JelenaFreier Fall

Der Schrei des jungen Mädchens war meilenweit zu hören. Blätterrascheln, dann der dumpfe Aufprall. Der verdrehte Körper des Mädchens am Boden. Stille. Ein Anruf. Sirenen. Der Arzt, welcher nur den Tod des Mädchens feststellen konnte.

 

1 Jahr später

Unschuldig! Er wurde freigesprochen. Ein Jahr hatte der Prozess gedauert. Ian war überglücklich. Nun konnte er wieder seinem gewohnten Leben nachgehen und musste sich keine Gedanken mehr über die Vergangenheit machen. Die Sonne schien ihm ins Gesicht. Er schloss die Augen und spürte jeden einzelnen Strahl in seinem Gesicht. Er atmete einmal tief ein und wieder aus. Obwohl er nie in einer Strafvollzugsanstalt gesessen hatte, fühlte er sich, als wenn er lange Zeit gefangen gewesen war. Auf dem Weg zu seinem kleinen Häuschen am Stadtrand, hielt er an seinem Lieblingsimbiss, um sich ein Thunfisch-Käse-Sandwich zu kaufen, sein Lieblingssandwich. Zuhause angekommen, nahm er sich sein Sandwich und bereitete sich auf den Unterricht morgen vor. Er hätte nicht gedacht, dass er das jemals denken würde, aber er hat die pubertierenden Teenager seiner 12ten Klasse doch sehr vermisst.                                                                                                                          Am nächsten Morgen machte er sich voller Elan auf den Weg zur Gesamtschule der Stadt. Es war der erste Tag, seitdem der Prozess begonnen hatte, an dem er seinen Job als Lehrer wieder antreten durfte. Er stieg aus seinem uralten VW, von dem er sich nie hatte trennen können, und wurde direkt von Frau Schmidt, der Mathelehrerin der Gesamtschule, begrüßt. „Hallo Ian, schön das du wieder da bist!“ Sie hatte ihn schon immer gemocht. Er war einer dieser Lehrer, der seinen Stoff gut vermittelte, sich immer auf dem Laufenden hielt und den die Schüler trotzdem vergötterten. Es gab sicherlich auch ein, zwei Schülerinnen die heimlich für ihn schwärmten, aber dies wunderte niemanden im Lehrerzimmer. Ian war ein gut aussehender Biologielehrer, der seit zwei Jahren an der einzigen Gesamtschule einer kleinen Stadt arbeitete.                                                                                                                          Die Schulklingel ertönte in der Schule. Es war das letzte Klingeln für heute. Der Unterricht war beendet. Ian packte seine Unterlagen in seine Tasche. „Auf Wiedersehen, Herr Achmann.“ Leonie Gadow, eine Schülerin der 12b, schenkte ihrem Klassenlehrer ein breites Lächeln. „Bis morgen, Leonie, und dann vielleicht ja mal zur Abwechslung pünktlich.“ Sie zwinkerte ihm zu und verschwand aus dem Klassenraum. Einige seiner Schüler würden sich wohl nie ändern, egal wie oft er es versuchen würde ihnen zu sagen. Er nahm seine Tasche und verließ als letzter den Klassenraum. Auf dem Weg zu seinem Auto traf er Kilian Jabilonski, den Chemielehrer der Schule. „Ey Ian, Gott sei Dank bist du wieder da. Ich wusste echt nicht, wie ich das ohne dich hier noch länger ausgehalten hätte.“ Kilian schlug ihm kumpelhaft auf den Rücken, wie er es immer tat, wenn sie sich sahen. Er war einer der Lehrer, mit denen Ian sich auch mal privat, ausserhalb der Schule traf. „Ich hab dich auch vermisst, Kilian!“ Ian lachte. „Was gibts Neues, hab ich was verpasst?“ Kilian überlegte kurz. „Außer, dass die Raff noch mürrischer geworden ist, eigentlich nicht.“ Kilian grinste hämisch. Frau Raff war die Physiklehrerin und nicht grade die beliebteste Kollegin unter ihnen. Kilian machte sich gerne bei Gelegenheit über die kleine rundliche Frau lustig. „Na das wundert mich jetzt nicht wirklich.“ Ian lachte noch einmal, verabschiedete sich dann von seinem Kollegen und stieg in sein Auto.

 

Große Blauen Augen schauten ihn an. „Warum hast du das getan?“ Sie fiel und fiel und fiel. Ihre Haare wehten im Fall. Noch immer schaute sie ihn an und fragte wieder: Warum? Dann der Aufprall. Das dumpfe Geräusch. Das Knirschen von Knochen. Das Mädchen, wie es dalag mit geschlossenen Augen. Beine und Arme unnatürlich verdreht. Dann plötzlich riss sie ihre Augen auf. Sie hob den Arm, und deutete mit ihrem Finger auf ihn. „Du warst das!“ Er wollte sich abwenden, drehte sich um, doch da stand sie vor ihm, nur auf einem Bein, da sie das Andere hinter sich herziehen musste, ihr rechter Arm hing schlaff von ihrem Körper. Der andere Arm zeigte noch immer auf ihn. „Du hast mir das angetan..“    

