Katja MontejanoGAME OVER!

 

GAME OVER!

Kapitel 1

Du stirbst, deine Zeit ist abgelaufen!

«Oh mein Gott! Ich will nicht sterben! Hilfe!» Ein Adrenalinstoß durchströmt meinen Körper. Ich renne so schnell ich kann, als wäre der Leibhaftige hinter mir her. Der Puls schlägt mir bis zum Hals und das Herz trommelt in meiner kleinen Brust, als würde sie jeden Moment platzen. Mein zierlicher Körper bebt. Panik überfällt mich in Wellen, als würden die Tentakel eines riesigen Monsters mich festhalten und die Luft aus den Lungen quetschen. Das Atmen fällt mir schwer. Ich bin so müde. Meine Sicht und mein Verstand sind vernebelt. Ich bin desorientiert. Keine Ahnung wohin ich renne und ob ich es schaffen werde, meine Haut zu retten. Ich kann nicht fassen, was soeben geschehen ist. Ist es ein Albtraum oder real? Ich will nur noch weg, weg von den Schatten, die mich verfolgen, weg von all dem Blut und den Schreien, die sich in mein Gehirn eingebrannt haben. Ich höre das furchteinflößende Flüstern der Schatten. Sie sind böse und sie sind stark! 

 «Wo befindest du dich Laura? Bleib stehen und sieh dich um. Was nimmst du wahr?», fragt mich eine weibliche Stimme in meinem Kopf, die mich oft verwirrt, weil sie Dinge fragt, dich ich nicht beantworten kann oder will. Ständig bohrt sie weiter in meinem Schädel, was mich irritiert. Ich bin so müde. Ich kann nicht mehr und will nicht mehr. Mit letzter Kraft antworte ich ihr.
«Ich bin in einem Labyrinth. Bin gefangen und so müde.» Meine Stimme klingt heiser. Das kommt von all meinen Schreien, die niemand hört. Es ist, als ob eine unsichtbare Wand mit einem riesigen Mund vor mir stehen würde, die all meine Hilfeschreie verschlingt. Niemand hilft mir. Niemand glaubt mir. Niemand kann mich retten.
«Wo genau? Was siehst du? Schau dich um.»
In einem Automatismus, den ich mir nicht erklären kann, tue ich, was mir die weibliche Stimme befiehlt. Gleichzeitig fühle ich mich von ihr bedroht, so als würde jeden Moment ein dunkler Abgrund auf mich zustoßen und wie der Mund an der Wand, meine Schreie, all meine Energie, all meine Gedanken und zuletzt mein Körper, verschlingen. Vielleicht ist der Tod besser und leichter zu ertragen als ein liebloses Leben voller Schmerz, Täuschung, Verrat und Verzweiflung.
«Laura, bleib bei mir. Sie dich um und sag mir, was du wahrnimmst. Jedes Detail!», fordert mich die Stimme auf. Sie ist energisch. Hat was von einer Befehlshaberin in der Armee.

«Ich bin im Wald. Überall sind Bäume. Und mir ist übel. Ich friere. Die Schmerzen in meinem Körper sind unerträglich. Mein Kopf platzt. Sogar die Kopfhaut meiner dunklen, langen Haare brennt wie Feuer. Ich kann mich nicht bewegen. Wieso hilfst du mir nicht – hä? Bin ich etwa tot? Oh mein Gott! Hilfe! Ich kriege keine Luft mehr!» Auf einmal überkommt mich eine Welle von Panik. Ich zittere am ganzen Körper. Bekomme keine Luft mehr.«Laura, beruhige dich und höre mir genau zu», befiehlt mir die Stimme.
«Ach, hau ab! Geh aus meinem Kopf! Lasst mich endlich alle in Ruhe!», schreie ich, was sich aber wie ein leises Krächzen anhört.
«Laura, wen hörst du noch, außer mir? Wer ist bei dir?», bohrt die Stimme weiter.
«Keine Ahnung! Oh Gott, ist doch Scheißegal! Wieso hilfst du mir nicht? Siehst du nicht, was los ist? Martina ist tot und ich bin es jeden Moment auch!», erwidere ich energisch.
«Laura, hast du deine Schwester Martina umgebracht?»
«Wa … was?» Die Antwort bleibt mir im Halse stecken. Zugegeben, ich habe sie gehasst. Habe ihr oft den Tod gewünscht, aber so zu sterben wie sie hat niemand verdient. Ich würge. Bekomme keine Luft mehr. Kann mich nicht bewegen, so als würde ich lebendig begraben werden.
«Hilf mir, bitte!» Ich schreie aus Leibeskräften, aber meine Kehle versagt. Ich huste. Etwas steckt in meinem Rachen fest. Mein Mund ist wie zugeklebt. Ich bekomme keine Luft mehr! Was ist das? Was geschieht gerade mit mir?
«Laura, atme tief durch. Dir geschieht nichts! Du bist in Sicherheit. Beruhige dich und höre nur auf meine Stimme. Du wirst jetzt genau das tun, was ich dir sage. Hast du das verstanden? Wenn ja, dann gib mir das JA-Zeichen – Jetzt!»

