TessyGedenke mein

Kathleen schaltete ihren PC ein und stellte die Skype-Verbindung her. Auf dem Bildschirm erschien das Gesicht von Dr. Kepler, die auch jetzt ihren Mundschutz trug. Tatsächlich hatte Dr. Kepler mit ihrer Meinung Recht behalten, dass die wegen der grassierenden Corona-Pandemie derzeit nur via Skype möglichen Sitzungen so etwas „echter“ wirkten. Schon erstaunlich, wie nahe man sich einander fühlen kann, wenn man gemeinsam die Realität imitiert, dachte Kathleen. Dr. Kepler schob ihre getönte Brille ein Stück höher. „Hallo Kathleen! Ich habe mir inzwischen Ihre Patientenakte angeschaut. Möchten Sie mit mir noch einmal über die Geschichte sprechen, die Ihnen so zusetzt?“

 

Oh ja, und wie sie das wollte! Drei Jahre lang hatte sie ihr Geheimnis mit sich herumgetragen; nun sprudelten die Worte nur so aus ihr heraus. Sie hatte geglaubt, dass sie die Sache irgendwann einfach vergessen könnte. Aber je mehr Zeit verging, desto größer wurde der Druck, der auf ihrem Gewissen lastete. Sie war immer nervöser geworden, hatte kaum noch schlafen können, und bei der Arbeit Fehler gemacht. Als sich schließlich ein Stammkunde über sie beschwert und ihre Chefin ihr mit einer Abmahnung gedroht hatte, hatte sie sich entschlossen, eine Psychologin aufzusuchen. Es war so befreiend gewesen, sich Frau Dr. Förster zu offenbaren! Auch zu Dr. Kepler, die die Therapie weiterführte, hatte sie sofort Vertrauen gefasst. Mittlerweile lechzte sie nach den regelmäßigen Skype-Sitzungen mit Dr. Kepler wie eine Verdurstende nach Wasser; vor allem, weil sich ihr seelisches Befinden noch immer nicht gebessert hatte.

 

Und dann fand Kathleen das Handy. Es klemmte in der Lücke zwischen zwei Sitzen auf ihrem gewohnten Platz im Bus, mit dem sie täglich zur Arbeit fuhr. Als sie das Gerät aus der Lücke zog, schaltete sich das Display ein – und ihr eigenes Bild blickte ihr entgegen.

 

Kommissarin Filling versuchte, die völlig aufgelöste Frau, die ihr in ihrem Büro gegenübersaß, zu beruhigen. „Sicherlich gehört das Handy jemandem, den Sie kennen. Haben Sie denn überhaupt schon einmal herumgefragt?“ „Das brauche ich nicht“, stieß Kathleen hervor, „niemand, den ich kenne, würde heimlich so viele Fotos von mir machen! Mich verfolgt jemand!“ Die Polizistin musste sich zusammenreißen, um nicht die Augen zu verdrehen. „Gute Frau, ich kann Sie nur bitten, das Gerät beim Fundbüro abzugeben. Hier liegt keine Straftat vor, ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen.“ „Aber Sie können doch bestimmt herausfinden, wem das Handy gehört! Bitte!“ Fillings Geduld näherte sich nun langsam, aber sicher dem Ende. „Ja, das könnte ich wohl – wenn ich einen Grund dazu hätte. Den habe ich aber nicht.“ Sie stand auf, zerknüllte den eben erst angefangenen Notizzettel und warf ihn in den Papierkorb. „Das Fundbüro ist gleich hier gegenüber. Auf Wiedersehen.“

 

„Oh, Ihnen geht es ja heute gar nicht gut! Was ist denn passiert?“, fragte Dr. Kepler. Kathleen wischte sich mit dem Ärmel über die Nase und schaute mit tränenverschleiertem Blick die Frau auf ihrem Bildschirm an, die daraufhin automatisch ihren Mundschutz zurechtrückte. Stockend berichtete sie Dr. Kepler, wie sie auf dem gefundenen Handy unzählige Fotos von sich entdeckt hatte: Kathleen, wie sie ihre Haustür aufschloss, Kathleen, wie sie an der Haltestelle auf den Bus wartete, Kathleen, wie sie abends das Firmengelände verließ… Und wie verzweifelt sie war, als die Polizistin sie behandelt hatte wie eine hysterische Kuh! „Haben Sie das Handy denn dann beim Fundbüro abgegeben?“, fragte Dr. Kepler. „Nein,“ antwortete Kathleen „ich habe es zertreten! Zertreten und in den Müll geworfen!“ „Schade, ich hätte es mir gerne einmal angesehen.“ „Aber das ist ja noch gar nicht alles“, erklärte Kathleen, „Als ich nach Hause gekommen bin, habe ich anonyme Briefe im Postkasten gefunden. Gleich mehrere, ich hatte einige Tage nicht mehr nach der Post geschaut.“ „Anonyme Briefe? Was stand denn darin?“ „Immer nur wenige Worte ‚Gedenke mein‘ oder ‚Wir werden uns wiedersehen‘ und so ein Zeug. Ich weiß nicht, was das alles soll!“ Dr. Kepler räusperte sich und zögerte einen Moment, bevor sie vorsichtig fragte: „Ist Ihnen vielleicht etwas Ungewöhnliches aufgefallen? War zum Beispiel Ihr Drucker eingeschaltet, obwohl Sie sich nicht daran erinnern konnten, ihn benutzt zu haben? Oder waren die anonymen Briefe möglicherweise mit den gleichen Marken frankiert, die Sie auch zuhause haben?“ Kathleen schloss die Augen und holte tief Luft.  „Was wollen Sie damit sagen? Ich habe doch nicht… ich… ich bin doch noch nicht verrückt!“ Jetzt verlor sie vollends die Fassung und brach in haltloses Schluchzen aus. „Manchmal sind die Dinge nicht so, wie sie scheinen“, versuchte Dr. Kepler sie zu beruhigen. „Ich werde mir etwas überlegen, das ihnen schnell helfen wird. Jetzt nehmen Sie eine Schlaftablette und versuchen Sie jetzt erst einmal, etwas Ruhe zu finden.“