                                                                                                                                       Ian saß schlagartig aufrecht im Bett. Schweiß rann ihm von der Stirn. Sein Herz hämmerte wie verrückt gegen seine Brust. Er rang nach Luft. „Es ist nur ein Alptraum gewesen“, versuchte sich Ian zu beruhigen, „so wie jedes Mal.“ Er atmete tief durch und spürte wie sein Herzschlag sich verlangsamte. Ein Blick zur Uhr verriet ihm, dass es mitten in der Nacht war. Halb vier morgens. Ian stand auf und ging ins Bad. Er drehte den Wasserhahn auf und versuchte den Schweiß von seinem Nacken und Stirn zu waschen. Zuletzt nahm er eine handvoll Wasser und wusch sich damit das Gesicht. Plötzlich wurde er hellhörig. Das Wasser tropfte von seinem Gesicht und von den Haaren, die ebenfalls nass geworden waren. Klingelte da nicht etwas? Er hörte noch einmal angestrengt lauschte noch einmal in die tiefe leere Dunkelheit, aber da war nichts. Kein Klingeln. Jetzt bildest du dir schon Sachen ein. Du wirst ja noch verrückt!, sagte er zu sich selbst, griff nach seinem Handtuch und trocknete sein Gesicht. Aber da war es wieder, das Klingeln. Keine Einbildung, da klingelte definitiv etwas. Er nahm seinen Bademantel, welcher an der Badezimmertür hing, und zog diesen über seinen Schlafanzug. Ian zog den Mantel zu und ging die Treppe hinunter. Das Geräusch wurde immer lauter und er war sich nun sicher, dass es das Klingeln eines Telefons war. Er stand nun im Erdgeschoss seines kleinen Häuschens, hörte noch einmal nach dem Klingeln und öffnete die Haustür. Da sah er es, das Leuchten eines Handydisplays auf dem Bürgersteig. Es lag kurz vor dem Eingang seines Nachbarn. Das Handy klingelte noch einmal, dann wurde der Display schwarz. Ian zog sich seine Sneaker über und ging zu dem Punkt, wo er vor kurzem noch das Leuchten gesehen hat. Er hob das Handy auf. Der Anrufer hatte es derweilen aufgegeben, den Besitzer zu erreichen. Ian beschloss das Handy an sich zu nehmen. Morgen würde er versuchen das Handy zu entsperren und vielleicht jemanden zu erreichen, der ihm sagen könnte, wem es gehörte, aber jetzt musste er nochmal versuchen etwas zu schlafen, bevor er den morgigen Tag begann. Er drehte sich um, verließ den Bürgersteig, ging ins Haus, zog die Schuhe und den Bademantel aus, legte sich ins Bett und schloss die Augen. Den schwarzen Umriss, der ihn dabei beobachtete, bemerkte er nicht.                                                                                             Der Wecker weckte Ian pünktlich um sechs Uhr morgens. Mit dem Ausschalten des Weckers, setzten die Kopfschmerzen ein, mit denen er seit dem Beginn seiner Alpträume zu kämpfen hatte. Er ging hinunter in die Küche und stellte den Wasserkocher an, um sich seinen täglichen Becher Kaffee zu machen. Während er darauf wartete, dass sein Wasser kochte, fiel ihm sein Fund von letzter Nacht ein. Er holte das Handy, welches er auf den Schuhschrank im Flur gelegt hatte und betätigte den Bildschirm. Das Display leuchtete auf. Um das Handy zu entsperren, wischte Ian mit seinem Finger über den Bildschirm. „Perfekt,“ dachte Ian sich, kein Code. Es öffnete sich die Foto-App und zeigte das letzte gemachte Foto auf dem Handy. Der Besitzer hatte sie wohl nicht geschlossen, bevor er das Handy verloren hat. In diesem Moment stellten sich alle Härchen an Ians Körper auf. Ein eiskalter Schauer lief ihm über den Rücken. Für einen kurzen Augenblick vergaß er sogar das Atmen. Er wischte sich noch einmal über die Augen, um wirklich sicher zu gehen. Jetzt war er sich sicher, ziemlich sicher. Dieses Foto auf dem Bildschirm zeigte eindeutig einen Mann und dieser Mann war er selbst. Ein Foto von ihm, auf dem Handy eines fremden Menschen. Er ging auf die Übersicht der letzten Fotos, die mit dem Handy gemacht wurden und erneut wurde ihm erst heiß, dann kalt. Das Foto, welches er gesehen hatte, war nicht das einzige Foto welches von ihm geschossen wurde. Es waren bestimmt zwanzig, nein eher dreißig Aufnahmen die ihn…und Alexandra zeigten. Ian stockte erneut der Atem. Er fühlte sich ertappt. Reflexartig schaute er sich in alle Richtungen um. Das ist doch sinnlos, das kann nicht wahr sein dachte Ian sich. Nun schaute er sich die Bilder genauer an. Auf den ersten Bildern sah man ihn und Alexandra, wie sie sich unterhielten. Dann ihn und Alexandra, wie sie sich eng umschlungen, innig küssten. Okay Ian, ruhig bleiben, versuchte er sich zu beruhigen. Das ist nur ein Scherz. Jemand hat euch gesehen. Vielleicht erhofft sich einer seiner Schüler so Geld von ihm erpressen zu können. Es wird eine einfache Erklärung dafür geben. Da war er sich sicher. Als Ian wieder klarer denken konnte, sah er nach, ob es noch andere Fotos auf dem Handy gab. Doch die Fotos von ihm, waren die Einzigen die er hatte finden können. Auch sonst war das Handy wie leer gefegt. Keine Kontakte, keine bestehenden Konversationen, keine heruntergeladenen Apps, nichts was darauf hindeuten könnte, wer der Besitzer des besagten Handys ist. Wenn es eine Erpressung werden soll, dann wird sich jemand bei mir melden müssen, sagte er sich, schaute auf die Uhr und sah, dass er viel zu spät für die erste Stunde war. Wehmütig schaute er auf das längst aufgekochte Wasser, nahm seine Tasche und verließ das Haus mit einem mulmigen Gefühl und ohne seinen Becher Kaffee. Daran was es bedeuten könnte, dass die Bilder ausgerechnet an dem Tag gemacht worden waren, der für seine Alpträume verantwortlich war, wollte er gar nicht denken. Auf dem Weg zu der Gesamtschule ging Ian sämtliche Leute im Kopf durch. Wer würde ihm das antun? Warum würde jemand so etwas überhaupt tun? Es muss jemand gewesen sein, der bei dem Ausflug dabei gewesen ist. Aber außer ihm, Kilian und Alexandra waren nur die Schüler der 12b dort gewesen. Genau dieser Klasse sollte er jetzt etwas über das Immunsystem des Menschen erklären. Er betrat den Klassenraum und schaute in das Gesicht jedes Einzelnen. An diesem Tag sah er seine Schüler anders als zuvor. Er sah in jedem der Kinder einen potenziellen Erpresser. Anscheinend stand er ziemlich lange dort und starrte in die Gesichter, deren Blicke alle auf ihn gerichtet waren, denn plötzlich ertönte eine Stimme am Ende des Klassenraumes. „Herr Achmann? Alles in Ordnung?“ Leonie Gadow machte ein ganz besorgtes Gesicht. „Jaja, Alles in Ordnung, Danke Leonie.“ Ian wandte den Blick von seinen Schülern ab, drehte sich zur Tafel und begann seinen Biologie-Unterricht in der 12b.                                                                        Am Ende des Schultages hatte Ian das gefundene Handy schon fast wieder vergessen. Es hatte sich keiner bei ihm wegen einer, wie er vermutete, Erpressung gemeldet, weshalb er das ganze als harmlosen Streich eines Schülers abgetan hatte. Das jemand ihn mit Alexandra gesehen hatte ist eine Sache, aber selbst wenn jemand das öffentlich machte, war das eher ihr Problem als seins. Schließlich betrog sie ihren Mann mit ihm. Er hatte ihr oft gesagt, dass sie mit ihm reden und sich von ihm trennen sollte. Wenn ihre Affäre nun so ans Licht kommen würde, wäre es ihre eigene Schuld. Gerade als Ian in sein Auto steigen wollte, hörte er wie Leonie Gadow nach ihm rief. Sie kam über den Parkplatz direkt zu seinem Auto gelaufen. „Herr Achmann? Ich hab da noch einmal eine Frage an Sie! Können sie mir eventuell helfen? Ich bin doch so schlecht in Biologie, und da dachte ich Sie könnten mir vielleicht Nachhilfe geben. Ich hab nach der Schule Zeit, wir könnten zu Ihnen gehen und sie erklären mir nochmal alles.“ Ian musste sich ein Schmunzeln verdrücken. Er wusste, dass er manchmal ein bisschen „zu gut“ bei seinen Schülerinnen ankam. „Ich bin stolz auf dich, dass du deine Noten verbessern möchtest, Leonie, aber Privatunterricht gebe ich nicht. Es gibt aber noch andere Schüler, die ebenfalls Probleme haben, vielleicht können wir uns zusammen tun und gemeinsam eine Nachhilfestunde in der Schule organisieren oder ich vermittle dir einen anderen Schüler aus der Oberstufe, der dir behilflich sein kann.“ „Danke Herr Achmann!“ Sie versuchte zu Lächeln, aber Ian sah, dass es kein echtes Lächeln war. Ian würde sich niemals auf einer seiner Schülerinnen einlassen. Das wäre beruflich und auch ethisch definitiv fragwürdig. Außerdem war da ja auch noch Alexandra, auch wenn sie nie definiert hatten, in welcher Beziehung sie zu einander standen. Das Leonie heute mal wieder ihren Ausschnitt zu tief getragen hatte oder sich um Privat-Stunden bei ihm bemühte, registrierte er zwar, tat es aber als heimliche Schwärmerei ab.