 Ich tue, was mir die Stimme sagt, ohne zu zögern, was komisch ist, denn ich bin von Kindesbeinen an eine Rebellin. Mag keine Gesellschaftsnormen, verlogene Politiker, reiche Leute oder Klugscheißer, die glauben, was Besseres zu sein als ich. Ja, ich bin anders und dazu stehe ich. Breche Regeln, insbesondere, die, die ich ungerecht finde. Sage meine Meinung offen und ehrlich, egal, was für Konsequenzen sie haben. Deshalb stehe ich oft alleine im Regen. Es gibt nur eine Person, die seit der Schulzeit zu mir steht, und das ist meine beste Freundin Sandra.
«Laura! Gib mir das Zeichen!», befiehlt mir die Stimme.
Ich muss kurz überlegen, was sie als Zeichen meint. Wenigstens habe ich mich wieder etwas beruhigt. Kann wieder atmen. Das Ding in meinem Hals ist weg. Nur die Schmerzen in meinen Gliedern sind geblieben. Ich kann mich nicht bewegen. Eine weitere Panikwelle  überrollt mich.
«Sehr gut! Ich will, dass du tief durchatmest und dich beruhigst. Du bist vollkommen entspannt. Alles ist in bester Ordnung und du bist in Sicherheit. Du gehst jetzt aus deinem Körper heraus und siehst dich von außen. Beschreibe mir, was du wahrnimmst. Mach es jetzt!»
Auf einmal klärt sich meine verschwommene Sicht auf. Puls und Herzschlag beruhigen sich, aber ich sehe mich nicht von außen. Stecke immer noch in meinem Körper. Ich scanne mit dem rechten Auge die Umgebung, das andere ist zugeschwollen. Wieso sehe ich nur die Baumkronen? Und weshalb hilft mir niemand? Wo steckt nur die Frau hinter dieser Stimme?

Der Wald ist ein Labyrinth. Ich weiß nicht, wo ich bin, alles um mich herum dreht sich. Es ist ein Karussell aus Bäumen und der Himmel ist mit dunklen Wolken zugedeckt. Mir ist kalt, Eiskalt. Erste Regentropfen prasseln auf mein Gesicht. Das Regenwasser vermischt sich mit dem Blut meiner Gesichtshaut und gelangt in meinen Mund. Es schmeckt nach Eisen. Ich schließe die Augen, will aufstehen, aber es geht nicht. Das Rauschen des Windes im herbstfarbenen Laub dringt in meinen Ohren und flüstert mir zu.
Du stirbst, deine Zeit ist abgelaufen …

Ich nehme dieses Flüstern klar wahr. Es ist nicht dieselbe Stimme, wie die in meinem Kopf.
«Laura, ich will, dass du jetzt zurückkommst. Wenn du das verstanden hast, dann gib mir das JA-Zeichen. Los tu es!»
Mir ist so kalt. Spüre die klitschnasse Kleidung auf meinem Leib. Ich muss aufstehen, aber ich kann nicht. Bin wie gelähmt. Meine Orientierung sowie mein Zeitgefühl sind wie ausgelöscht. Ich bin total verwirrt. Hinzu kommen diese anderen Stimmen …

