LisaOlleSchau nicht in den Himmel

1

Nach der dritten roten Ampel gab John die Idee auf, pünktlich nach Hause zu kommen. Genervt wartete er, bis die Ampel endlich auf Grün umschlug. Er wusste genau, was ihn Zuhause erwartete. John malte sich das enttäuschte, vorwurfsvolle Gesicht seiner Frau aus, weil er mal wieder das Essen verpasste. „Immer dieser bescheuerte Fitnessdrang“, würde Josi sagen und dann demonstrativ seinen leeren Teller in den Schrank knallen. Seit dem Ereignis vor ein paar Monaten war Josi total empfindlich gegenüber Allem, dass ihr nicht in den Plan passte. John verstand, dass sie einfach versuchte, weiterzuleben, einfach versuchte, ihrem Dasein Struktur zu geben und den Schmerz für kurze Zeit zu vergessen. Verstand sie denn nicht, dass ihr gemeinsames Leben nie wieder so werden würde, wie es einmal gewesen war? Kein drei-Gänge-Menu der Welt und kein lustiger Abend mit Freunden konnte diese Nacht ungeschehen machen. John lenkte seinen Wagen in die Einfahrt und schnappte seine Sporttasche. Er schloss die Wohnungstür auf und horchte. Zu seiner Überraschung lag das Haus im Stillen. „Josi, ich bin daheim“, rief er und horchte erneut. Nichts. Ungewöhnlich, dachte er. John ging in die Küche. Keine Töpfe voller Essen, sondern ein komplett unberührter Raum. Eigentlich stand bei Josi das Essen immer Punkt 18 Uhr auf dem Tisch. Ob sie  noch einmal zum Einkaufen gefahren war? Seine Frage wurde durch einen Zettel am Kühlschrank beantwortet: Ich bin noch unterwegs, mach dir ein Brot, stand in Josis schöner Handschrift auf dem Papier. Seufzend öffnete John den Kühlschrank und nahm sich ein Bier. Zum Glück hatte er noch Zeit, bevor Josi nach Hause kam und ihm wieder Vorwürfe machen konnte. Ständig hatte sie etwas zu meckern. Lag wohl an dem Stress, sagte er sich immer wieder und doch war er sich fast sicher, dass ihre Ehe diese Belastung nicht lange aushalten würde. Diese eine Nacht war für sie beide schlimm gewesen, er hätte es ihr nicht erzählen sollen. Hätte er damals seine Klappe gehalten, hätte er Josi wenigstens nicht damit belastet. Leider kannte sie ihn sehr gut und es war John kaum möglich, ihr etwas zu verheimlichen. Deswegen hatte er ausgepackt und auf ihr Schweigen gebaut. Sie war am Tisch gesessen, blass, ohne Ausdruck im Gesicht, während John auf ihre Reaktion gewartet hatte. „Das darf niemals jemand erfahren, niemals!“ hatte sie gesagt und seitdem hatten sie nie wieder ein Wort darüber verloren. John wusste, dass Josi ihre Familie beschützen wollte, genauso wie er. Sie schwieg nicht etwa aus Liebe zu ihm, sondern aus Liebe zu ihrem Sohn Henry, der nicht ohne den Vater aufwachsen sollte. Josi würde es nicht ertragen, in Henrys traurige, blaue Augen zu sehen, wenn sein Papa nicht nach Hause kommen würde. John atmete ein paar Mal tief ein und aus und lies seinen Blick durch die Küche schweifen, die mit selbst gemalten Kinderbildern geschmückt war. Henry hatte eindeutig gerade eine kreative Phase. Eines der neueren Bilder zeigte ihr Haus mit dem kleinen Baum und der Schaukel. Neben dieser standen Henry mit Grinsegesicht und John und Josi, die freundlich und zufrieden lächelten. John lief es kalt den Rücken herunter. Was hatte er seiner Familie angetan? Wie konnte er jeden Tag mit seinem dunklen Geheimnis leben? Er ging erneut zum Kühlschrank und holte sich ein weiteres Bier, um sich seine Frage selbst zu beantworten. Nur mit Bier und Fitnesstraining überstand er momentan den Tag. Auf