Ian zog den Schlüssel aus seiner Tasche und schloss die Haustür auf. Endlich Feierabend. Er holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich aufs Sofa. Es war Zeit für die Nachrichten, weshalb Ian den Fernseher anschaltete und seine Füße gemütlich auf dem Couchtisch platzierte. In dem Moment gab sein Handy ein leises „Ping“ von sich, welches ihm signalisierte, dass eine neue Nachricht eingetroffen war. Er stellte die Flasche neben sich ab, griff nach seinem Handy und las die zuletzt eingegangene Nachricht. „Heute Abend  bei dir?“ Alexandra war noch nie ein Mensch vieler Worte gewesen. „Klar!“, schrieb er zurück. Seit dem Vorfall hatten er und Alexandra sich nicht mehr so oft getroffen und erst recht nicht darüber geredet. Während Ian so über sich und Alexandra nachdachte, klingelte sein Handy. Unterdrückte Rufnummer. Wer außer Alexandra würde in abends denn noch erreichen wollen? Außerdem hätte sie eher eine Nachricht geschickt. Er nahm sein Handy in die Hand, entsperrte es und nahm den Anruf an. „Hallo?“ Ian meldete sich an seinem Handy, gerade bei unterdrückten Rufnummern, nie mit seinem Namen. Er hielt sich das Telefon ans Ohr, aber es antwortete ihm niemand. „Hallo?, Wer ist denn da?“ Noch immer keine Antwort. Plötzlich, leise, aber deutlich vernahm Ian ein Atmen aus dem Hörer. Das ist ja wie in einem schlechten Horrorfilm, dachte sich Ian. „Hören Sie das ist nicht lustig. Was wollen Sie?“Nun wurde Ian doch etwas mulmig. War das hier ein Scherz? Er beschloss, dass es sinnlos war, den Anrufer weiterhin um eine Antwort zu bitten und legte auf. Sein Herzschlag hatte sich beschleunigt. Mensch Ian, es war doch bloß ein harmloser Streich, sagte er zu sich selbst. Er stand auf und wollte sich noch ein neues Bier öffnen, um sich noch einmal zu entspannen, bevor Alexandra kam. Gerade, als er den Kühlschrank öffnete, klingelte erneut das Handy. „Jetzt reicht‘s aber!“ Ian ging genervt zurück ins Wohnzimmer und nahm sein Handy in die Hand. Dem würde er jetzt aber was erzählen! Als Ian das Handy entsperren wollte, sah er, dass der Bildschirm schwarz war. Hatte der Anrufer schon aufgelegt? Aber da klingelte es wieder. Es war nicht Ians Handy. Jedenfalls nicht, jenes er in der Hand hielt. Jetzt erst bemerkte er auch, dass es gar nicht sein Klingelton war, der sonst ertönte, wenn ihn jemand auf dem Handy anrief. Das Klingeln kam aus dem Flur und nicht aus dem Wohnzimmer. Ian ging in den Flur und da lag es, genau wo er es hingelegt hatte. Das Handy, welches er ein paar Tage zuvor auf der Straße gefunden hatte. Er hatte es schon fast wieder verdrängt, aber da lag es nun und klingelte. Und damit kamen nun auch die Bilder zurück in Ians Kopf. Alexandra und er wie sie sich küssten. Alexandra und er, wie sie dort am Abhang standen und aufgeregt miteinander redeten. Der Gedanke, dass jemand an jenem Tag dort gewesen war und sie gesehen hatte. Und nun das klingelnde Telefon. Ian nahm das Handy in die Hand und betätigte den Anruf-annehmen-Button. Diesmal sagte er nichts, sondern hörte einfach hin. Da war es wieder. Das Atmen. Dann plötzlich wurde es hell vor seiner Haustür. Der Bewegungsmelder hatte das Licht anspringen lassen. Seine Haustür war aus Milchglas, was bedeutete er konnte sehen wie das Licht ansprang und nun auch wie eine dunkle Gestalt sich der Haustür näherte. Ian wurde schlagartig kalt. Es klingelte. Wie erstarrt schaute Ian die Tür an. Er spürte wie sein Herz immer schneller gegen die Brust schlug. Noch immer hielt er das Handy an sein Ohr. Noch immer atmete ihm die Person am anderen Ende an und noch immer stand diese dunkle Gestalt vor seiner Haustür und klingelte nun ein zweites mal. „Ian?!“ Eine Frauenstimme, gedämpft von der Haustür. „Ian, mach auf. Ich kann doch sehen, dass du hinter der Tür stehst. Was soll denn das?“ Ian fiel ein Stein vom Herzen. Er hatte ganz vergessen, dass Alexandra ja bereits auf dem Weg zu ihm gewesen war. Sie stand vor der Haustür und klingelte, und natürlich konnte sie ihn ebenso, wie er sie durch die Milchglastür sehen. Erleichtert öffnete er die Tür. „Hey“ Alexandra trat in den Flur und betrachtete ihn mit argwöhnischem Blick von oben bis unten.“Was ist denn mit dir passiert? Alles okay? Mit wem telefonierst du?“ Erst da merkte Ian, dass er sich noch immer das fremde Telefon ans Ohr hielt und nun verstand er auch, warum Alexandra ihn so merkwürdig anschaute. Sein ganzes T-shirt war durchgeschwitzt und wies dunkle Flecken entlang der Achseln und dem Rücken auf. Er musste aussehen, als sei er grad einen Marathon gelaufen. „Du bist ja ganz blass. Ian?“ „Ja, Alles in Ordnung.“ er nahm nun endlich das Telefon vom Ohr und legte auf. Alexandra schaute ihn noch immer mit fragendem Blick an, hakte aber nicht mehr zu Ians Glück nach. „Ich zieh mir kurz was frisches an. Geh doch schonmal ins Wohnzimmer. Bier ist im Kühlschrank. Ich komme gleich.“ Die Treppe stolperte Ian mehr hoch, als das er sie hochging. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Zuviel war in seinem Kopf. Das Handy, die Bilder, die Anrufe. Was hatte das alles zu bedeuten? Sollte er mit Alexandra darüber reden? Nachdem er sich ein frisches Oberteil angezogen hatte, ging er die Treppe hinunter und setzte sich zu Alexandra auf das Sofa. Sie legte ihre Hand auf sein Bein. Bevor sie ihn küssen konnte, nahm Ian ihre Hand. Er hatte beschlossen ihr wenigstens einen Teil der Ereignisse zu erzählen „Alexandra, ich muss mit dir reden. Ich denke jemand weiß über uns Bescheid. Nein! Nicht ich denke, sondern es weiß definitiv jemand über uns Bescheid. Ich habe ein Handy gefunden, auf dem Bilder von uns sind, von dir und mir. Sie sind anscheinend beim Ausflug gemacht worden.“ Alexandra schluckte. „Wann, beim Ausflug?“, fragte sie. Ian war das leichte Zittern in ihrer Stimme nicht entgangen. „Keine Sorge, auf den Bildern ist nichts von dem Unfall zu sehen. Ich denke, dass das ganze bloß ein Schülerstreich ist. Vielleicht will uns auch jemand damit erpressen. Ich weiß es nicht.“ Und dann sagte Alexandra etwas, worüber Ian noch überhaupt nich nachgedacht hatte. „Aber warum lässt jemand dir die Bilder zukommen? Wenn es eine Erpressung ist warum werde ich dann nicht erpresst? Ich bin schließlich verheiratet und betrüge meinen Mann. Du hast keinen Lebenspartner, also warum sollte jemand dich mit den Bildern erpressen und nicht mich?“ Und dann sprach Alexandra den Gedanken aus, den Ian bis zu diesem Moment erfolgreich verdrängt hat. „Und was ist, wenn jemand mehr gesehen hat…oder gar Bilder gemacht hat? Was ist wenn jemand gesehen hat, was wirklich mit Hailey passiert ist?“ Ian konnte die Verzweiflung in Alexandras Augen sehen, sie sprang ihn förmlich an, übertrug sich auf ihn. Er legte den Kopf in seine Hände. „Ich weiß es nicht!“ Und da war sie wieder, die Angst, die er die letzten Monate gespürt hatte. Die ihm jede Nacht den Schlaf raubte. Was ist, wenn wirklich jemand gesehen hatte, was passiert war, dass er sich nach alldem seelenruhig weiterhin mit Alexandra traf und versuchte den Vorfall zu vergessen, was wäre dann? „Wir sollten uns nicht so viele Gedanken machen. Wenn uns wirklich jemand gesehen hat, warum meldet sich derjenige erst jetzt zu Wort? Die Sache ist schließlich schon über ein Jahr her. Und das ich nun kein einziges Bild oder ähnliches bekommen hab, zeigt doch, dass es hier nicht um Hailey geht, sondern um uns. Eher um dich.“, sagte Alexandra. „Ich wüsste nur niemanden, außer deinem Mann, der ein Problem mit uns haben könnte.“  Alexandra und er beschlossen sich erst mal ruhig zu verhalten. Wer auch immer diese Spielchen spielte, würde sich früher oder später schon melden. Nachdem Alexandra sein Haus verlassen hatte, räumte Ian die leeren Flaschen aus dem Wohnzimmer. Trotz des merkwürdigen Anfanges, war es letztendlich doch noch ein schöner Abend gewesen, und für Ian eine gute Ablenkung, die Geschehnisse erst einmal zu vegessen. Während Ian sich mit der Hand Wasser ins Gesicht warf, um sich für sein Bett fertig zu machen, knarzte die fünfte Treppenstufe in Ians Haus, was sie immer tat, wenn jemand sie berührte.                                                                                             Doch Ian hörte das Geräusch nicht.                                                                                          Er sah auch nicht die dunkle Hand, die unter seinem Bett verschwand, als er die Schlafzimmertür öffnete und sich in sein Bett legte.                                                                Das regelmäßige, langsame Heben seines Brustkorbes zeigte: Ian war eingeschlafen.