«Laura, ich zähle auf Drei, dann machst du die Augen auf. Eins … Zwei …»
Ich befolge die Anweisung und bevor ich die Augen öffne, kann ich nicht glauben, was und wen ich vor mir sehe. Es ist nicht die Person hinter dieser weiblichen Stimme, denn ich will gar nicht zurückgehen. Nein, ich befinde mich immer noch in diesem Wald. Schreie vergeblich nach Hilfe. Bin verzweifelt. Auf einmal erkenne ich einen Schatten, der auf mich zukommt und was ich dann sehe, ist schrecklich!

 

Kapitel 2

«Willst du an diesem Klassentreffen wirklich teilnehmen, Laura? Findest du das nicht komisch?»
In Sandras Stimme entnehme ich Anspannung und Wut. Oft komme ich mir mit ihr wie ein altes Ehepaar vor, das über zwei Jahrzehnte miteinander zusammen ist. Wir besuchten als Teenies die gleiche Schulklasse in Zürich. Ich erinnere mich nicht gerne an diese dunkle Zeit, deshalb schiebe ich diese aufkommenden Bilder  umgehend beiseite.
«Was meinst du mit komisch?», frage ich und suche nach den Kopfhörern, da mir bewusst ist, dass unsere Gespräche länger als fünf Minuten dauern.
«Wir hatten noch nie ein Klassentreffen, wieso plötzlich nach so vielen Jahren eines organisieren und wer von unserer damaligen Schule hatte diese Schnapsidee? Ach, dann das noch! Scheiße noch mal! Was ist das denn?»
«Was zum Teufel ist los?», hake ich nach und schlendere in Richtung Couch. Ich kenne keinen anderen Menschen, der in fast jedem zweiten Satz flucht und das Wort -Scheiße- benutzt. Ihre raue Art stammt noch aus der Teenie-Zeit, als «Fräulein Scheiße» die die Anführerin einer Mädchengang war.
«Moment! So eine verdammte Scheiße! Hey Mann, ich habe mit der Einladung ein dickes, ausgehöhltes Buch erhalten, in welchem sich ein altes NOKIA Handy befindet, das wie in einem Sag eingebettet liegt. Hast du dasselbe erhalten?»
«Nein, aber mach mir ein Foto von all dem, was du erhalten hast.» Ich räuspere mich und richte das Headset des Handys. Hundemüde lasse ich mich auf die schwarze Ledercouch fallen.£
«Ich glaube, dass irgend so ein Arschloch mich verarschen will! Was soll das ganze hier? Ok, ich fotografiere alles und sende es dir per WhatsApp. Bin mal gespannt, was du dazu meinst. Ein Moment!»
«In Ordnung.»

Meine Augen rollen zur Micky-Mouse Wanduhr neben dem Bett. Es ist schon neun Uhr abends und in meinen kleinen Loft herrscht eine gemütliche Atmosphäre. Der Fernseher läuft stumm im Hintergrund. Während ich auf die Bilder warte denke ich an meine ermordete Schwester Martina, die ein Jahr älter war als ich. In genau zwei Wochen, am ersten November wäre sie sechsunddreißig Jahre alt geworden. Sandra hat sich mit mir kurz nach ihrem Tod angefreundet, als ich aus dem zweimonatigen Koma erwacht bin. Ein Piepsen unterbricht mein Gedankenfluss.
«Hast du es erhalten?», fragt sie mich.
«Ja, ich schau es mir an, warte kurz.» Ich schau mir die Fotos an und schmunzle.
«Ok, beeil dich!», antwortet Sandra.