der Arbeit war er oft zerstreut und abwesend. Dann spürte er, wie das Verlangen nach einem kalten Bier unerträglich wurde. Sein Chef hatte ihm nahegelegt, sich mehr zu bemühen. Die Kunden würden sich schon beschweren. „Ich erkenne Sie gar nicht wieder John, sonst sind Sie einer der Besten“, hatte sein Chef heute Morgen gesagt. John leerte das zweite Bier mit ein paar schnellen Zügen und warf beide Dosen in den Mülleimer. Er machte sich schon gar nicht mehr die Mühe, die leeren Dosen vor Josi zu verstecken. Sie würde sie sowieso finden und sich bei ihm darüber beschweren. John ging in den Flur und nahm seine Sporttasche. Er würde sie ausräumen und in den Keller tragen, sodass Josi wenigstens hier keinen Grund fand, ihn anzumeckern. John stieg die Kellertreppe herunter, warf die verschwitzten Klamotten vor die Waschmaschine und stellte die Turnschuhe zum Lüften daneben. Als er sein Handtuch auseinander faltete, hörte er einen Knall. Erstaunt sah sich John auf dem Boden um und entdeckte ein kleines rotes Handy. Wo kommt das denn her?, fragte er sich verwundert. Er hatte dieses Handy nie zuvor gesehen. Klein, rot und geheimnisvoll lag es nun in seinen Händen. Es war ein sehr altes Modell, wahrscheinlich noch nicht einmal fähig, etwas zu googlen und weit entfernt von Siri und solchen Geschichten. Das Handy war bestückt mit einzelnen Tasten für Zahlen und Buchstaben und hatte einen dicken Knopf in der Mitte. Ob das Ding vielleicht Josi gehörte? Schnell malte sich John eine Affäre aus. Vielleicht hatte Josi einen Verehrer und kommunizierte über dieses Handy mit ihm. Wütend über diesen Gedanken, aber auch neugierig, drückte John die dicke Taste in der Mitte. Das Handy entsperrte sich sofort. Auf dem kleinen Display konnte er eine Mitteilung erkennen: Eine neue Nachricht von Unbekannt. Unbekannt, dachte John geekelt. Welch ein Klischee. Er steuerte mit dem dicken Knopf auf die Nachricht. Sein Herz begann schneller zu schlagen und er spürte, wie es ihm kalt den Rücken herunter lief. Wie war das möglich? Niemand wusste von seinem Geheimnis, oder etwa doch? Er war in der Nacht alleine gewesen. John las den Text immer wieder, solange, bis die Buchstaben vor seinen Augen flimmerten. Die Nachricht hatte einen Anhang. Noch immer bekam John kaum Luft, als er diesen öffnete. Er starrte auf das Display, das langsam ein Foto anzeigte. Entsetzt blickte John in seine eigenen Augen. Das war er! Beim Sport, beim Einkaufen, mit seinem Sohn auf dem Fußballplatz. John ließ langsam das Handy sinken und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Vielleicht ein Neider im Büro? Aber woher sollte jemand von dieser Nacht wissen? Niemand hatte ihn gesehen. Welches Detail war aus seinen Erinnerungen verschwunden, das er jetzt so dringend brauchte? Johns Gedanken waren wild und kreisten. Er hatte extrem viel getrunken und konnte sich daher nur an Bruchteile erinnern. Ein Knall, ein Aufschrei, der Schock. John schüttelte den Kopf und raufte sich die Haare. Vielleicht war das alles nur ein Streich seiner Phantasie. Er sollte aufhören, so viel zu trinken. Das Display des Handys war bereits schwarz, als John wieder etwas bei klarem Verstand war. Erneut drückte er die mittlere Taste und las den Text laut vor, um sich ganz sicher zu sein, dass dies nicht in seinem Kopf passierte, sondern real war: „Deine Blöße soll enthüllt und deine Schande gesehen werden: Rache will ich nehmen und keines Menschen schonen. (Jesaja 47:3)“