Am nächsten Tag war Ian wie immer pünktlich in der Schule. So hatte er in aller Ruhe Zeit im Lehrerzimmer noch einen Kaffee zu trinken und sich mit Kilian zu unterhalten. Tatsächlich hatte Ian schon darüber nachgedacht, Kilian von den Ereignissen der letzten Tage zu berichten. Am Ende entschied er sich jedoch dagegen, da auch Kilian nichts von dem Verhältnis zu Alexandra wusste. Nachdem Ian seinen Kaffee leer getrunken und den Becher in die Spüle gestellt hatte, griff er seine Tasche und machte sich auf den Weg zum Unterricht in der Abschlussklasse. Die Stunde begann erst in zwanzig Minuten, weshalb noch keiner seiner Schüler da war. So konnte er ganz entspannt seinen Lehrstoff vorbereiten, und den Unterricht pünktlich beginnen. Da die Klassen in der Nacht immer abgeschlossen waren, zog Ian nun den Schlüssel hervor und öffnete damit die Tür zum Klassenzimmer. Ian konnte nicht fassen, was er nun vor sich sah. Während Ian immer noch fassungslos in der Tür des Klassenzimmers stand, kam die Rektorin der Schule den Gang hinunter. Ian hörte das Aufsetzen ihrer Absatzschuhe normalerweise schon, bevor er die Rektorin zu Gesicht bekam, doch dieses Mal registrierte er die Frau erst, nachdem sie ihn angesprochen hatte. „Herr Achmann? Alles in Ordnung mit Ihnen? Sie stehen dort ja wie angewurzelt.“ „Guten Morgen Frau Reinholdt“, kam Ians Antwort, mit leicht zitternder Stimme. „Sehen Sie selbst..“ Und daraufhin betrat Alexandra Reinholdt, die Rektorin der Gesamtschule, das Klassenzimmer der 12b und was sie dort sah, verschlug auch ihr den Atem. Die Wände des Raumes waren beklebt mit ausgedruckten Fotos. Es waren dieselben Fotos, die Ian auf dem Handy gefunden hatte. Allerdings gab es auch noch neue Fotos, die Ian bis dato nicht bekannt gewesen waren. Auf der gegenüberliegenden Seite der Tafel hingen Fotos von ihm und Alexandra auf dem Sofa, während sie miteinander sprachen und auch wieder Bilder auf denen sie sich küssten. Genau diese Bilder waren der Grund, warum sowohl Alexandra, als auch Ian noch immer mit verschlagener Sprache in dem Türrahmen standen. Es war Ians Sofa, auf dem die beiden auf den Bildern saßen und der Zeitpunkt zu dem die Bilder aufgenommen wurden, war unverkennlich gestern Abend gewesen. Das Bild, welches Ian allerdings am meisten schockierte, war jenes, welches ganz am Ende der Bilderreihe hing. Auf dem Bild war Ian zu sehen, wie er in seinem Bett liegt und schlief. Der Blickwinkel aus dem heraus das Bild aufgenommen wurde, ließ keinen Zweifel offen. Wer auch immer diese Fotos aufgenommen hatte, muss sich dafür in Ians Haus befunden haben. Das war auch Ian und Alexandra bewusst. Alexandra zog Ian nun in den Klassenraum und schloss die Tür. „Die Bilder müssen verschwinden, Ian! Die Schüler dürfen das auf keinen Fall zu Gesicht bekommen.“ Und damit fing sie an ein Bild nach dem anderem von der Wand zu reißen. Ian begann ihr zu helfen und nachdem sie alle Bilder von der Wand entfernt hatten, falteten sie diese zusammen und verstauten sie in Ians Tasche. Ian sollte die Bilder zuhause bei sich sicher entsorgen. Mit dem Verschließen des Reisverschlusses, betrat der erste Schüler am Morgen das Klassenzimmer. „Guten Morgen, Herr Achmann! …Oh und Guten Morgen, Frau Reinholdt!“ Ian und Alexandra setzten ein Lächeln auf, welches beiden ziemlich schwer fiel. „Na gut Herr Achmann, dann ist ja alles geklärt.“ Und mit diesen Worten verließ Alexandra das Klassenzimmer, und überließ Ian sich und seinem Tag in der 12b.                                                                                                                      Während die Klasse sich füllte und Ian die Zettel für die vor ihm liegende Stunde auf seinem Lehrerpult sortierte, ging ihm immer wieder die Frage durch den Kopf, wer fähig wäre so etwas zu tun. Er hatte auch überlegt sich Hilfe von der Polizei zu holen, aber das wäre zu riskant. Auf jeden Fall wollte er verhindern, das nochmal jemand in dem Hailey-Fall herumstochern würde. Der Schulgong ertönte, die Schüler saßen alle auf ihren Plätzen. Der Unterricht konnte starten. Als Ian sich in der Klasse umschaute, blieb sein Blick kurz bei Leonie hängen. Sie hatte ihn heute Morgen nicht so überschwänglich begrüßt, wie sie es normalerweise tat. Ian musste sich auch eingestehen, dass der Name Leonie in seinem Kopf aufgetaucht war, als Alexandra ihn am Vorabend darauf hingewiesen hatte, dass nur er Nachrichten von dem Fremden bekommen hatte und nicht Sie. Auf ihre Frage, ob jemand eifersüchtig sein könnte, war dann Leonies Name erschienen. Ian wollte niemals einer dieser Lehrer sein, für den die Schüler heimlich schwärmten. Er hätte auch nie etwas mit Absicht getan, was dazu geführt hätte, aber er konnte auch nicht abstreiten, dass ihm die Annäherungsversuche von Leonie nicht aufgefallen wären. Aber wäre sie wirklich zu so etwas fähig? Könnte sie all das gewesen sein? Eigentlich glaubte Ian nicht daran. Auf der anderen Seite hätte er sich nie vorstellen können, in solch einer Situation zu sein. Mit dem Beschluss Leonie in den nächsten Tagen mehr im Auge zu behalten, begann Ian seinen Unterricht.

Zuhause angekommen, nahm Ian den Schlüssel aus der Tasche und schloss seine Haustür auf. In der offenen Hautür stehend, lauschte er. War ein Geräusch im Inneren zu hören? War vielleicht jetzt gerade jemand in seinem Haus? Er konnte keine Geräusche wahrnehmen, weshalb er eintrat. Aus reiner Vorsichtsmaßnahme schaute Ian in jedes einzelne Zimmer seines Häuschens, bevor er sich ins Büro begab. Ein bisschen schämte er sich, das er so paranoid war. Auf der anderen Seite…konnte man ihm das wirklich verübeln? Schließlich ist schon mal jemand unwissentlich in seinem Haus gewesen und hatte ihn sogar fotografiert. Würde da nicht jeder irgendwann Angst bekommen? Er holte seine Unterlagen aus der Tasche um den Unterrichtsstoff der nächsten Tage vorzubereiten. Beim Öffnen dieser Tasche quollen die Zetteln mit den Bildern hervor. Nun wusste er, was er zu tun hatte. Er fing an die Bilder in kleine Papierschnipsel zu zerreißen.                                                                                        Sein Handy klingelte.

Er zog das sich in seiner Hosentasche befindende Gerät  heraus und ging ran. „Hallo“, sagte Ian.                                                     