Ich tue, wie mir angewiesen und erkenne Sandra sofort auf den alten Fotos. Ihre hellblonden Haare trug sie früher zu einem Pferdeschwanz. Auf dem Bild umarmt sie Andrea und Anna. Ich erinnere mich, wie sie damals zusammen mit Sandra viele Schüler in der Schule terrorisierte, – mich und Martina eingeschlossen –  ohne je bestraft zu werden. Ich wechsle auf das nächste Bild. Die drei Teenagermädchen tragen schwarze Lederjacken mit Nieten, zerrissene Jeans, und hohe Lederstiefel. Sandra steht in der Mitte und zeigt dem Fotografen den Mittelfinger, was typisch für sie war.
«Und? Was meinst du dazu?»
«Die Bilder sind von 1995. Wir mussten mit der Schulklasse diese fürchterliche Überlebenswoche auf der Alp über uns ergehen lasse. Die Fotos sind aus unserem Schulabschlussalbum. Erinnerst du dich noch daran?» Ich presse die Lippen zusammen. Erinnere mich an den brutalen Überfall auf meine Schwester und auf mich. Wir stritten uns auf dem Heimweg, der durch einen dichten Wald führte. Ich atme tief durch und lass die Erinnerungen los.
«Ja, aber lass uns nicht über dieses heikle Thema sprechen. Vergangenheit ist Vergangenheit und zudem zu schmerzhaft für dich. Trotzdem, macht mich dieses Klassentreffen überhaupt nicht an!»
«Hör zu, nenn mir einen wirklich plausiblen Grund, weshalb wir am Samstagabend nicht hingehen sollen. Hast du etwa Schiss?», frage ich mit energischer Stimme, denn langsam regt mich ihre Ablehnung auf.
«Nein! Aber erklär mir mal, weshalb mir jemand ein Scheiß-Handy mit einer aufwendigen Verpackung schicken sollte? Dann macht diese Person sich noch die Mühe, mir aus dieser Lagerwoche Fotos zu zeigen. Wieso dieser Aufwand?» Ich höre, wie Sandra im Hintergrund die Kaffeemaschine aktiviert.
«Vielleicht gibt es eine versteckte Nachricht. Mir fallen gerade deine ehemaligen Gangmädels Andrea und Anna ein zum Beispiel.»
«Andrea und Anna meinst du?», fragt mich Sandra.
«Exakt!», antworte ich und schließe die Augenlider. Nehme einen tiefen Atemzug. Der süßliche Zimtgeruch der Duftkerze auf dem Stubentisch dringt in meine Nase. Seit der Hypnosesitzung bin ich viel entspannter und was ich da gesehen habe, hat sich in mein Gehirn eingebrannt.

«Mmh… ich habe seit meinem Rückzug aus dem Profiboxsport keinen Kontakt mehr mit den Mädels gehabt. In meinem Fitnesscenter waren sie auch nie. Meinst du, sie stecken hinter dem Klassentreffen und dem Handy?»
«Möglich wäre es. Die beiden Unterschriften auf der Einladung sind unlesbar und der Poststempel ist aus Zürich. Mehr wissen wir nicht.» Ich runzle die Stirn und lösche die Fotos, die sie mir geschickt hat.
«Ich weiß nicht. Sie könnten schon dahinter stecken, schließlich sind wir auf zwei Fotos alle drei drauf und auf den anderen zwei ich alleine. Andrea und Anna liebten Rätsel sowie blutige Horrorgeschichten. Wusstest du, dass beide lange Zeit ein Liebespaar waren, bis Andrea sich in ihre Chefin aus dem Frisörsalon verliebt hat?»
«Nein, wusste ich nicht. Ihr wart damals ziemlich schräg und bös drauf. Daran erinnere ich mich noch gut.» Ich packe die Fernbedienung und schalte den Fernseher aus, der im Hintergrund stumm vor sich hin flackerte.
«Während ich eine Sportlerkarriere statt eine kriminelle- oder Drogenkarriere gewählt habe, ging es den beiden anders. Entzugsklinik und Gefängnis», antwortete Sandra.
«Mmh … irgendwie traurig, aber egal. Konzentrieren wir uns auf die Gegenwart. Wir gehen am Samstagabend an dieses Treffen und keine Widerrede», antworte ich und schnalze mit der Zunge.
«Nein, hab keinen Bock auf all diese damaligen Idioten!» Sie stößt einen tiefen Seufzer aus und gähnt laut.
«Hör zu, mir ist gerade noch etwas eingefallen. Gibt es nicht einen SMS-Ordner?»
«Ja, warte kurz», antwortet Sandra.
«Und? Hast du etwas gefunden?»
«Ja. Es gibt nur eine SMS mit -ICH LIEBE DICH – So eine verfluchte Scheiße! Was soll dieser Bockmist?»
«Eine Liebeserklärung an dich? Vielleicht hast du einen heimlichen Verehrer, einer oder eine aus unserer früheren Klasse? Wir gehen am Samstag an dieses Treffen. Ich meine, Angst wäre Fehl am Platz, schließlich bist du Kampfsportlerin, und ich eine gute Schützin und stolze Besitzerin eines Waffenscheins für eine Berretta.»
«Mmh … ok. Überredet. Bin auch neugierig, wer mich da verarschen will, schließlich haben wir beide ja mit niemand mehr aus dieser Zeit noch Kontakt, also lass uns herausfinden, wer mich da verarschen will.» «Perfekt, ich freue mich schon auf unseren amüsanten Abend. Also bis dann und einen schönen Abend.»

