NadiniEin Stein im Wasser

 

„Frau Warfge, ich lese Ihnen nun einen Auszug aus Ihrem Abschiedsbrief vor. Können Sie mir noch folgen? Es ist wichtig, dass Sie mir zuhören.“

Julia macht kurz die Augen zu, holt hörbar tief Luft und antwortet leise: „Ja, entschuldigen Sie bitte, ich war gerade mit meinen Gedanken woanders. Fahren Sie fort.“

Die Kommissarin schaut von dem vor ihr liegenden Brief hoch und sucht den Blickkontakt mit Julia. Sie liest mit fester Stimme vor:

„Ich kann nicht glauben, was ich vorhabe. Das Leben habe ich immer gemocht, auch wenn ich es auf eine andere Art gelebt habe, wie manche es nicht erfassen können. Aber jetzt sehe ich keinen Ausweg mehr und muss es tun.“

„Was macht es mit Ihnen, wenn ich diese Zeilen vorlese?“

„Es berührt mich“, antwortet Julia nachdenklich. „Einmal im Leben habe ich es geschafft ein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Und dann kommt dieser Mann mit dem Boot daher und zieht mich aus dem Wasser. Er hätte mich in Ruhe sterben lassen sollen, dann wäre ich nun erlöst.“

„Wovon erlöst? Ich möchte das verstehen.“ Prüfend schaut die Kommissarin Julia an.

Die Befragte rutscht nervös auf ihrem Stuhl hin und her. Ihre Körperhaltung vermittelt der Kommissarin, mit geschultem Blick, Julias Unsicherheit.

„Von meinem verdammten Leben. Es war geprägt von Verfolgung, Gewalt und Angst.“

Fragend schaut die Kommissarin ihr Gegenüber an. „Aber Sie schreiben auch, dass sie das Leben immer gemocht haben, Frau Warfge.“

Julia erhebt deutlich ihre Stimme: „Nur, weil ich zur falschen Zeit am falschen Ort war, heißt es nicht, dass ich mein Leben nicht gemocht habe. Es gab auch gute Tage, an denen ich vergessen konnte. An diesen Tagen habe ich ausgeblendet, was mir widerfahren ist.“ Sie stockt und versucht ihre Tränen zurück zu halten. Wie so oft schnüren ihr die quälenden Stunden der Angst die Luft zum Atmen ab und doch versucht sie ruhig zu bleiben.

„Frau Renori, Sie haben sich ja sicherlich gut vorbereitet und meine Akte gelesen, bitte ersparen Sie mir, über Details zu sprechen.“

Die Kommissarin überlegt für einen Moment eine Pause einzulegen; kommt aber zu dem Entschluss, dass es für Julia besser wäre, die Befragung schnellstens hinter sich zu bringen. „Erzählen Sie mir von dem Tag, an dem Sie ihr Leben beenden wollten, Frau Warfge!“

Julia versucht sich zu erinnern, jedoch nur schemenhaft. „Ich befand mich an einem abgelegenen Strandstück an der Weser, alleine, es war gegen 7 Uhr morgens. Ich saß auf dem nasskalten Sand. Mein Körper fühlte sich an wie eine leere und leblose Hülle, nachdem ich mehrere Tabletten durcheinander genommen hatte und meine Gedanken wirr durch meinen Kopf geisterten. Mich von der Strömung treiben zu lassen, das ließ mich nicht mehr los. Als ich dann im Wasser war, spürte ich die Kälte, keine Gedanken, keine Angst mehr, nur die Kälte. Ich war bereit. Dann merkte ich, dass mich jemand mit starkem Griff packte, ein Mann. Er zog mich aus dem Wasser in ein Boot.“

Die Kommissarin riss Julia aus ihrer Schilderung heraus und fragte: „Wer war dieser Mann, der Sie gerettet hat? Wir wissen aktuell noch nichts über ihn. Er legte Sie circa drei Kilometer weiter am Strand ab, rief den Krankenwagen und verschwand.“

„Ich kann mich an nichts weiter erinnern, erst wieder, als ich im Krankenhaus die Augen aufmachte“, schluchzt Julia, durchströmt von der Wucht ihrer Gefühle, die gerade auf sie einwirken. Zum ersten Mal konnte sie in Worte fassen, was an jenem Tag am Strand in ihr vorging.