Stille.                                                                                                                                  Atmen.                                                                                                                                      Da brach die Wut der letzten Tage aus ihm heraus. Er schrie in das Telefon, wer auch immer am anderen Ende der Leitung war, sollte endlich damit aufhören Ian wollte und konnte es einfach nicht mehr. Gerade als er auflegen wollte, und für sich beschloss, nie wieder an sein Telefon zu gehen, wenn jemand ihn mit unterdrückter Rufnummer anrufen würde, hörte er ein Geräusch aus der Leitung. Ein Klacken, als hätte jemand die Playtaste bei einem alten Kassettenrekorder gedrückt. Kurz darauf ertönte ein greller Schrei aus dem Telefon in sein Ohr. Ian würde genau diesen Schrei überall wieder erkennen. Er hatte nicht vergessen, wie es sich anhörte, als Hailey den Abhang hinunter gestürzt war. Dieses Geräusch würde wohl ewig in seinem Kopf bleiben. Der Schweiß rann über Ians Stirn. Als Ian auflegte war er sich nicht sicher, ob der immer leiser werdende Schrei noch immer aus dem Telefon kam oder nur noch in seinem Kopf nachhallte. Nun konnten Alexandra und er es nicht mehr leugnen. Jemand hatte sie beobachtet an dem Tag des Ausfluges. An dem Tag, als Hailey starb. Wer auch immer dieser jemand war, beobachtete ihn immer noch. Erneut schaute Ian sich um. Er fühlte sich nicht mehr sicher. Als Ian wieder etwas klarer denken konnte, ging er den Tag des Ausfluges nochmal in Gedanken durch. Vielleicht hatte er etwas übersehen. Vielleicht fiel ihm ja noch etwas Bedeutendes ein. Sie waren morgens früh, um kurz nach sieben in einen von der Schule gemieteten Bus eingestiegen und dann in ein waldiges Gebirge gefahren. Die Fahrzeit betrug circa eineinhalb Stunden. Die Schule veranstaltete diesen Wanderausflug, in der 12ten Klasse, im Rahmen des Biologieunterrichtes jedes Jahr wieder. Als sie am Anfang eines kleinen Wanderweges ankamen, stiegen sie alle voller Tatendrang aus. Sie hatten einen weiten Weg vor sich, bis sie auf eine Lichtung trafen, auf der sie Pause machen konnten. Dort wurde dann jedes Jahr ein kleines Picknick veranstaltet. Nach einer Stunde, in der sie gelaufen waren, fingen die ersten Mädchen an zu meckern, dass ihnen die Füße wehtaten. Auch das war jedes Jahr das Gleiche. Umso länger sie unterwegs waren, desto mehr Abstand entstand zwischen den Schülern. Sie zogen sich wie eine lange Kette entlang des Wanderpfades in Richtung Lichtung. Damit keiner der Schüler verloren ging, mussten natürlich mehrere Aufsichtspersonen mitkommen. Aus dem Grund wurde Ian von Kilian und Alexandra begleitet. Ian war vorausgegangen, da er als Biologielehrer jedes Jahr dabei war und den Weg in- und auswendig kannte. In der Mitte befand sich Kilian und am Ende der Gruppe lief Alexandra als letzte zum Ziel. Nachdem sie an der Lichtung angekommen waren, hatten alle ihr mitgebrachtes Essen für das gemeinsame Picknick herausgeholt und in die Mitte gestellt. Auf der Lichtung befanden sich Baumstämme, aufgebaut in der Form eines Stopp-Schildes. Ian hatte Plastikteller mitgebracht und verteilte diese nun an jeden seiner Schüler.  Während sie dort saßen, sich unterhielten, sich von dem langen Marsch ausruhten war die Stimmung die ganze Zeit ausgelassen. Da es im Wald keine Toiletten gab, Ian aber auf dem Weg zur Lichtung fast einen ganzen Liter getrunken hatte, beschloss er, diesen wieder los zu werden, bevor sie den Heimweg antreten würden. Als Ian sich auf den Rückweg zu der Gruppe befand, kam er an einem Abhang entlang. Er schaute vorsichtig hinunter. Es ging bestimmt fünf bis sechs Meter tief hinunter. Da er sich oben auf dem Abhang befand, sah es fast so aus, als würde er in den Baumkronen der Bäume, die am Ende des Abhanges standen, stehen. Etwas entfernt konnte er den Fluss hören, welcher sich durch das Gebirge schlängelte. Er war oft in diesem Waldgebiet gewesen, weshalb er wusste, dass der Fluss in einem kleinen Wasserfall den Abhang hinunterlief und sich dann irgendwann in den Bergen verlief. Er war jetzt nicht weit von dem Wasserfall entfernt, das konnte er deutlich hören. Ian liebte die Natur. Er war gerne und oft hier. Früher als Kind hatte sein Vater ihn immer mit auf seine Wanderausflüge genommen. Auch ein Grund, warum Ian Biologielehrer wurde. Pflanzen, Bäume und deren Funktion hatten sein Interesse schon immer geweckt, während sich sein Vater eher für die Vögel oder die anderen Tiere, die in den Wäldern lebten begeistern konnte. Ian stand an dem Abhang und genoss den Ausblick, den er von dort hatte, als Alexandra plötzlich hinter ihm stand. Er war so in Gedanken gewesen, dass er sie gar nicht bemerkt hatte. Er schrak ein wenig zusammen, als sie ihn von hinten an der Schulter berührte. Er hatte sie zu sich herangezogen und sie geküsst. Plötzlich stand Hailey neben ihnen, eine von Ians Schülerinnen aus der 12b. „So ist das also. Die Rektorin und der Biologielehrer. Ich dachte sie sind verheiratet Frau Reinholdt?“ Alexandra war direkt von Ians Seite gewichen. „Das ist richtig Hailey, deshalb bitte ich dich, auch das, was du gesehen hast für dich zu behalten.“ Hailey verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Gesicht spiegelte Trotz und ein leichtes Lächeln wieder. Sie wusste, sie hatte die Fäden in der Hand. Alexandra würde alles tun, um ihre Affäre zu verheimlichen. Hailey war eine selbstbewusste Person, und wusste ganz genau, in welcher Position sie sich befand. „Und warum sollte ich das tun?“ Alexandra hatte direkt nachgegeben und hatte Hailey gefragt, was sie verlangte, um das Geheimnis für sich zu behalten. Hailey hatte Geld verlangt, eine Menge Geld. Da hatte sich Ian eingeschaltet und versucht seine Schülerin zur Vernunft zu bringen. Er hatte ihr gesagt, dass es zu viel Geld sei, aber Hailey hatte nicht nachgeben wollen. „Wer seinen Mann so hintergeht, der hat es definitiv nicht anders verdient! Wer weiß mit wem Sie sich noch heimlich treffen?“ Und noch während Hailey sprach, war Alexandra plötzlich vorgeprescht und hatte Hailey an den Schultern gepackt. Sie stritten sich, schrieen sich an. Ian versuchte beruhigend auf die beiden einzureden, aber sie wurden nur lauter und fingen an miteinander zu rangeln. Und dann passierte es. Alexandra hatte Hailey in ihrer Diskussion zum Abhang gedrängt und während sie auf Hailey einredete, hatte sie sie etwas zu doll an den Schultern gepackt. Der Abhang unter Hailey brach weg und sie rutschte hinunter. Ian sah wie sie die Arme ausstreckte unfähig so schnell zu reagieren. Hailey erwischte das Hosenbein von Alexandra, doch es rutschte ihr aus der Hand. Ihr eigenes Gewicht war zu schwer, um sich so schnell noch halten zu können. Und es zog sie mit einem Schrei, den Ian nie vergessen würde und der ihm am Telefon vorgespielt worden war, den Abhang hinunter. Ian stürzte zum Abhang und schaute hinunter. Das Brechen von Haileys Knochen war nicht zu überhören gewesen und trotzdem wollte Ian einfach nicht glauben, dass sie tot sein sollte. Er war sich ebenfalls nicht sicher, ob Alexandra nicht noch eine Chance gehabt hätte Hailey aufzufangen. Er war sich auch nicht sicher gewesen, ob sie Hailey mit Absicht zum Hang gedrückt hatte. Aber sie hatte seine Zweifel im Nachhinein zerstreut. Aber Ian wollte auch glauben, dass all das nur ein Unfall gewesen sein sollte. Die Tatsache, dass es für Alexandra in Hinsicht auf ihren Mann, die beste Lösung gewesen war, hatte Ian direkt verdrängt. Noch immer schockiert und den Abhang hinunter starrend, standen Alexandra und er nun am Abhang und schauten auf den verdrehten leblosen Körper von Hailey. „Es war ein Unfall!“ Alexandra sah ihn an. „Sie ist einfach zu nah an den Abhang gekommen und dann abgestürzt. Wir konnten nichts tun“ und damit zückte sie ihr Telefon und rief einen Notarzt. Ian schaute von ihr wieder hinab auf seine Schülerin, die noch immer in derselben verdrehten Position am Boden lag. Nun erlosch sein letztes Fünkchen Hoffnung, dass noch Leben in Hailey sein könnte. Kurze Zeit später hörte er die Motoren des Rettungshubschraubers über seinem Kopf. Hailey war sofort tot gewesen.