   KLICK –


Ich schlendere zum Bett und lass mich ins Kissen fallen. Schließe meine Augen. Auf einmal sehe ich meine Schwester Martina vor mir, die mir etwas ins Ohr flüstert. Ich lächle und flüstere: «Ja, das verspreche ich dir, mein Sonnenschein … »

 

Kapitel 3

 

«Willst du das wirklich durchziehen?»

«Ja.»

«Bist du dir sicher?»

«Ja, bin ich.»

«Ich kann es auch selber machen, wirklich.»

«Nein, auf gar keinen Fall. Überlasse es mir.»

    «Ich führe unseren Plan aus und übernehme alle
Konsequenzen, die daraus entstehen könnten.
Mein Leid hat endlich ein Ende.»

«Ich werde dafür sorgen, dass alles gut verläuft,
das verspreche ich dir.»

«Ich habe mich immer auf dich verlassen können und
das tue ich auch jetzt.»

«Schwöre mir, dass wenn etwas schief gehen sollte,
du dich der Sache annimmst und es bis
zum Schluss
durchziehst.»

«Ich … ich schwöre es dir. Es wird alles gut
    gehen, das verspreche ich dir.»

«Wieso weinst du?»

«Weil ich nicht will, dass dir etwas geschieht.
Wir haben genug gelitten. Das muss endlich
aufhören

«Ja, das wird es, aber erst, wenn die
Gerechtigkeit gesiegt hat und genau das tun wir
jetzt. Auge um Auge – Zahn um Zahn!»

  

Kapitel 4

Die letzten Tage waren kalt und windig gewesen. Der Schnee blieb zum Glück aus, aber die Straßenverhältnisse sind wegen des heftigen Regens mühsam. Die zweistündige Autofahrt bis zum Ziel im Berner Oberland war für mich anstrengend gewesen. Um meine Gedanken abzulenken, habe ich das Gelaber über die Singledates der gestylten, durchtrainierten blonden Sandra vollkommen ausgeblendet. Ich hingegen habe meine zierliche Figur in einen sportlichen Jeansoverall gehüllt. Nur die dunkelblaue Bomberjacke macht mich etwas breiter, als ich es tatsächlich bin und gibt mir ein schützendes Gefühl. Ich schaue auf das Navigationsgerät, das mir das Ziel ankündigt. Wir sind endlich angekommen.
«Wir sind da! Lass uns aussteigen», sage ich und parke meinen schwarzen Offroad auf dem Plateau eines Berges.