„Noch einmal zurück zu Ihrer Aussage am Anfang: Sie sagten, Ihr Leben sei geprägt von Verfolgung. Von wem fühlten Sie sich verfolgt?“, fragt die Kommissarin. „Der Täter von damals wurde nach der Tat gefasst und hat für viele Jahre seine Strafe abgesessen.“

„Hören Sie“, Julia wirkt durch ihren Gesichtsausdruck sichtlich verärgert, „ich weiß, Sie machen nur Ihren Job, aber was wollen Sie eigentlich von mir? Warum befinde ich mich nach einem Selbstmordversuch nicht woanders, in Obhut. Warum hat man mich nach dem Aufenthalt im Krankenhaus hier her gebracht zum Verhör? Was soll das alles hier eigentlich? Warum behandeln Sie mich wie eine Schwerverbrecherin? Ich verstehe das alles nicht.“

Die Kommissarin wirkt plötzlich nervös und versucht sich nichts anmerken zu lassen. Auch nach jahrelanger Erfahrung im Dienst gibt es immer wieder Situationen, die sie unvorbereitet treffen. „Frau Warfge, ich kann Sie beruhigen, das Ganze wirkt auf Sie sicherlich sehr einschüchternd, aber wir wollen Ihnen helfen. Ich weiß, Sie haben jahrelang Tabletten gegen Ihre Psychose genommen. Sie litten unter Verfolgungswahn und Schlaflosigkeit, was ich nachvollziehen kann nach so einer abscheulichen Tat. Aber ich möchte verstehen, ob etwas dran ist an dem, dass Sie jahrelang von einem weiteren Täter verfolgt wurden. Es ist doch schon seltsam, dass Sie einsam an einem Strandstück gelegen versuchen Selbstmord zu begehen und dann rettet Sie jemand, der daraufhin spurlos verschwindet. Dieser Jemand muss Sie beobachtet haben und es lag ihm etwas daran Sie am Leben zu lassen.“

Kommissarin Renori macht eine Pause, trinkt einen Schluck Wasser und sammelt ihre Gedanken um dann fortzufahren: „Ich muss Sie darüber informieren, dass der damalige Täter, der nach vielen Jahren Gefängnis als resozialisiert galt, sich nicht bei der therapeutischen Nachsorge gemeldet hat. Er ist faktisch spurlos verschwunden und der Verdacht liegt nahe, dass er es war, der Sie aus dem Wasser zog.“                                   Panik steigt in Julia auf. Was ist, wenn es stimmt, was die Kommissarin ihr gerade gesagt hat? Geht nun alles von vorne los?

„Was soll ich Ihrer Meinung nach machen?“, fragt Julia, die selbst verwundert darüber ist, überhaupt noch einen klaren Satz herauszubringen.

„Ich würde Ihnen raten unter einer neuen Identität ein neues Leben zu beginnen. Wir ermitteln, wer dieser Mann ist, der Sie aus dem Wasser gezogen hat und suchen weiterhin nach dem spurlos verschwunden Mann, der sich unserer Überwachung entzieht. Und sollte er ein und derselbe Mann sein, der Sie beobachtet hat, dann hat er eine Straftat begangen, indem er Ihnen zu nahe gekommen ist.“

Ein Jahr später:

„Mir ist schlecht, mein Herz rast, was ist plötzlich los mit mir?“. Woher kenne ich diesen Mann, der dort vorne in der Reihe sitzt? Jetzt dreht er sich auch noch um und schaut mich an, ohne Ausdruck im Gesicht, entsetzlich. Ich will sofort hier weg. Was macht er hier?“, denkt Julia panisch und wird aus ihren Gedanken gerissen.