2  

Sein Plan war absolut perfekt. Niemand würde ihn verdächtigen. Dieser Mann sollte genauso leiden, wie er selbst es seit jener Nacht tat. Beinahe hätte er ihm alles genommen: Seinen Lebenswillen und seine Tochter, das Wichtigste in seinem Leben. Doch Gott hatte einen anderen Plan für ihn vorgesehen. Deshalb lebte seine Kleine, deshalb konnte er sie nach Monaten im Koma endlich wieder in die Arme schließen. Auch wenn der Mann seiner Tochter Monate ihres Lebens gestohlen hatte, so hatte sie sich doch kein bisschen verändert, war nach wie vor das fröhliche, kleine Mädchen, das alle kannten. Seine kleine Lena. Er sah auf die Uhr und bemerkte, dass er bereits zwei Stunden an ihrem Bett saß und ihr beim Schlafen zusah. Zum gefühlten hundertsten Mal strich er ihr durch die Haare, seufzte und verließ dann leise das Schlafzimmer. Seine Nähe zu Gott hatte ihn all die Jahre begleitet, aber noch nie hatte Gott ihn und seine Lena derart beschützt, wie in dieser schwierigen Zeit. Es war wirklich ein glücklicher Zufall, dass Lena den Mann aus jener Nacht wiedererkannt hatte. Sie war sich absolut sicher gewesen, dieses Gesicht damals gesehen zu haben, als sie dem Kerl am Tor ihrer Grundschule begegnet war. Erschrocken  hatte sie einfach nur da gestanden und er hatte große Mühe gehabt, sie zu überzeugen, in sein Auto einzusteigen. „Was ist los?“, hatte er Lena gefragt. Lena hatte dem jungen Mann hinterher gestarrt, der mit einem kleinen Jungen an der Hand zu einem schwarzen Sportauto lief. Der Mann hatte den Schulranzen des Jungen genommen und ihn in den Kofferraum gelegt. „Papa, das ist der Mann aus dem Auto damals“. Seine Tochter war zwar gerade erst in der vierten Klasse, aber sehr intelligent für ihr Alter. Wenn sie behauptete, dass dies der Mann aus jener Nacht gewesen war, dann gab es daran keinen Zweifel. „Danke, oh Herr!“,  hatte er leise gemurmelt und kurz in den Himmel gesehen. „Bist du dir wirklich sicher? Es ist sehr wichtig, dass du dir hundert Prozent sicher bist“, hatte er sie ermahnt. Sie hatte genickt.

3

Johns Blick war verschwommen und er hatte Mühe, noch geradeaus zu sehen. Er trat die Bierdosen vom Wohnzimmertisch und streckte die Beine aus. Er fühlte sich berauscht vom Alkohol und vom Adrenalin, das immer noch durch seinen Körper schoss. Was wollte der Unbekannte von ihm? John hatte das Handy seit dem Fund nicht mehr aus den Augen gelassen. Bei jedem kleinen Geräusch im Haus nahm er es wieder zur Hand, bereit, eine neue Nachricht zu erhalten. Aber nichts. Kein Anruf und auch keine Nachrichten. Mittlerweile war es bereits mitten in der Nacht. Wo blieb Josi? Es war sehr ungewöhnlich für sie, dass sie so spät noch unterwegs war. Als ob sie seine Gedanken gelesen hätte, hörte er den Schlüssel in der Haustür. John erschrak und setzte sich kerzengrade auf. Josi betrat das Wohnzimmer, ließ ihren Blick über John und die Bierdosen schweifen, sagte aber nichts. „Ich räume gleich auf“, nuschelte John und wartete auf eine laute Reaktion seiner Frau. Doch Josi sah ihn nur angeekelt an, nickte und verließ den Raum wieder. John packte die Bierdosen zusammen und warf sie in  den Müll. Wieder blieb er am Kühlschrank stehen und betrachte Henrys Bild. Ein greller Piepton riss John aus seinen Gedanken. Das Handy, dachte er panisch und rannte zurück ins Wohnzimmer. Eine neue Nachricht blinkte auf dem Display auf. Ohne darüber nachzudenken, öffnete John die Nachricht: Blumenstraße 25, morgen um 0 Uhr, komm alleine, sonst werde ich dein kleines Geheimnis verraten. Wir wollen doch nicht, dass alle erfahren, dass du ein Mörder bist. Ein Mörder? Johns Herz begann laut zu schlagen. Das Kind war tot? Das hatte er nicht gewollt. Er war sich sicher gewesen, dass das Kind überleben würde, nie hatte er sich Gedanken darüber gemacht, dass seine Tat solche großen Folgen haben könnte. Seit diesem Abend hatte er Angst davor, im Gefängnis zu landen, seinen Sohn und seine Frau zu verlieren. Deshalb blieb ihm nun keine Wahl, er musste sich dem Unbekannten stellen.

