dann links auf den Parkplatz. Ich würde ihn nicht siegen lassen. Ich habe das Handy dabei als Beweis für die Drohung. Sie würden etwas tun müssen. Sie würden mir helfen müssen. Das Auto vor mir bremst, es blinkt, will rechts abbiegen. Und plötzlich sehe ich es wieder mir. Meine Gedanken gehen noch einmal zurück zu der Nacht auf der Autobahn. Ich sehe die Umrisse einer Person im Auto vor mir, in das ich viel zu schnell hinein rausche. Doch noch vorher sehe ich die Gestalt, die aus dem Rückfenster blickt. Nein, das wäre falsch ausgedrückt, denn sehen kann sie nichts. Ihre Augen sind verbunden, in ihrer einen Hand hält sie die Waage, in der anderen das Richtschwert. Ich muss schlucken, als mir die Erkenntnis kommt, woher ich die Figur kenne.

 

 

Der Kollege kommt gleich.“ Ich setze mich auf den Stuhl, auf den die Beamtin weist, bevor sie das Büro wieder verlässt. In meinem Kopf lege ich mir schon die Worte zurecht, die ich sagen werde. Auch wenn ich völlig aufgewühlt bin, muss ich einen kühlen Kopf bewahren. Schließlich möchte ich Ernst genommen werden, mich nicht wieder wegschicken lassen. Krampfhaft halte ich das Handy in meiner Hand und lese noch einmal den letzten Nachrichtenverlauf.

 

 

Anthony. Er war die ganze Zeit der Stalker gewesen. Jetzt scheint es mir so klar. Anscheinend ist er nicht darüber weggekommen, dass er damals die Probezeit nicht bestanden hat. Es war immer klar gewesen, dass nur höchstens einer von uns beiden eine feste Anstellung in der Kanzlei bekommen würde. Dass ich es gewesen bin, damit konnte er anscheinend nicht umgehen.

 

 

Ich höre Schritte den Flur entlang kommen. Ein Räuspern an der Tür.

 

Frau Gruber,“, sagt eine freundliche Stimme, „Sie sind wegen eines gefundenen Handys da?“

 

 

Ich bin verwirrt. Nein, ich möchte einen Stalker anzeigen. Woher… Ich drehe mich um. Als ich das Grinsen in seinem Gesicht sehe, spüre ich, wie sich mein Magen in einen schmerzhaften Klumpen verwandelt.

 

 

Du bist sogar noch schneller gekommen, als ich gedacht habe. Wie du siehst, habe ich die Seiten gewechselt.“

 

 

Ich starre ihn an.

 

 

Ich will nicht mehr blind wie Justitia sein. Sieh dich an. Du bist damals davongekommen und Juristin geworden. Das habe ich ganz genau beobachtet. Und wenn so was möglich ist, was ist mein Gerechtigkeitsempfinden dann noch wert?“

 

 

Seine Augen funkeln mich an, als er zu seinem Schreibtisch geht.

 

Ich nehme das Gesetz jetzt lieber in meine eigenen Hände.“

 

 

Was genau er damit meint, sagt er nicht. Ich kann seinen Blick schlecht deuten.

 

 

Und ja, ich weiß, ich habe provoziert. Du hattest keine Chance. Den Unfall hättest du nicht verhindern können. Aber du hattest die Wahl, ob du dazu stehst oder feige fliehst. Und so jemand hat diesen Beruf nicht verdient. Mit dir bin ich noch nicht fertig.“

 

 

Jetzt ist es so weit. Ich stehe auf und laufe so schnell ich kann. Aus der Dienststelle, hinaus auf den Parkplatz. Ich komme kaum zu Atem, als ich mein Auto erreiche. Das Handy, das ich immer noch in meiner Hand halte, die schon so verkrampft ist, dass sie schmerzt, vibriert. Ich möchte nicht schauen, doch es bleibt mir nichts anderes übrig. Mir wird schlecht.

 

 

Du wirst nicht entkommen.“

 

 

 

5 thoughts on “Ein Fehler, der alles verändert hat

  1. Moin Moin, noch keinen Kommentar? Dabei sind es doch genau die, die wir Autoren so dringend benötigen, damit wir wissen wie unsere Geschichte ankommt, gefühlt wird.

    Tolle Geschichte die du dir da ausgedacht hast.
    Der Stalker und das was sein handeln mit uns macht. Deine Geschichte lies sich flüssig lesen und folgte einer Grundidee. Den Plot und die geforderten Parameter hast du solide umgesetzt. Hat mir gefallen. Vor allem war sie kürzer, als so manch andere hier im Wettbewerb.

    Deine erste Geschichte? Dann mach so weiter. Danke das du den Mut gefunden hast, deine Geschichte mit uns zu teilen.

    Mein Like lass ich dir gerne da und wünsche dir alles Gute für’s Voting.

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

    1. Hallo!
      Vielen Dank für deinen so ausführlichen Kommentar. Ja, du hast Recht, wir als Autoren sind auf Kommentare angewiesen, damit wir wissen, wie unsere Geschichten bei den Lesern ankommen und wie wir uns verbessern können. Darum bin ich dir sehr dankbar, dass du den ersten Kommentar geschrieben hast. Und dass dir meine Geschichte auch noch gefallen hat, freut mich sehr.
      Es ist zwar nicht meine erste Geschichte, doch die erste Geschichte, die ich nach einer mehrjährigen Pause geschrieben habe. Dieses Projekt hat mich dazu motiviert, wieder mit dem Schreiben anzufangen und ich hatte ganz vergessen, wie viel Spaß es macht.
      Bei dir werde ich auch gleich mal vorbei schauen.

      LG darkxblue

  2. Hallo,

    ich kann es kurz machen: Deine Geschichte ist spannend, kurzweilig und flüssig geschrieben – mir hat sie sehr gut gefallen! Auch das offene Ende finde ich gut…. wer weiß, ob er sie noch kriegt oder ob sie doch eine Chance hat zu entkommen, auch wenn Fahrerflucht natürlich nicht ohne Folgen bleiben sollte….

    Like ist gerne gegeben. Viel Freude weiterhin mit dem Schreiben,
    LG Yvonne / voll.kreativ (Der goldene Pokal)

    1. Hallo Yvonne,
      vielen Dank für deinen Kommentar. Es bedeutet mir sehr viel, dass du dir die Zeit genommen hast, um meine Geschichte zu lesen und einen Kommentar da zu lassen. Und dass dir meine Geschichte gefällt, freut mich sehr. Ja, ich persönlich mag offene Enden sehr, da man sich da selber noch mal Gedanken machen kann, wie es ausgehen könnte. Freut mich, dass es dir gefallen hat.
      Ich werde gleich auch mal bei dir reinschauen.

      LG darkxblue

  3. Hallo,
    mir haben deine Geschichte und dein Schreibstil sehr gut gefallen. Ich-Perspektiven lese ich im allgemeinen sehr gerne. Natürlich lasse ich dir meinen Like da, denn bereits die ersten Zeilen haben mich gefesselt sowie der Titel, der mich neugierig gemacht hat.
    Viele Grüße
    Patricia von der Geschichte ANGERICHTET

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