„Geht es dir nicht gut? Es schaukelt ganz schön auf diesem Ausflugsdampfer, aber ich hätte gedacht du bist nach einem Jahr Inselleben seetauglicher“, lacht Enna.

„Ist schon gut Enna, ich bin nur froh, schnell wieder Boden unter den Füßen zu haben“, antwortet Julia und versucht ruhig zu bleiben. Was soll sie jetzt auch machen? Es gibt kaum Handlungsspielraum auf einem Schiff mitten in der Nordsee.

Wieder zu Hause angekommen redet sich Julia ein, dass es nur eine dieser Situationen war, die sie zur Genüge kennt. Eine Einbildung, nichts Reelles. Es gab da niemanden, den sie kannte, außer ihrer Freundin Enna. Der Rest war nur ein Haufen Touristen.

Eine Woche später gehen Enna und Julia am Strand in der Nähe des Hafens spazieren.

„Elisabeth, wir sind schon eine ganze Weile befreundet; genauergesagt, seitdem du hier auf der Insel bist und ich merke, irgendetwas bedrückt dich. Zum Beispiel habe ich beobachtet, wie du dir jedes Mal, wenn wir einen Spaziergang am Strand machen, einen Stein mit Bedacht auswählst und ihn in das Meer wirfst. Dabei hältst du einen Moment inne und ich sehe, dass du an etwas denkst, was dich sehr beschäftigt. Was hat das eigentlich auf sich? Man könnte meinen, du hast eine Art Zwangsneurose“, lacht Enna.

Julia fühlt sich ertappt und antwortet erschrocken: „Weißt du, ich versuche halt die Dinge mit mir selbst auszumachen und dabei hilft mir manchmal, meine Sorgen in das Meer in Form eines Steines zu schmeißen“ und fügt lachend hinzu: „Ich weiß, das klingt wirklich sehr nach Zwangsneurose.“

„Wenn dich etwas bedrückt, dann spuck es aus, ich bin immer für dich da“, sagt Enna und berührt Julia dabei am Arm.

„Danke, das weiß ich sehr zu schätzen.“

„Wenn sie wüsste, was ich fühle und wie mein Leben vor der Insel aussah, dann könnte Sie mich verstehen. Aber ich bin froh, so eine Freundin zu haben, die sich Gedanken um mich macht“, denkt Julia.

„Komm Enna, lass uns dort hinsetzten, wo unser Lieblingsplatz ist. Du weißt doch, da hinten bei den Dünen.“

Beide schlendern zu dem Platz und breiten eine Decke aus. Sie lassen sich fallen und schauen in den Himmel. Enna lässt nicht locker und stellt eine weitere Frage: „Als wir vor einer Woche auf diesem Ausflugsschiff waren, da hast du dich seltsam verhalten. Es kam mir vor, als wenn du jemanden gesehen hast, den du kennen würdest. Nachdem das Schiff angelegt hat, hattest du es plötzlich eilig und bist auf dem Fahrrad davon gebraust. Du hast gerade noch ein `Tschüss` herausgepresst, was war da los?“

„Mir war einfach nicht gut von der Fahrt, irgendwie schwindelig und ich wollte nach Hause, mich auf dem Sofa ausruhen.“, entgegnet Julia.

Beide Frauen verbringen den Tag zusammen, ohne, dass Enna weitere Fragen stellt. Am Abend gehen sie in die Kneipe „Eilun“, trinken einige Biere und Manhattan mit anderen Insulanern und es wird spät, so dass sie sich entschließen ein Taxi nach Hause zu nehmen.

Julia steht bereits auf der Eingangstreppe ihrer Wohnung, als sie Enna, im Auto sitzend, zuwinkt. Ihr fällt auf, dass ihre Katze scheinbar gegen einen ihrer Blumentöpfe gekommen ist, denn dieser liegt zerbrochen auf dem Boden. Vom Taxi sind nur noch die Rücklichter zu sehen, als sie das Handy klingeln hört. Julia zuckt zusammen und versucht sich im Dunkeln umzuschauen, kann aber niemanden ausfindig machen.