4

Er hatte alles genau durchdacht. Es konnte gar nichts schief gehen. Die Idee war genial. Gestern hatte er bestimmt eine Stunde lang vor der Grundschule auf den Mann gewartet, um ihm dann unauffällig zu folgen. Der Typ war einmal quer durch die Stadt gefahren und hatte vor einer kleinen Werbeagentur gehalten. Schnell hatte er einige Fotos geschossen, während der Mann das Auto verließ. Die Bilder hatte er für seinen Plan gebraucht. Wahrscheinlich arbeitete der Kerl dort, hielt erfolgreiche Präsentationen und strebte eine großartige Karriere an. Er erinnerte sich, wie er vor der Werbeagentur gewartet hatte, das Radio voll aufgedreht um sich nicht zu langweilen. Er hatte die Menschen beobachtet, die fröhlich über die Straßen liefen und das tolle Wetter genossen. Als es bereits dunkel geworden war, hatte der Mann endlich die Werbeagentur verlassen und war  auf dem kleinen Parkplatz in seinen Wagen gestiegen. Er hatte den Motor angelassen und war dem Mann in die Innenstadt gefolgt bis zu einem Fitnessstudio, wo das Arschloch mit seiner Sporttasche bepackt zum Eingang gegangen war. Keine Frage, er hatte ihm folgen müssen. Die junge Frau am Empfang hatte ihn skeptisch gemustert, ihm aber ein Anmeldeformular gegeben, das er ausfüllt hatte. Sie hatte das Formular abgeheftet und ihm gezeigt, wo es zu den Umkleiden ging. Er hatte sich bedankt und war zügig in Richtung der Umkleiden gegangen. Hier hatte er Ausschau nach dem Mann gehalten. Er hatte ihn nicht entdecken können, sehr wohl aber seine blaue Sporttasche, die auf einer Bank in der Umkleidekabine gestanden hatte. Mit einer raschen Bewegung hatte er das Handy in die fremde Tasche gesteckt und den Raum wieder verlassen. Die Dame am Empfang hatte ihn erstaunt angesehen, als er an ihr vorbeigestürmt war. „Ein unvorhergesehener Termin“, hatte er in ihre Richtung gerufen. Heute musste er über diese Geschichte lächeln. Sein Timing war perfekt gewesen. Wie gerne würde er mit seiner Tochter einen Ausflug machen, aber der letzte war beinahe tödlich geendet und seitdem war er übervorsichtig. Er erinnerte sich noch genau an die Tankstelle, bei der er vor ein paar Monaten getankt hatte. Lena wollte sich nur kurz die Beine vertreten, schließlich waren sie eine halbe Ewigkeit durchgefahren. Sie war aus dem Auto gestiegen und war ein Stück gelaufen. Es war bereits dunkel gewesen und sie hatte immer wieder zur Tankstelle geschaut und ihm zugewinkt. Das Auto war urplötzlich über den Parkplatz der Raststätte gerast, hatte sie an der Seite erwischt und über den schmalen Rasenstreifen geschleudert. Der Fahrer hatte nur kurz angehalten und war dann mit Vollgas davongefahren. Er erinnerte sich, wie er gerannt war, so schnell wie er noch nie in seinem ganzen Leben gelaufen war. Lena lag blutüberströmt mit schweren Verletzungen an der Seite und am Kopf auf dem Boden. Dunkel erinnerte er sich an den Krankenwagen, die wild durcheinander rennenden Sanitäter, die Lena in den Krankenwagen geladen hatten. Und er erinnerte sich, wie er sich auf die Wiese niedergelassen  und geweint hatte.