Immer und immer war Ian den Tag in seinem Kopf durchgegangen. Er hatte sich an nichts auffälliges erinnern können. Wer auch immer ihn an diesem Tag beobachtet hatte, hatte sich gut versteckt. Ian nahm einen Zettel und einen Stift heraus. Er schrieb alle Namen der Personen auf, die beim Ausflug dabei gewesen waren. Doch außer der Schüler, Kilian und Alexandra war niemand bei dem Ausflug dabei gewesen. Der Busfahrer war zurück gefahren und sollte die Klasse später wieder abholen. Dass einer seiner Schüler diese Spielchen mit ihm spielte, glaubte er nicht. Selbst Leonie, die er aufgrund ihrer eventuellen Eifersucht in Verdacht hatte, schloss er aus. Jetzt, da er sich sicher war, dass die Person von dem Unfall wusste, änderte sich die Lage. Nun war es kein einfacher Schülerstreich mehr. Ian zermarterte sich den Kopf. Könnte Kilian etwas damit zu tun haben? Hätte er einen Grund gehabt? Ian fiel keiner ein. Das er diese Möglichkeit überhaupt bedacht hatte, ließ ihn sich schlecht fühlen. Kilian war doch sein Freund. Und dann stand nur noch ein Name auf seiner Liste. Alexandra. Sie hatte Hailey den Abhang hinunter gestoßen. Sie war diejenige, die etwas zu verbergen hatte. Sie war an dem Tag die Schuldige gewesen und doch hatte nur er Bilder und Anrufe bekommen. Nur sein Klassenzimmer wurde mit Bildern behängt und nur bei ihm war jemand ins Haus eingedrungen und hatte ihn beim Schlaf beobachtet. Warum er? Warum nicht sie? Diese Fragen bekam er nicht mehr aus dem Kopf. Es beschäftigte ihn nun schon seit Stunden. Könnte Alexandra diejenige sein, die ihm die Bilder zukommen ließ und die Anrufe tätigte? Aber warum sollte sie das tun? Sie wollte ja genau so sehr, das alles in Vergessenheit geriet wie er. In dem Moment kündigte sein Handy eine neue Nachricht an. Sie war von Alexandra. Komm vorbei, stand in der Nachricht. Ian beschloss, dass es wohl das Beste war, nochmal mit ihr zu reden. Er nahm seinen Mantel, zog sich seine Schuhe an und ging zu seinem Auto. Der Motor seines Wagens heulte auf, als er den Schlüssel drehte. Wie konnte er nur jeden verdächtigen, der ihm Nahe stand. Er fuhr in die Nachbarstraße zu der Adresse, in der Alexandra wohnte. Hier hatten sie sich immer getroffen, wenn Ian sie abgeholt hatte und der Mann von Alexandra zuhause gewesen war. Ian schrieb ihr eine Nachricht, dass er da war. Er wartete erst fünf Minuten, dann zehn. Keine Antwort. Normalweise reagierte Alexandra immer schnell auf seine Nachrichten. Er beschloss sie anzurufen. Es ging niemand ran. Ein flaues Gefühl breitete sich in Ians Magengegend aus. Irgendwas sagte ihm, dass etwas bei Alexandra nicht stimmte. Er verließ das Auto und ging zu Fuß zum Haus. Im Erdgeschoss brannte in einem der Fenster Licht. Ian wusste, dass das Licht aus der Küche kam. Er war oft genug hier gewesen, wenn Alexandras Mann auf Geschäftsreise war oder er stundenlang mit seiner Pokerunde unterwegs gewesen war. Es ist also jemand zuhause, dachte Ian sich. Er kontrollierte noch einmal, ob er eine Antwort von Alexandra erhalten hat, doch sein Handy war stumm geblieben. Sollte er klingeln? Normalerweise tat er das nie, sondern wartete, bis sie ihm das Okay gab. Vielleicht war ihr Mann noch da? Das lässt sich überprüfen, dachte Ian sich. Er schlich weiter ums Haus. Von dort aus waren die Carpots der Reinholdts zu sehen. Alexandras roter Audi stand wie immer rückwärts eingeparkt auf ihrer Seite. Das Auto ihres Mannes fehlte. Ian hatte also Recht behalten. Alexandras Mann war nicht zuhause. Dann würde er auch klingeln können. Er betrat die Treppenstufen vor dem Haus und wollte gerade die Klingel betätigen, als er bemerkte, dass die Tür nicht verschlossen war. Auf den ersten Blick sah es so aus, aber die Tür war nicht ganz ins Schloss gefallen. Ian drückte gegen die Tür und tatsächlich schwang die Tür nach innen auf. Vor Ian befand sich der lange schwarze Eingangsflur. Alle Türen die vom Flur aus abgingen waren geschlossen. Auf der rechten Seite befand sich die Küche. Unter dem Türschlitz drang Licht hervor, aber das hatte er ja auch von außen schon sehen können. Es gab noch ein weiteren Türschlitz, aus dem Licht hervordrang. Die Tür führte zum Wohnzimmer. Ian stand noch immer im Eingang. „Alexandra?“ Keine Antwort. „Hallo? Ist jemand zuhause?“ wieder keine Antwort. Ian ging ein paar Schritte weiter in den Flur hinein. Er beschloss, als erstes ein Blick in die Küche zu werfen. Nichts. Die Küche war leer. Er wusste auch nicht, wonach er suchte, aber sein Gefühl, dass etwas nicht stimmte verstärkte sich immer mehr. Als nächstes das Wohnzimmer. Ian betrat den Raum. Ein Wort stand dort in großen Buchstaben an die Wand geschrieben. Betrügerin. Ein metallischer Geruch stieg Ian in die Nase. Ihm wurde übel. In der Mitte des Raumes sah er Alexandra. Sie saß auf einem Stuhl, die Rückenlehne zu Ian zeigend. Und obwohl der Körper von Alexandra von ihm weggedreht war, konnte Ian ihr Gesicht sehen. Ihr Kopf war über die Rückenlehne gekippt, als wollte sie sich strecken. Ihre Arme hingen schlaff an den Stuhllehnen herunter. Ihre Haut war gräulich belegt und ihre braunen langen Haare hatten jeglichen Glanz verloren. Doch für all das hatte Ian keinen Blick. Er sah bloß in die starren großen Augen, mit denen Alexandra ihn anstarrte. Durch ihre Position auf dem Stuhl musste Alexandra ihn verkehrt herum sehen, weshalb ihre Augen zum größten Teil weiß waren. Doch Alexandra konnte ihn nicht sehen. Sie war schon seit längerer Zeit tot. Ian begann zu würgen. Er holte tief Luft. Langsam näherte er sich dem Stuhl. Was er dann sah, würde er niemals wieder aus seinem Kopf bekommen. In der rechten Innenseite ihres Oberschenkels steckte ein Küchenmesser. Jemand hatte es mit viel Kraft in ihr Bein gerammt und dann versucht den Schnitt zu vergrößern. Dabei wurde augenscheinlich die Arteria Femoralis, Alexandras Oberschenkelaterie, verletzt. Aus der Wunde tropfte das Blut nur noch langsam heraus. Unter ihrem Bein stand ein blauer Putzeimer, der zur Hälfte mit Blut gefüllt war. Alexandra war förmlich ausgeblutet. Am meisten schockierte ihn aber, was er in Alexandras Schoß vorfand. Eine einzelne Blume lag dort. Der untere Teil des Stiels war blutgetränkt. Die Jeanshose, die Alexandra trug, hatte sich unter dem Stiel dunkel verfärbt. Jetzt wusste Ian auch womit der Schriftzug an der Wand geschrieben wurde und auch was als Farbe verwendet wurde. Die Blume stammte aus einem Strauß, der auf dem Esstisch im Wohnzimmer stand. Beim genauen Betrachten konnte Ian auch den Grund für Alexandras Tod feststellen. Er hatte einen Blick auf ihren Hals geworfen, der von roten Strängen umzogen war. Jemand hate sie erdrosselt. Ian zwang sich noch einmal in die toten, starren Augen der Frau zu sehen. Als Biologielehrer wusste er, dass wenn Alexandra wirklich erdrosselt wurde, ihre Lid- und Bindehäute kleine rote Pünktchen aufweisen mussten. Und da waren sie. Ganz leicht aber nicht zu übersehen waren die roten Pünktchen, genau da wo sie sein sollten. Es gab keinen Zweifel. Jemand hatte Alexandra ermordet. Noch immer geschockt und unschlüssig, was er jetzt als nächstes tun sollte, stand Ian vor Alexandras Leiche. Und dann ganz leise, kaum wahrnehmbar hörte er ein Quietschen, als hätte jemand eine Gartenpforte geöffnet, die seit Ewigkeiten nicht geölt worden war. Da kam Ian ein Gedanke, der ihm schon viel früher hätte kommen müssen. Was ist, wenn der Mörder von Alexandra sich noch im Haus oder auf dem Grundstück befand? Noch bevor Ian den Gedanken zu ende gedacht hatte, schoss ihm das Adrenalin durch die Adern. Mit schnellen Schritten ging er zurück in die Küche. Direkt neben der Tür, auf dem Küchentresen stand ein Messerblock, aus dem er das größte Messer herauszog. Bewaffnet ging er zurück ins Wohnzimmer. Die Vorhänge waren alle zugezogen. Er schaltete das Licht aus, da er nicht sicher war, ob man seinen Schatten von draußen durch die Vorhänge sehen konnte. Dann zog er vorsichtig einen der Vorhänge zur Seite, um in den Garten zu schauen. Ian wusste, dass am Ende des Gartens eine Pforte war, von der aus man zu einem kleinen Sandweg kam. Der Sandweg lief parallel zur Straße, in der Alexandra wohnte. Es war ein Privatweg. Jedes der Häuser auf der rechten Seite der Straße, hatte durch ihren Garten Zugang zu dem Weg. Am Ende der Häuserreihe mündete der Sandweg in die Straße und war somit für jedermann zugänglich. Der Mörder von Alexandra hätte keinen besseren Fluchtweg, als diesen wählen können. Der Garten war kaum zu sehen, es war Nacht und da alle Vorhänge geschlossen waren, strahlte auch kein Licht aus dem Haus in den Garten. Ian wollte den Vorhang wieder schließen, doch dann sah er sie. Die blonden Haare schauten aus ihrer schwarzen Kapuzenjacke hervor. Ian hatte nur einen kurzen Blick erhaschen können, doch der hatte gereicht. Er war sich sicher, dass es Leonie war, die da draußen versuchte einen Blick ins Wohnzimmer zu kriegen. Auch wenn ihr Name ja eindeutig auf seiner Liste gestanden hatte, schockierte ihn diese Erkenntnis doch sehr. Ian ging auf die Terrassentür, durch die man in den Garten gelangte, zu. Im Nahkampf würde er Leonie definitiv besiegen. Er öffnete die Tür. Sie schrak zusammen und drehte ihm ihr Gesicht zu. Sie trug eine Digitalkamera in ihren Händen. „Sie haben was mit der Reinholdt.“ Ihr vorwurfsvoller Blick überraschte Ian. „Ganz ruhig Leonie. Ja das stimmt. Aber wir können darüber reden, wenn du möchtest.“,versuchte Ian sie zu beschwichtigen. „Darüber reden? Was gibt es da zu reden? Ich wollte doch nur das es jeder erfährt. Deshalb habe ich auch die Bilder im Klassenzimmer aufgehängt. Jeder soll wissen, dass sie ein Ehebrecher sind.“ Ian fand das Ehebrecher nicht das richtige Wort war, aber ihm war klar warum sie ihn dafür hielt. Eifersucht ändert das Denken der Personen. Aber warum Leonie soweit gegangen war, einen Mord zu begehen, verstand er noch immer nicht. „Ich kann das ja nachvollziehen, Leonie, doch du bist zu weit gegangen. Das Handy, die Anrufe das war zu viel und jetzt noch Alexandra..“ Ian stockte während seiner Aufzählung. Leonie‘s Falte zwischen den Augen wurde immer Größer ihr fragender Blick immer mehr. „Welches Handy? Und was ist mit Frau Reinholdt?“ „Leonie, Frau Reinholdt ist tot, du hast sie umgebracht“ Leonie sah ihn schockiert an. Kurz darauf brach sie in Tränen aus. „Ich wollte doch nur Fotos machen, wie sie sich hier treffen. So wie bei ihnen zuhause. Und dann wollte ich sie in der Schule verteilen. Jeder sollte doch die Wahrheit über Sie beide kennen. Er hatte gesagt, wenn sie sich trennen hätte ich eine Chance, und trennen würden sie sich nur, wenn die Affäre ans Licht kommen würde…“ Nun war es Ians Falte die immer tiefer wurde. Er? „Leonie, wer hat dir das gesagt?“ „Na der Typ, der mir die Bilder von ihnen aus dem Wald geschickt hat. Nathan oder so.. Jedenfalls nannte er sich so in der E-mail die er mir geschickt hatte.“ Nathan? Der Name sagte Ian überhaupt nichts. Er konnte sich nicht daran erinnern den Namen jemals gehört zu haben. Bevor Ian weiter darüber nachdenken konnte, klingelte Leonies Telefon. Sie hatte es zwar auf stumm gestellt, aber die Vibration war nicht zu überhören. Sie zog das Telefon aus der Tasche und sah ihn dann mit ihren verweinten Augen an. „Er ist es.“ Ian nahm ihr das Telefon aus der Hand und nahm ab. Er wollte wissen, mit wem er es hier zu tun hatte. „Hat alles geklappt? Hast du die Fotos?