«Wo zum Henker sind wir hier? Auf dem Mond? Gibt es hier oben noch irgendwo Leben, außer ein paar Vögel? Und wo haben die anderen geparkt? Ich sehe kein Schwein hier. Keine Autos, keine Partygäste, keine Hütte nix!» Ich registriere, wie sie fluchend aus dem Auto steigt und verzweifelt versucht, ihren kleinen Regenknirps zu öffnen, aber der starke Wind verhindert ihr Vorhaben. Ich ziehe die Kapuze meiner gefütterten Bomberjacke hoch und schnüre diese zu. Ein Schauer läuft über meinen Rücken, wenn ich daran denke, was noch alles auf uns zukommt. Meine Intuition warnt mich vor einem gewaltigen Sturm, der nicht wettertechnisch bedingt ist.
«Stimmt, aber schau da vorne hinter dem Felsvorsprung ist eine Holzbank und darüber steht ein Richtungsschild mit dem Bild einer Hütte. Siehst du es? Dort müssen wir durch und wir sind viel zu früh, deshalb siehst du keine anderen Autos», antworte ich und laufe in die entgegensetzte Richtung zum Kofferraum.
«Hey, Laura, kommst du endlich? Was machst du da hinter dem Auto?» Sandras Wortfetzen verstehe ich nur zur Hälfte. Ich bin auf mich selber konzentriert. Mein Fokus richtet sich nur noch auf das, was ich jetzt tue.

Ich öffne den Kofferraum, nehme etwas heraus, nicke und lasse diesen offen. Marschiere zu Sandra, die sich zum mir umdreht. Ich sehe, wie sie ihren Regenknirps festhält und die blonden Haarsträhnen ihres Pagenschnittes ihr Gesicht verdecken. Sieht sie es kommen oder nicht? In diesem Augenblick durchströmt ein Adrenalinstoß meinen Körper. Mein Herz schlägt rascher. Ich atme tiefer und schneller. Die Muskeln spannen sich an. Ich bin bereit. Meine Hände umfassen den Griff des Baseballschlägers hinter meinem Rücken fester. Ich erinnere mich an die Bilder, die ich in der Hypnosesitzung gesehen habe. Wie der Holzschläger in Sandras Händen zuerst Martina mehrmals am Kopf und an den Beinen traf, dann auf mich gerichtet wurde. Ich spüre, wie meine Nase, der Kiefer, Beine und noch andere Knochen in mir brechen. Bis heute sind die Spuren auf meinem entstellten Gesicht zu sehen. Die Beinprothesen sind Zeuge davon, wie damals meine Beine zu Brei geschlagen wurden. Ich lag halbtot in einer Blutlache neben meine Schwester. Wie durch ein Wunder habe ich überlebt. Drei Monate später bin ich aus dem Koma erwacht. Mein Geist hat die Bilder tief in meinem Unterbewusstsein verdrängt, bis ich in der Hypnosesitzung alles klar wiedergesehen habe.
«Hey was machst du da Laura? Wieso lässt du den Kofferraumdeckel offen?»
«Weil ich eine kleine Überraschung für dich habe, Liebes.» Ich schenke ihr ein falsches Lächeln und zeige ihr den Baseballschläger. In ihren Augen erkenne ich Verwirrung und Angst.
«Sag mal, was ist mit dir los? Spinnst du?», schreit sie mich wütend an.
«Ich erinnere mich an alles. Es gibt kein Klassentreffen, nur ein Treffen zwischen dir und mir. Das Handy und die Einladung stammen von mir», antworte ich ihr.
«An was?»
«Wie du meiner Schwester eine richtige und unvergessliche Lektion erteilen wolltest, weil sie dir den Freund ausgespannt hatte. Und mich hast du auch dran genommen, weil ihr damals den Thomas vorgestellt hatte und du uns sowieso nicht riechen konntest. Erst hast du mich zum Krüppel geschlagen, und dich anschließend mit mir angefreundet. Aber erst dann, als du dir sicher warst, das ich mich an nichts erinnern konnte. Du bist eine Psychopathin!», schreie ich sie an und stelle mich mit dem Holzschläger vor ihr. Ich sehe, wie ihr das Blut vom Gesicht weicht. Ihre Augen weiten sich. Sie nimmt eine Kampfposition ein, denn sie weiß, das sie einem Krüppel wie ich kämpferisch überlegen ist.