5

John hatte die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Am nächsten Morgen fühlte er sich matt und antriebslos. Auch den Kater konnte er deutlich spüren, kein Wunder bei all dem Bier, das er getrunken hatte. Er dachte darüber nach, was ihn heute Abend erwartete und ob er vielleicht doch jemandem von dem Handy erzählen sollte. Aber der Unbekannte war deutlich gewesen: Er sollte alleine kommen. Leise, um Josi nicht zu wecken, stand er auf und ging die Treppe herunter in die Küche. Sein ganzer Körper tat weh und er sehnte sich nach einem Kaffee. Das Handy hatte er in der Hosentasche seines Jogginganzuges aufbewahrt. John hatte Angst, Josi könnte es finden und ihm Fragen stellen. Sie hatte genug mitgemacht in der letzten Zeit. Jetzt war er dran, alles wieder in Ordnung zu bringen. Zum Glück war heute Samstag und er musste nicht zur Arbeit fahren, denn es war bereits nach zehn Uhr. John sah zu, wie Tropfen für Tropfen des Kaffees durch den Filter floss und sich die kleine Kanne füllte. Er goss sich eine Tasse ein und nahm einen großen Schluck. Sofort merkte er, wie das Leben wieder zurück in ihn floss. Johns Blick fiel auf den Messerblock. Vielleicht sollte er sich heute Abend wenigstens mit einem Messer bewaffnen. Wer wusste schon, was der Kerl wollte und wozu er fähig war. Wie aufs Stichwort, piepte das Handy. Wieder eine Nachricht von Unbekannt. Erneut beinhaltete sie ein Foto. Deutlich zu erkennen war der kleine Henry auf der Schaukel eines Spielplatzes. Der Unbekannte wusste also von Henry. John wurde wütend. Der Kleine hatte nichts mit dieser Sache zu tun. Niemals würde er es sich verzeihen, wenn Henry etwas zustoßen würde. Mit einem schnellen Griff zog John ein Messer aus dem Messerblock und betrachtete sich die Klinge. Ja, beschloss er. Diese Klinge würde eindeutig ausreichen, um sich im Notfall das Leben zu retten. „Was willst du denn mit dem Messer?“, hörte er Josis verschlafene Stimme hinter sich. Er fuhr herum und sah ihr mit dem Messer in der Hand direkt in die Augen. Erschrocken starrte sie ihn an und ging ein paar Schritte zurück. „Ach nichts…“, sagte er leise und steckte das Messer zurück in den Messerblock. Was war nur los mit ihm? Wäre er tatsächlich fähig, es als Waffe einzusetzen? Aber hatte er eine Wahl? Der Unbekannte hatte ihn sicher nicht eingeladen, um Kaffee zu trinken oder zu plaudern. John beschloss, sich einen Moment lang abzulenken. „Ich mache uns Frühstück. Eier mit Tomaten und Toast, okay?“, sagte er und griff nach einer Pfanne. Josi nickte und ging ins Wohnzimmer. John würde sich das Messer später besorgen.

6

Er sah sich seine Einkaufsliste noch einmal durch. Zufrieden stellte er fest, dass er alles gefunden hatte. Seile, Klebeband, eine gute Holzsäge. Alles was er benötigte, um seinen Plan zu vollenden. Er schob den Einkaufswagen durch die Gänge, vor zur Kasse. Die Kassiererin war schnell und hatte ihn nach wenigen schnellen Handgriffen abkassiert. Lächelnd wünschte sie ihm noch einen guten Tag. Sie hat Recht, dachte er vergnügt. Heute war auf jeden Fall ein guter Tag. Schnell lud er seine Einkäufe ins Auto. Ob er dem Kerl noch ein, zwei Fotos schicken sollte? Immerhin wusste er jetzt, wo sich sein Sohn aufhielt. Er zog sein Prepaid- Handy aus dem Handschuhfach und sah die Bilder durch, die er bereits geschossen hatte. Der Kleine war zwar zu erkennen, allerdings waren die Bilder unscharf. Wütend warf er das Handy zurück in das Handschuhfach. Dann musste das Spielplatzfoto eben reichen. Er lenkte den Wagen geschickt durch die kleinen Gassen und fand einen Parkplatz direkt vor seiner Haustür. Ein göttlicher Zufall, dachte er zufrieden. Seit Gott mit ihm war, fiel ihm alles leicht. Er wusste, egal was er tun würde, der Herr würde ihm seine Sünden vergeben. Er stieg aus dem Auto und öffnete die Garage. Die Einkäufe legte er ordentlich auf den kleinen Abstelltisch. Jetzt war er absolut bereit und der Mann konnte kommen. Er würde ihm geben, was er verdient hatte. Die Garage war durch eine Treppe mit seinem Haus verbunden, diente somit ebenfalls als Keller und war absolut schallisoliert. Früher hatte er hier mit seiner Band geprobt. Sie hatten ihn vor kurzem herausgeworfen, da er sich ihrer Meinung nach seltsam verhielt. Nicht seltsam, dachte er. Einfach nur konzentriert. Bei seinem Plan durfte nichts schief gehen, denn er hatte nur eine Chance. Den Mann konnte er ohne Probleme in den Keller und somit in die Garage locken. Keinen Zweifel, dass der Typ ihm folgen würde, er hatte schließlich genug in der Hand gegen ihn. Gott hatte ihn zu einem anderen Menschen gemacht. Er war nicht mehr nur der liebende Vater, der seiner Lena jeden Wunsch von den Augen ablas. Nicht mehr der Religionslehrer an einem Gymnasium, der sich viel Zeit für seine Schüler nahm. Er hatte seinen Job gekündigt, um mehr Zeit bei Lena im Krankenhaus verbringen zu können und hatte sich zunehmend verschlossen. Das war angeblich auch der Grund gewesen, weswegen seine Frau ihn verlassen hatte. Egal wie oft er sie weinend angerufen hatte, sie möge zurückkommen, sie hatte nie auch nur ein einziges Mal den Hörer abgenommen. Lena hatte monatelang im Koma gelegen. Aber Gott hatte sie zurückgeholt. Nun war es seine Pflicht, ihm die Seele dieses Mannes zu schenken. Das Leben des Mannes, gegen das seiner Tochter. Das war doch ein absolut fairer Deal. Sein Blick fiel auf die große Tiefkühltruhe, die in der Ecke der Garage vor sich hin brummte. Er öffnete den großen Deckel und sah hinein. Sie war bis auf ein paar Eis und einem eingefrorenen Hackbraten leer. Er nahm alles heraus und klemmte es sich geschickt unter den Arm. Dann schloss er die Truhe und ging die Treppe nach oben. „Lena, Liebes? Heute gibt es Hackbraten und danach ein Eis. Wir brauchen den Platz in der Gefriertruhe!“.