„Da liegt ein Handy vor meiner Haustür. Was soll das? Verdammt, was ist das für ein Klingelton? Ich kenne ihn.“ Julia schaut sich abermals um, nimmt mit zitternder Hand das Handy, dreht den Schlüssel um und verschwindet in ihrer Wohnung. Sie schließt wieder ab. Das Handy ist plötzlich stumm. Sie schaltet das Licht im Flur ein.

„Das war kein Zufall mit dem Handy, jemand hat es bewusst vor meiner Tür platziert. Geht das schon wieder los, oder spielt mein Kopf mir einen Streich?“

Sie schaut sich das Handy genauer an und findet in der Galerie vier Bilder, die sie erschaudern lassen: auf dem ersten Foto liegt Julia bewusstlos am Strand. Es muss entstanden sein, nachdem sie der Mann aus dem Wasser gezogen hat und dort ablegte.

Ein weiteres Bild zeigt sie auf ihrem Sofa im Nachthemd in ihrem Wohnzimmer.

Auf dem dritten Bild ist eine Frau auf einer fleckigen Matratze zu sehen. Sie ist gefesselt an Armen und Beinen, nackt, mit einer Augenbinde, ihr Gesicht ist bereits blutig geschlagen und an ihrem Körper befinden sich unzählige Hämatome. Julia kann den Anblick kaum ertragen, denn sie weiß, dass sie diese Frau ist. Ihr wird schlecht. Und sie sieht noch etwas: Jemand hat bei der Vergewaltigung zugesehen und muss dieses letzte Bild gemacht haben. Man sieht einen Mann mit einer Tiermaske, wie er sich gerade an ihr vergeht. Julia wendet ihren Blick ab. Minutenlang schüttelt sie sich in einem bitterlichen Weinkrampf. Als sie zu sich kommt, versucht sie einen klaren Gedanken zu fassen.

„Er weiß, dass ich hier wohne, er hat ein Foto von mir aus meinem Wohnzimmer. Er hat mich beobachtet und das Handy vor meiner Tür platziert, als ich nach Hause kam. Und es war noch jemand bei der Vergewaltigung anwesend. Jemand, der dieses Bild gemacht hat. Ich bin nicht verrückt, da war noch jemand anwesend.“

Das Handy klingelt abermals. Julia schaut starr darauf. „Diese Melodie…“

Sie geht ins Wohnzimmer und schaut durch das Fenster in die Nacht. Nichts ist zu sehen. Da schlägt plötzlich jemand mit flachen Händen gegen die Scheibe, es ist ein dumpfer Ton. Julia schreckt zurück und läuft den Flur entlang in die Abstellkammer. Aus einem Versteck hinter dem Vorratsregal holt sie einen kleinen Revolver hervor, steckt ihn sich in die Tasche ihres Cardigan, rennt in Richtung Badezimmer, stolpert, rappelt sich wieder auf und flüchtet. Sie schließt sich ein. In ihrer Angst denkt sie nicht daran die Polizei zu rufen. Das Klingeln des Handys verstummt. Auf den kalten Fliesen des Badezimmers kauernd, umklammert sie das Telefon. Sie strengt sich an, in die Stille zu horchen, aber man hört nur die Geräusche von den knackenden Balken des Hauses. Sie schaut sich das Handy genauer an und findet in der Kontaktliste eine einzige Nummer. Mit zitternden Händen drückt sie auf den grünen Hörer. Nach einigen Malen klingeln wird am anderen Ende abgenommen, aber niemand spricht, man hört nur den Atem und im selben Moment das Klacken eines Türschlosses. Jemand hat ihre Haustür aufgeschlossen.

„Verdammt, woher hat er diesen Schlüssel?“ denkt Julia.