«Laura, komm zur Vernunft! Ich war damals auf Drogen, voller Hass und Wut. Hatte mich und meine Aggressionen nicht unter Kontrolle. Wir waren vierzehn Jahre alt. Das mit deiner Schwester war ein Unfall! Ich hatte nie die Absicht, sie zu töten oder dich zum Krüppel zu schlagen, glaube mir bitte», sagte sie und warf den Knirps weg. Stellte ihre Arme schützend vor ihrem Oberkörper, wie ein Boxer. Sie war bereit.
«Du hast einen Mord begangen und bist damit weggekommen. Dich mit mir anzufreunden war dreist!»
Sandra schüttelt den Kopf: «Nein, du verstehst das nicht. Ich hatte und habe bis heute ein schlechtes Gewissen. Dieses dunkle Geheimnis hat mich innerlich aufgefressen. Deine Freundin zu sein, war, als hättest du mir vergeben, aber das wirst du nie kapieren, niemand kann das!» Ein starker Windstoß fegt uns um die Ohren. Regen setzt ein.

«Du bist ein Monster Sandra, böse und gemein. Dein Herz ist aus Stein. Ich werde dir nie vergeben!», antworte ich.
«Wenn du dich jetzt rächen willst, dann tu es. Auge um Auge, Zahn um Zahn, aber du wirst verlieren Laura. Ich bin viel stärker als du.»
Ich sehe, wie Sandra blitzschnell auf mich zuspringt und mich mit einem geübten Griff zu Boden wirft. Der Schläger fällt mir aus der Hand. Schnell wie ein Wiesel, setzt sie sich auf mich, holt mit dem rechten Arm aus und verpasst mir einen Faustschlag nach dem anderen. Ich spüre, wie Blut aus meiner Nase und Mund fließt. Sie schlägt mich so fest ins Gesicht, das ich das Brechen der Nasenknochen höre. Wie ein tollwütiges Tier fliegen ihre Fäuste auf meinen Körper, so wie damals ihren Baseballschläger, den die Polizei nie gefunden hat.
«Hör auf, du Psychopathin!», schreit eine Stimme hinter ihr. In diesem Moment hört sie mit den Schlägen auf. Mein Gesicht ist blutüberströmt und ich blinzle. Mit dem Spalt meines rechten Auges sehe ich, wie Sandra sich erstaunt umdreht. Mein Vater, den ich im Kofferraum mit einem zweiten Baseballschläger bewaffnet und versteckt hatte, holt mit dem Holzschläger aus und haut auf sie ein. Reißt sie von mir weg. Schlägt wie ein Verrückter immer wieder auf sie ein.
«Das ist für meine süsse Martina! Das für meine verkrüppelte Laura und das für meine Frau Erika, die sich wegen dir an einem Baum erhängt hat und das für mich, das du mein Leben ruiniert hast. Gerechtigkeit muss man selber in die Hand nehmen, du verdammte Schlampe!»

Ich schließe meine Augen, höre Vaters Schreie nicht mehr. Versinke in die Dunkelheit. Ein schönes Bild erscheint auf einmal vor mir. Ist es ein Traum, Realität oder wieder eine dieser Hypnosesitzungen? Ich sehe, wie Martina auf der anderen Seite des Bachufers steht, wo wir als Kinder immer gespielt und oft gestritten haben. Es ist sommerlich warm. Die Sonnenstrahlen auf meinem Gesicht fühlen sich wunderbar an. Mein Blick schweift zum stahlblauen Himmel, wo ein paar Vögel ihre Runden kreisen. Meine Schwester winkt mir zu und ruft meinen Namen.
«Hallo Schwesterherz. Danke, dass du mich gerächt hast! Jetzt kann ich für immer gehen. Wir sehen uns wieder, aber du musst unbedingt wieder den Weg zurück gehen. Folge dem Pfad am Ufer und du wirst es schaffen.»Ich nicke und beobachte, wie sie sich wie in Luft auflöst. Es ist schön hier. Vielleicht bleibe ich da. Irgendwie fühle ich mich leichter, aber nicht besser, denn auf die eine oder andere Art sind wir alle Verlierer in diesem Spiel gewesen, das jetzt endlich vorbei ist – GAME OVER – YOU LOOSE!

 

 

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