7       

John hatte Henry unversehrt von seinem Grundschulfreund abgeholt und war dann schnell nach Hause gefahren. Er war  nervös und fühlte sich die ganze Zeit beobachtet. Wahrscheinlich verfolgte der Unbekannte ihn. Aber egal, wie oft John in den Rückspiegel gesehen hatte, hinter ihm hatte er kein anderes Auto erkennen können. Zuhause angekommen wiederstand er dem Drang zu trinken. Er musste heute Abend absolut nüchtern sein, das war entscheidend. Josi bemerkte seine Unruhe, sagte aber nichts. Sie war zu sehr damit beschäftigt, das Haus aufzuräumen und wollte sich wohl nicht auch noch mit seinen Problemen befassen. John zappte gedankenverloren durchs Fernsehen und beobachtete Henry, der mit ein paar Legosteinen auf dem Fußboden spielte. Ein ungutes Gefühl überkam ihn. Was wäre, wenn er heute Abend nicht wieder nach Hause kommen würde? Was wäre, wenn er nicht stark genug sein würde und der Unbekannte ihm Etwas antat? Was wäre, wenn das das letzte Mal wäre, dass er Henry beim Spielen zusah? Diese Gedanken verursachten John  Kopfschmerzen. Er war schon lange nicht mehr er selbst. Wenn er morgens in den Spiegel sah, sah ihn ein blasser Mann mit dicken schwarzen Ringen unter den Augen, an, der von Tag zu Tag dünner wurde. Wenn er sich doch bloß an Details aus jener Nacht erinnern könnte. Immer, wenn er es versuchte, konnte er den Augenblick nicht greifen. Zu schnell waren die Erinnerungen wieder verschwommen, als dass er sie speichern könnte. John wusste, dass er sich endlich seiner Tat stellen musste, um wieder ein normales Leben führen zu können. Aber es stand einfach zu viel auf dem Spiel. Er wollte das bisschen, was er noch im Leben hatte, seine halb kaputte Ehe und seine Beziehung zu dem kleinen Henry, um jeden Preis retten. Schleppend bewegte sich der Zeiger der Uhr ein wenig weiter. John wollte es jetzt endlich hinter sich haben. Wie gerne würde er dem Unbekannten antworten. Doch Unbekannten konnte man keine Nachricht zurücksenden, deswegen musste er wohl oder übel damit klar kommen, dass er erst heute Abend Bescheid wissen würde, was die ganze Sache sollte. Ob er ihn in Ruhe lassen würde, wenn er sich der Polizei stellte? Aber das kam nicht in Frage. Er würde den Unbekannten dazu bringen müssen, ihn in Ruhe zu lassen. Auch wenn er nicht mehr der Kämpfer war, der er mal gewesen war, so musste er das heute Abend noch einmal sein. Für seinen letzten, alles entscheidenden Kampf. „Henry mein Schatz, komm mal bitte her“. Der Kleine sah auf, legte seine Legosteine hin und setzte sich zu seinem Vater auf die Couch. „Du weißt, dass ich dich super lieb habe, richtig?“, fragte John und nahm Henry in seine Arme. Der Kleine kuschelte sich in seine Umarmung und John begann lautlos zu weinen.