“ Die dunkle Männerstimme, die aus der Leitung drang, sagte Ian nichts. Er hatte keine Ahnung, wer der Mann war. „Sieht wohl nicht ganz so aus. Hallo, Nathan.“ Ian‘s Stimme war fest und überhaupt nicht zittrig. Er ließ sich nicht anmerken, wie unbehaglich ihm die Situation eigentlich war. Aber er wollte nun endlich wissen, wer dahinter steckte und diese Sache aus der Welt schaffen. Kurze Stille am anderen Ende der Leitung. Ian war sich sicher, dass der Überraschungsmoment auf seiner Seite war.„Hallo Ian, ich gebe zu es überrascht mich dich am Telefon zu haben. Das bringt meinen Plan etwas durcheinander. Du willst wahrscheinlich eine Erklärung für all das haben. Ich bin bereit dir diese zu geben. Komm zu mir, ich warte auf ihrem Platz auf dich. Bleib in der Leitung und leg nicht auf. Keine Polizei. Ich möchte regelmäßige Angaben über deinen Standort hören. Hältst du dich an die Abmachung, werde ich dir alles erklären.“ Ian wusste das es eine Falle war, aber er wusste auch das er es riskieren würde. Und somit ließ Ian Leonie im Garten stehen und machte sich auf dem Weg zu seinem Auto. Als erstes hatte Ian gedacht, dass er mit ihrem Platz den Ort meinte, an dem Hailey abgestürzt war. Doch das würde keinen Sinn ergeben. Es war ja nicht ihr Platz, sondern ihr Todesort. Und dann war Ian klar geworden was Nathan mit ihrem Platz meinte. Er war in der Schule. Genauer gesagt in der zweiten Stuhlreihe, auf dem fünften Platz von links, in der Klasse der 12b. Das war der Platz, auf dem Hailey vor ihrem Tod immer gesessen hatte. Während Ian in seinem Auto zu Schule fuhr, überlegte er fieberhaft wer Nathan war und woher er ihn kennen könnte, doch es wollte ihm nichts einfallen. Die Straßen waren leer und somit war Ian zehn Minuten später an der Gemeinschaftsschule angekommen. Der Haupteingang war nicht verschlossen. Ian ging direkt zur Treppe, die ins zweite Stockwerk führte. Der Klassenraum der 12b befand sich am Ende des Ganges auf der rechten Seite. Die Tür stand offen. Es war zwar kein Licht im Raum an, aber da die eine Seite der Klasse aus Fenstern bestand, drang genügend Mondlicht herein, sodass im Flur einen flacher Lichtstrahl auf den Boden fiel. Es kam Ian in dem Moment wie ein Wegweiser in den Tod vor. Er betrat den Klassenraum und dort saß er. Wie er es angekündigt hatte, saß Nathan auf dem Platz von Hailey, die Arme auf dem Tisch, an dem sie gelernt hatte, abgelegt. „Hallo Ian.“ , sagte Nathan heute schon zum zweiten mal zu Ian. Noch immer wusste Ian nicht wer Nathan war. Er hatte, wie er es ihm aufgetragen worden war, regelmäßig seinen Standort durchgegeben. Jetzt wo er Nathan gegenüber stand, nahm er Leonies Handy vom Ohr und legte auf. Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er hatte Nathan schon einmal gesehen. Vor der Schule. Er erinnerte sich daran, wie er mit dem Motorrad vorgefahren war, den Helm abnahm, seine Mähne schüttelte und seiner Freundin Hailey einen Begrüßungskuss gab. Es war Haileys Freund. Ian lehnte sich gegen den Lehrerpult und hörte ohne Kommentar zu, was Nathan zu sagen hatte. „Da hast du meinen Plan ja ganz schön durcheinander gebracht. Naja aber was soll’s, ich werde es dir von vorne erklären. An eurem Ausflug in die Berge, bin ich euch hinterher gefahren. Hab gedacht es sei eine super romantische Idee, Hailey und ich in den Bergen zusammen. Sie hat sich etwas entfernt von der Gruppe mit mir getroffen und wir sind weiter in den Wald gegangen und dabei dann auf Sie und die Rektorin gestoßen. Mir war das natürlich egal, aber Hailey meinte es wäre eine super Idee, für sich etwas rauszuschlagen. Sie wissen schon die Frauen und ihren Tick immer die neuesten Klamotten zu haben. Ich sollte also bleiben wo ich bin und alles filmen damit sie später auch Beweise hatte, falls die Rektorin ihr kein Geld zahlen würde. Aber es konnte ja keiner damit rechnen, dass die Rektorin einfach eine ihrer Schülerinnen in den Tod schubst. Für mich war die Beweislage eindeutig. Ich verstehe nicht, warum die Polizei das anders gesehen hat. Denen kamen das Fußabdruckgemenge vor dem Abhang ja auch komisch vor. Ein Jahr ging der Prozess und nichts ist dabei rausgekommen. Sie fragen sich sicher, warum ich das Video, welches ich gemacht habe nicht an die Polizei gesendet habe. Tja, Herr Biologielehrer, Rache ist süß. Mein Plan war von Anfang an Alexandra das Gleiche anzutun, was sie Hailey angetan hatte. Eigentlich wollte ich sie auch sterben sehen, aber dann entschied ich mich, dass es viel schöner wäre, wenn sie für das, was sie getan haben, ihre gerechte Strafe bekommen würden. Sie sollten dasselbe fühlen was ich gefühlt habe. Sie sollten ihre Freundin tot sehen. Wie hat sich das angefühlt, Ian? Haben Sie sie berührt? Wussten Sie, dass der Körper eines Menschen direkt an Körperwärme verliert, sobald kein Leben mehr in ihm herrscht? Ich habe sie mit einer einfachen Kordel erwürgt. Hailey hat sie immer zum Basteln von Geburtstagskarten verwendet. Sie hat gebettelt, dass ich aufhören soll. Sie hat mich sogar am Arm gekratzt, als sie versucht hatte sich zu wehren. Da fiel es mir leicht, das Messer in ihr Bein zu stechen. Ich muss wohl ein größeres Gefäß verletzt haben. Auf jeden Fall hatte es nicht aufgehört zu bluten. Da kam mir die Idee mit dem Putzeimer und der Blume. Ist schön geworden oder was sagen Sie? Danach war es nur noch eine Kleinigkeit gewesen, eine Nachricht von ihrem Handy aus zu verschicken. Schon waren sie unterwegs hierher.  Sie sollten den Rest ihres Lebens im Gefängnis verbringen. Leonie hätte sie dabei fotografiert, wie sie ins Haus gehen und sich dort aufhalten. Die Vorhänge an den Fenstern waren geschlossen. Sie hätte nie erkannt, dass die Frau tot ist. Ich hätte Bilder gehabt, wie sie mit der Reinholdt in einem Haus gewesen wären. An dem Tag, an dem sie gestorben ist. Zusammen mit ihrer Affäre. Das hätte die Polizei sicher gerne gesehen. Aber das Mädchen hat es natürlich verbockt. Hätte ich mir gleich denken können,dass sie nicht die Richtige war. Hailey hat mir oft erzählt, wie es sie genervt hat, dass Leonie so hinter ihnen her war. Und dass es ja so offensichtlich sei. Es war zu einfach gewesen, sie zu den Fotos zu überreden und dass sie diese dann auch in der Klasse aufhängte. Von dem Mord und dem Handy wusste sie natürlich nichts. Jeder hätte bekommen, was er verdient. Aber jetzt hat sich das geändert.“ Nathan griff hinter seinen Rücken und holte eine Waffe hervor. Es war eine kleine schwarze Pistole, wie Polizisten sie in ihrem Halfter tragen. Der Lauf der Pistole zeigte auf Ian. „Wir werden deiner Geliebten jetzt nochmal einen Besuch abstatten.“ Ian wusste gar nicht was er denken sollte. So viele neue Informationen, die er neu verarbeiten musste. Er war auch zuvor niemals mit einer Waffe bedroht worden, was ihn zunehmend nervös machte. Nathan stand auf und bewegte sich auf ihn zu. „Los wir gehen.“ Ian ging voran, Nathan folgte ihm, mit dem Lauf der Waffe in seinem Rücken. Auf dem Parkplatz zeigte Nathan mit der Waffe auf Ians Auto. „Du fährst!“ Ian stieg auf den Fahrersitz und Nathan setzte sich auf die Rückbank direkt hinter ihn. Die Waffe hielt er konsequent auf Ian gerichtet. Ian stellte den Motor an und fuhr zurück zu Alexandras Haus. Die Tür des Hauses war noch immer offen. Ian hatte sie beim Betreten nicht geschlossen, und der Mann schien noch nicht von seiner Pokerrunde zurück zu sein. Noch immer von Nathan‘s Waffe bedroht, ging Ian in das Haus und direkt ins Wohnzimmer. Nathan bedeutete Ian sich aufs Sofa zu setzten. Dann fing er an die Schubladen im Wohnzimmerschrank zu öffnen und den Inhalt zu inspizieren. Die Waffe hielt er weiter auf Ian gerichtet. Und dann wurde er anscheinend fündig. Er griff in die Schublade und holte eine Tüte mit Kartoffelchips hervor. Ians fragender Blick ließ Nathan erklären: „Wusstest du, das Kartoffelchips der ideale Brandbeschleuniger sind? Umso fettiger, desto besser. Und welche Frau bewahrt nicht eine Notfallpackung mit Chips im Wohnzimmer auf? Und falls du dich fragst, warum ich einen Brandbeschleuniger brauche, dann hab ich die Antwort für dich. Ich werde dieses Haus abbrennen, mit all seinen Beweisen. Das schließt auch Sie ein. Ja, Sie sind auch ein Beweis.“ ,und mit den Worten setzte Nathan den Haufen aus Chips bestehend, den er während er redete, auf dem Tisch vor ihm aufgebaut hatte, in Brand. Wie er versprochen hatte fingen die Chips lichterloh an zu brennen und bald stieg auch der erste Rauch von dem hölzernen Couchtisch auf. Ian konnte den Blick von der toten Alexandra nicht abwenden. Er hatte sie während Nathan‘s Monolog, die ganze Zeit schon angestarrt. Nathan hielt die Waffe zwar noch immer auf Ian gerichtet, aber sein Blick ging in das noch kleine Feuer auf dem Tisch vor ihm. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. In dem Moment wurde die Terrassentür mit einer Wucht aufgeschlagen und Leonie stand plötzlich im Wohnzimmer. Alles was sie sah, war der Leichnam von Alexandra Reinholdt, wie er in mitten des Wohnzimmers, auf dem Stuhl saß. Nathan hatte sich so erschrocken, dass er sich mitsamt seiner Waffe umdrehte. Ein ohrenbetäubender Schuss fiel. Nathan hatte die Waffe betätigt. Ian hatte seine Chance gesehen. Er griff nach der Stehlampe, die neben dem Sofa auf einem kleinen Tisch stand, holte aus und schlug Nathan mit voller Wucht gegen den Hinterkopf. Nathan ging zu Boden. Die Waffe ließ er fallen, während er in sich zusammen sackte. Ian griff nach der Waffe und richtete sie auf Nathan. Dieser lag leblos am Boden und bewegte sich nicht. An der Stelle, an der Ian ihn mit der Lampe erwischt hatte, quoll nun Blut hervor. Nathan war bewusstlos. Erst jetzt ging Ians Blick zu dem Punkt, wo Leonie vorhin noch gestanden hatte. Sie musste im Garten geblieben und herein gekommen sein, als sie von außen Schatten im Wohnzimmer gesehen hatte. Vermutlich hatte sie gehofft im Wohnzimmer Hilfe von den Personen bekommen zu können. Nun lag Leonie mit geschlossenen Augen auf dem Boden. Ein Pfütze aus Blut kam unter ihrem Körper hervor gelaufen. Ian konnte das Einschussloch in ihrer Brust gar nicht übersehen. Nathan hatte sie erschossen. Ich muss hier raus, dachte Ian sich. Erst jetzt blickte er auf und sah sich im Wohnzimmer um. Der Couchtisch war einzig und allein eine riesengroße Flamme. Der Tisch war nicht mehr zu erkennen. Die Flammen waren bereits auf die Vorhänge übergegangen. Nicht mehr lange und das ganze Haus würde in Flammen stehen. Ian begann zu husten. Der Sauerstoffgehalt im Wohnzimmer begann zu sinken. Ian ging zur Terrassentür und schloss diese ganz zu. Dann legte er die Waffe neben Nathan auf den Boden und verließ das Wohnzimmer. Auch hier verschloss er die Tür. Im Flur war es, als würde er einen Kühlschrank betreten. Die Luft im Wohnzimmer war so heiß gewesen. Ians Schweiß tropfte ihm bereits von der Stirn. Es war vorbei, dachte Ian, Nathan würde mitsamt des Hauses verbrennen. Nie wieder würde er ihn anrufen, nie wieder würde er so etwas wieder erleben müssen. Es war vorbei. Ian stand vor dem Haus und beobachtete wie die Flammen immer mehr von dem Haus einnahmen. Erst als die Flammen auch die Vorderseite des Hauses in Beschlag genommen hatten, wählte er den Notruf. Das Quietschen der Gartenpforte und die damit verschwindende Gestalt, sah und hörte er nicht.       