Hysterisch schreit sie in das Telefon: „Wer sind Sie?

Was wollen Sie?“

Nun hört man eine Männerstimme sagen: „Hallo, Elisabeth, oder soll ich besser sagen: Guten Abend Julia? Ich bin dein Retter, ich habe dich aus dem Wasser gezogen, als du es vorzogst lieber zu sterben. Gefällt dir die Melodie vom Klingelton? Ich habe sie extra für dich ausgewählt, damit du dich erinnerst. Wir haben dir dieses Lied immer vorgespielt um dich zu beruhigen.“

Julia, deren geheime Identität nun aufgeflogen ist, wimmert leise. Sie ahnt, dass sie keine Chance mehr hat zu entkommen.

„Nun, ich habe noch Großes mit dir vor. Da kann ich dich doch nicht einfach so gehen lassen. Dein Video hat sich im Darknet super verkauft und jetzt, wo ich dich wiedergefunden habe, wollte ich fragen, ob du bereit bist für Teil 2. Ich habe den Schänder, der übrigens untergetaucht war, ausfindig gemacht und einen Ort sowie Zeitpunkt verabredet, hier auf der Insel, und das Schöne ist: wir können gleich starten.“

Der Mann legt auf. Julias Herz pocht. Sie vernimmt die zwei Männerstimmen in Ihrer Wohnung und wählt die Nummer der Polizei. Plötzlich hört sie, wie jemand mit einem lauten Krachen mit einer Axt die Tür des Badezimmers einschlägt. „Na, na, du wirst ja wohl nicht die Polizei rufen wollen.“, sagt einer der Männer, nimmt ihr das Handy ab und packt sie grob an den Haaren. Julia schreit hysterisch um Hilfe. Da sie aber in einem abgelegenen Teil der Insel wohnt, kann sie niemand hören. Der Mann führt sie in ihr Schlafzimmer. Dort steht ein weiterer und sie weiß wer er ist, es ist Marc Barehnak, verurteilter Sexualstraftäter, resozialisiert und auf freiem Fuß. Sie hat Todesangst. Ihr Blick schweift herum, sie sieht auf ihrem Bett Fesseln liegen. In einer Ecke des Zimmers steht ein Scheinwerfer, der ihr Bett ausleuchtet und eine Kamera.

Julia schaut dem Mann, der sie festhält, bewusst ins Gesicht. „Das war der Mann auf dem Schiff, das war der Mann, der mich aus dem Wasser gezogen hat. Ich war also nicht verrückt.“

„Lassen Sie mich gehen, bitte!“ fleht Julia. Doch der Mann, der sie in der Gewalt hat drückt, noch fester ihre Handgelenke hinter ihrem Rücken.

Marc sagt mit fester und entschlossener Stimme: „All die Jahre habe ich gesagt, was die Psychologen von mir hören wollten. All die Jahre konnte ich verstecken, was ich dachte. Ich habe lange auf diesen Moment gewartet. Wie hat es sich damals angefühlt, so ausgeliefert zu sein, Julia? Erzähl schon, wie war es für dich, so am Boden zu liegen, nackt, blutig, zu wissen, dass man es vielleicht nicht mehr überlebt? Ich kann dir sagen Julia Warfge, wie ich mich gefühlt habe. Ich fühlte Macht und Kontrolle über dich. Du weißt doch auch, was für ein erhabenes Gefühl es ist, nicht wahr?“

„Du Schwein, du hast genug Schaden angerichtet, lass mich gehen!“, fleht Julia.