8

Die Uhr schlug Mitternacht. Im Haus war kein Geräusch zu hören, Lena schlief tief und fest. Er war bereit. Sein Herz schlug in einem gleichmäßigen Takt. Er war nicht nervös, denn er hatte keinen Grund dazu. Er lauschte und wartete in der Stille, bis er ein Knacken vor der Haustür vernahm. Da ist er ja, dachte er und seine Vorfreude wuchs ins Unermessliche. Mit einem einzigen, schnellen Satz war er an der Tür und riss sie auf. Dann stand er ihm gegenüber. Sekunden vergingen während sich die beiden Männer anstarrten. „Rein da!“, sagte er grob und zog einen kleinen Revolver aus seiner Hosentasche. Er gehörte zu seinem Cowboy Kostüm, dass er auf dem Dachboden wiedergefunden hatte, und in der Dunkelheit war nicht zu erkennen, dass die Waffe unecht war. Der Mann trat ein und er schloss die Tür. „Hier lang!“. Er fuchtelte mit der Waffe in Richtung der Kellertür. Der Mann hob die Hände und ging voraus. „Aufmachen!“ delegierte er weiter und deutete auf die Tür. Der Mann öffnete sie und sie gingen hinunter. „Setzen!“. Er zeigte auf einen Stuhl, den er vorbereitet hatte und richtete weiter die Waffe auf den Mann. Bis jetzt hatte dieser die Echtheit noch nicht angezweifelt. Der Mann setzte sich und starrte ihn an. „Wie heißen Sie?“, fragte er den Mann. Er wollte den Namen dieses miesen Schweines kennen und er wollte ihm ebenso seinen geben, sodass er ihn nachher anflehen konnte, ihm zu vergeben. „Ich heiße John! Verdammte Scheiße, was soll ich hier?“, schrie der Mann. Ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen sagte er: „Ich heiße Joshua. Der Herr selbst suchte mir diesen Namen aus. Sie wissen genau, wieso Sie hier sind.“. Joshua wedelte mit der Waffe  herum. „Sie sind hier, um den Preis für Ihr Verbrechen zu bezahlen!“.

9

John sah Joshua entsetzt an. Ihm war klar geworden, dass dieser Mann unberechenbar war. „Sagen Sie mir, was Sie wollen! Wollen Sie Geld? Dass ich mich der Polizei stelle? Was wollen Sie?“. Joshua kam näher und schlug John mit der Faust ins Gesicht. Dieser stöhnte auf. Ihm wurde schwindelig. Er versuchte, sich wieder zu fassen, wieder klar sehen zu können. „Sie haben meine Tochter angefahren, Sie mieses Stück Scheiße! Ihr Leben für Ihres!“ schrie Joshua ihn an und schlug ihm erneut ins Gesicht. John spürte, dass er kurz davor war, das Bewusstsein zu verlieren. Ein dröhnender Schmerz fuhr ihm durch den Kopf und ein Schleier der Benommenheit legte sich langsam über ihn. Alles war verschwommen, aber ganz langsam tauchten Bilder vor seinem inneren Auge auf. Was war das? War er tot? Die Bilder wurden klarer und er erkannte, dass es sich um eine Erinnerung handelte: Die laute Bar, in der er in dieser Nacht gesessen hatte. Er hatte damals auf seine Uhr geschaut und festgestellt, dass es bereits weit nach Mitternacht war. Er hatte seine Rechnung bezahlt und war hinaus getorkelt. John hatte in seiner Tasche nach dem Schlüssel gekramt und laut geflucht, als er an seinem Wagen angekommen war.  „John? Bist du das?“. Eine Stimme aus der Ferne. Eine bekannte Stimme? Erst als die Person ins Licht der Laterne getreten war, hatte John sie erkannt: Es war Josi! „Was willst du, Josi? hatte John ihr entgegen gelallt. „Connor hat mich angerufen, er sagte du hast mal wieder zu viel getrunken und war sich sicher, dass du noch fahren wolltest. Scheinbar hatte er auch Recht damit. Wir holen meinen Wagen morgen. Los steig ein, ich fahre!“ John hatte ihr die Schlüssel gegeben und war auf den Beifahrersitz getorkelt.