2 thoughts on “Freier Fall

  1. Moin,

    ein richtig schöner Krimi den du uns hier präsentierst! Gut und flüssig geschrieben. Der Plot hat mir wirklich gut gefallen. Die Charaktere und wie du sie „ gezeichnet „ hast, waren sehr detailliert. Wirklich ne coole Storie.

    LG Frank ( Geschichte: Der Ponyjäger)

  2. Hallo Jelena,
    Ich finde die Idee hinter deiner Geschichte echt super, sehr glaubwürdig und gut erarbeitet.

    Besonders haben mir Textstellen, wie diese, sehr gut gefallen:
    … knarzte die fünfte Treppenstufe in Ians Haus, was sie immer tat, wenn jemand sie berührte. Doch Ian hörte das Geräusch nicht. Er sah auch nicht die dunkle Hand, die unter seinem Bett verschwand, als er die Schlafzimmertür öffnete und sich in sein Bett legte. Das regelmäßige, langsame Heben seines Brustkorbes zeigte: Ian war eingeschlafen.

    Auch das Ende hat mir gut gefallen.

    Als Kritikpunkt: ich finde, dass die Geschichte erst spät richtig Fahrt aufgenommen hat und du sie, für eine Kurzgeschichte, manchen Stellen etwas mehr auf den Punkt bringen könntest.

    Liebe Grüße, Jenny /madame_papilio

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