Marc fügt dreckig lachend hinzu: „Du hast dich ja extra schick gemacht für uns. Das musste doch nicht sein.“ Er schaut an Julia herunter, seine Blicke widern sie an. „Nachdem du unseren Kiezkönig Harry so eiskalt um die Ecke gebracht hast, da ging unser Geschäft den Bach runter. Wir wissen, dass du es warst. Unser Harry ist elendig verblutet, Julia, und das ist deine Schuld. Er war unser Geschäftsführer, er war der Geldgeber unserer Produktionsfirma, hat immer im Untergrund gearbeitet, bedacht auf eine weiße Weste. Unser verdientes Geld hat er reingewaschen. Wir waren auf Erfolgskurs und du hast alles zunichte gemacht. Außerdem, warum hast du dich geweigert in einem unserer Streifen mitzuspielen? Die Leute hätten dich geliebt. Nun sag du doch auch mal was, Frank! Du hängst hier genauso mit drin wie ich.“

Frank, der Julia noch immer in seiner Gewalt hat, fasst ihr mit einer Hand in die Haare und zieht heftig daran. Er kommt ihrem Gesicht sehr nahe. „Mich würde interessieren, wie es dazu kam. Ich meine, wieso hast du ihn umgebracht?“ fragt er, dabei riecht Julia seinen Atem, der nach Alkohol stinkt.

Sie antwortet ihm unter Tränen: „Harry kümmerte sich damals nach dem Unfalltod meiner Eltern um mich. Ich war gerade 18 Jahre alt geworden. Er gab mir einen Job als Domina, wie ihr wisst. Ich habe immer getan, was er wollte, im geschäftlichen Sinne meinte ich.“ Julia hört für einen kurzen Moment auf zu reden.

„Was bringt es jetzt noch darüber zu sprechen? Ich werde das Ganze hier sowieso nicht überleben“, denkt Julia.

„Und weiter?“, unterbricht Marc sie mit gelangweilter Stimme.

„Dank ihm war ich finanziell gut aufgestellt.“, fährt Julia fort. „Aber Harry hat die Grenze überschritten. Er wollte etwas mit mir besprechen und zitierte mich in das Studio. Er verlangte abermals von mir, dass ich diese Filmchen drehe. Das passte mir nicht, denn ich wollte aus der ganzen Szene aussteigen, mir ein neues Leben aufbauen. Ich wollte gerade gehen, da hielt er mich fest. Er befahl mir, dass ich ihn fesseln und ordentlich versohlen sollte. Er war davon so erregt, dass er mich anflehte, ihn los zu machen und mit ihm in die Kiste zu springen. Ich verneinte. Er wurde richtig aggressiv, schrie mich an. Da sind bei mir die Sicherungen durchgeknallt und ich habe ihn mit einem Revolver, den ich bei mir hatte, erschossen. Ich wollte das alles nicht.“, gibt Julia zu. „Es war im Affekt. Da niemand wusste, dass ich bei ihm war, gab es nie eine Spur zu mir.“

„Julia, Julia, hab ich es doch gewusst. Und weil wir uns an dir rächen wollten und ich schon immer ein Befürworter von Selbstjustiz war, haben wir dich damals gefangen genommen. Weißt du, der Harry war unser Freund. Wie konntest du ihn umbringen, nachdem er dir eine Perspektive gegeben hatte?“, schüttelt Marc den Kopf. „Wir haben übrigens ein Video von damals gedreht, du weißt schon, was ich meine.“, Marc macht eine obszöne Geste. „Unsere Darknet Community hat sich sehr darüber gefreut. Frank hatte das Filmchen gleich hochgeladen.“

„Wir wollten dich abservieren, aber nicht, bevor wir noch Profit aus dir herausschlagen konnten. Leider kam die Polizei an unser kleines Set, jemand muss deine Schreie gehört haben. Ich konnte gerade noch weg mit dem Filmmaterial, aber den Marc, den haben sie gekriegt und eingebuchtet“, fügt Frank hinzu.

In diesem Moment überlegt Julia, wo der kleine Revolver ist. Er befindet sich nicht mehr in ihrer Tasche. Sicherlich hat sie ihn beim panischen Fliehen in das Badezimmer verloren.