10

John war immer noch bewusstlos. Joshua tobte vor Wut und schlug erneut zu, in der Hoffnung, John würde dadurch wieder aufwachen. Der Mann begann zu husten und schlug die Augen auf. Benommen sah er sich in der Garage um. „Ich bin nicht gefahren… Die ganze Zeit dachte ich, ich sei ein Mörder. Die ganze Zeit hat sie mir nur etwas vorgespielt“. John redete mit sich selbst und sah auf einmal so verzweifelt aus, dass er Joshua schon fast Leid tat. Aber nein, er hatte eine Mission, die durfte er nicht aus den Augen verlieren. „Was heißt dass, du bist nicht gefahren, du widerliches Stück Scheiße“, brüllte Joshua ihn an und schlug ihm erneut mit der Faust ins Gesicht. John schrie auf. Sein Gesicht war blutig und geschwollen. Er spuckte sein eigenes Blut vor sich auf den Boden. „Meine Frau… Sie war es. Sie ist gefahren!“. Joshua konnte es kaum fassen. Dieser Sünder, jetzt begann er auch noch zu lügen? Er sollte dem Ganzen ein schnelles Ende machen und ihn zu Tode prügeln. Joshua holte erneut aus, hielt sich dann aber einen Augenblick zurück, als er sah, dass John zu weinen begann. „Ich habe niemanden getötet, es war ein Unfall. Bitte…“ flehte er und wischte sich Blut und Tränen aus dem Gesicht. Joshua konnte das Flehen kaum ertragen und für einen kurzen Moment zweifelte er an seiner Mission. Liebe deinen Nächsten, vergebe mir Vater, denn ich habe gesündigt, dachte er. „Papa?“ Joshua fuhr schlagartig herum. Lena.

11

John konnte es kaum glauben. Das Mädchen war am Leben. Jetzt konnte er die Fassung kaum bewahren und weinte wie ein kleines Kind. All der Schmerz und die Enttäuschung über Josis Verrat flossen mit seinen Tränen hinaus. Joshua ging zu seiner Tochter und packte sie an den Armen. Er hatte wohl vergessen, die Kellertür abzuschließen. „Das verstehst du nicht, meine Kleine“, murmelte er leise. Das Mädchen schaute ihn verwirrt an: „Ich konnte nicht schlafen, da habe ich dich gesucht. Die Tür war auf und da dachte ich du bist hier unten“. John versuchte den Moment zu nutzen und sich vom Stuhl zu erheben. Doch ihm war so schwindelig, dass er sich direkt wieder hinsetzten musste. An das Messer, das er in seiner Jackentasche hatte, war in diesem Moment gar nicht zu denken. Er würde den Mann nur verfehlen und sich am Ende selbst verletzen. „Gott holt sich den Mann, der dich angefahren hat“. Joshua deutete auf John. Lena folgte seinem Zeigefinger und meinte dann nur: „Aber Papa, vielleicht war er es doch nicht. Lass ihn bitte gehen“. Joshua brüllte seine Tochter an: „Ich hatte dich gefragt, du warst dir sicher gewesen!“ Lena fuhr erschrocken zusammen, zuckte dann aber mit den Schultern: „Keine Ahnung, es war doch dunkel“. John konnte es nicht fassen. Das Ganze diente einem Racheakt aufgrund der Aussage eines Kindes? Joshua ging zur Tiefkühltruhe und schlug mit aller Wucht wieder und wieder darauf. Er schrie und weinte, beides gleichzeitig, ein Akt der Verzweiflung und der Vernunft. John nahm all seine Kraft zusammen. All die Wut, aber auch die Erleichterung, dass die Schuld, mit der er gelebt hatte, reine Illusion gewesen war, gaben ihm neue Kraft. Und dann rannte er.

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