„Möchtest du unsere neuste Idee erfahren, Julia? Sie wird dir sicherlich gefallen.“ Marc räuspert sich: „Fräulein Warfge, hätten Sie in Ihren kühnsten Träumen gedacht, dass in Ihrem eigenen Schlafzimmer mit Ihnen in der Hauptrolle und mir, dem Schänder, ein kleiner Streifen gedreht wird? Unsere Community wird uns frenetisch feiern, das können Sie mir glauben. Ich werde mal erklären, wie das ganze hier abläuft: Der Frank, der wird alles filmen. Bevor wir mit dem Filmchen starten und ich mir eine Maske aufsetzte, um nicht erkannt zu werden, darfst du mich noch einmal sehen, wie ich mich ausziehe und dich fessel. Die Maske ist dann reine Vorsicht, damit ich nicht von der Polizei erkannt werde. Frank und ich haben uns nämlich gedacht, dass wir uns dann aus dem Staub machen, nachdem wir dich aus dem Leben begleitet haben, wenn ich das mal vorsichtig formulieren darf. Ach Julia, weinen und flehen bringt jetzt nichts mehr. Der Film wird übrigens live gestreamt.“

Julias Blick wandert auf eine schwere Bronzefigur, die auf einer Kommode im Schlafzimmer steht. Nach einem Handgemenge kann sie sich aus dem Griff des Mannes lösen und bekommt die Figur zu fassen. „Ist die olle Figur von Enna doch noch zu was nütze.“ Geistesgegenwärtig zieht sie die Figur dem Schänder, wie er sich nennt, über den Kopf. Er taumelt benommen und fasst sich an die Schläfe, aus der Blut spritzt.

Julia rennt in den Flur, sieht die kleine Pistole unter dem Schrank liegen und greift sie sich. Frank, der aus der Tür um die Ecke schaut, hat keine Chance mehr. Er wurde sofort von einer Kugel erschossen. „Glatter Schuss in die Kehle“, denkt Julia und sieht Frank am Boden liegen. Seine beiden Hände umfassen den Hals und man kann nur noch ein Glucksen vernehmen. Julia steigt über Frank hinweg und sieht Marc auf dem Bett sitzend. Sie lächelt triumphierend, den Revolver auf ihren Peiniger gezielt, schaltet sie die Kamera ein…

„Frau Warfge, zu Ihrer Information: Dies ist ein Verhör und wir werden es auf Kamera aufzeichnen. Sie wissen, dass Sie bei einem dreifachen Mord für viele Jahre ins Gefängnis müssen?“, belehrt sie Kommissarin Renori.

Julia antwortet nicht.

„Um nochmal auf Ihren Abschiedsbrief zu kommen. Mir scheint, als hätten Sie beim Schreiben nicht nur ihren Selbstmord geplant, sondern auch ihre Tat an Harry Bahn. Es war gar kein Affekt. Nun wird mir einiges klar mit Ihrem Brief, er war ja wie ein Geständnis.“ Die Kommissarin lehnt sich zurück, schaut Julia an und fährt fort: „Ich kann nicht viel für Sie tun. Aber mich würde interessieren, was Sie zu all dem getrieben hat. Es war sicherlich Rache, oder?“

„Wissen Sie, zunächst einmal möchte ich mich bei Ihnen bedanken. Sie haben damals, als ich bei Ihnen war, an mich geglaubt, dass ich verfolgt werde. Sie konnten ja nicht wissen, dass ich den Harry da schon getötet hatte. Dann hätten Sie mir auch nicht zu einer neuen Identität geraten, sondern mich gleich an Ort und Stelle festgenommen. Ich wusste seit dem Tod meiner Eltern nicht mehr, wer ich war. Ich wusste es auch nicht nach meinem Selbstmordversuch oder meinem neuen Leben auf der Insel. Ich habe jahrelang Tabletten genommen um mich zu betäuben. Ich habe nie erfahren, wer ich eigentlich wirklich bin. Und doch weiß ich es nun.“ Mit Blick zur Kamera und einem höhnischen Lächeln im Gesicht flüstert Julia: “Ich bin eine eiskalte Mörderin.“

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