 

„Sie wollen WEN anzeigen?“ Kommissarin Filling nahm die Finger von der Tastatur und sah Kathleen stirnrunzelnd an. „Sie haben mich schon richtig verstanden, ich will Frau Melissa Berkel anzeigen“, entgegnete Kathleen mit fester Stimme. „Sie muss diejenige sein, die mir diese anonymen Briefe geschickt hat. Sie ist garantiert auch diejenige, die mich heimlich mit dem Handy fotografiert hat!“ „Und warum sollte sie das ihrer Meinung nach getan haben?“ Kathleen rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her. „Frau Berkel und ich haben früher zusammengearbeitet, sie muss irgendwie herausbekommen haben, dass ich…“ Sie brach ihren Redefluss abrupt ab. „Dass Sie was?“, hakte die Kommissarin interessiert nach. „Ach, nichts. Wir mochten uns einfach nicht besonders.“ Und das war ja nicht einmal gelogen. „Sie meinen aber doch wohl nicht die Melissa Berkel, die früher einmal mit der Fernsehmoderatorin Svenja Berkel verheiratet war?“ „Doch, genau die meine ich! Ihr B-Promi-Status wird sie ja wohl kaum vor einer Anzeige schützen, oder?“ „Nein, der nicht“, entgegnete Filling und lehnte sich zurück, „aber die Tatsache, dass sie tot ist. Sie hat sich vor zwei Jahren von einem Parkhaus gestürzt. Ich habe ihren Fall bearbeitet, bevor ich hierher versetzt worden bin.“

 

Mit zitternden Fingern drosch Kathleen auf die Tastatur ihres Rechners ein und vertippte sich mehrmals, bis endlich die Skype-Verbindung zu Frau Dr. Kepler zustande kam. Dr. Kepler zupfte ihren Mundschutz zurecht und fragte besorgt „Kathleen, was ist denn los? Sie sehen ja furchtbar aus!“ Schluchzend berichtete Kathleen ihr, was sie bei der Polizei erfahren hatte. „Das kann einfach nicht sein,“ schrie sie, „ich bin doch nicht verrückt!“ „Da scheint sich jemand einen schlechten Scherz mit Ihnen zu erlauben“, sagte Dr. Kepler besänftigend. „Ich habe eine Therapie für Sie ausgearbeitet, für die wir uns ausnahmsweise persönlich treffen sollten, natürlich unter Einhaltung aller Schutzvorkehrungen. Ich werde leider erst recht spät in der Praxis fertig werden, aber wir sollten noch heute mit der Behandlung beginnen.“

 

Kathleen schaute hinab auf die Lichter der Stadt, die zu dieser späten Stunde schon zu erlöschen begannen. Sie hoffe, dass ihr die direkte Konfrontation mit den Umständen von Melissas Tod tatsächlich so gut helfen würde, wie es ihr die Psychologin prognostiziert hatte. Hinter ihr lehnte Dr. Kepler an dem Baustellenschild, das vor den Gefahren aufgrund des fehlenden Geländers warnte. „Was mag Melissa gefühlt haben?“, fragte Dr. Kepler leise. „Ich weiß es nicht.“ flüsterte Kathleen und drehte sich zu der Ärztin um. „Melissa hat gefühlt, dass sie sterben würde.“, sagte Dr. Kepler mit plötzlicher Eiseskälte in der Stimme. Sie nahm ihren Mundschutz und die getönte Brille ab, dann riss sie sich die dunkle Perücke vom Kopf. Kathleen erstarrte vor Entsetzen, als die markanten roten Locken und die Person erkannte, die sich als ihre Therapeutin ausgegeben hatte. Vor sich sah sie ihre frühere Kollegin Melissa Berkel. Die Melissa Berkel, die schon seit zwei Jahren tot war.

 

Kathleen wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus. Sie fühlte den kalten Wind in ihrem Nacken, als sie mit lähmendem Entsetzen rückwärts taumelte. Zu spät bemerkte sie die Kante hinter ihrem Absatz, dann stürzte sie über die Absperrung und fiel in die Tiefe.

 

Erschüttert betrachtete Kommissarin Filling den zerschmetterten Körper auf dem Asphalt vor dem Parkhaus. „Was für eine grausame Ironie – die Person, gegen die sie bei mir Anzeige erstatten wollte, hat sich vor zwei Jahren auf genau die gleiche Weise umgebracht. Ich dachte, es genügt, wenn ich der Frau empfehle, psychologischen Rat einzuholen. Hätte ich ihre Behauptung, bereits bei einer Frau Dr. Kepler in Behandlung zu sein, doch nur gleich überprüft! Dann hätte ich gewusst, dass diese angebliche Psychologin genauso ihrem verwirrten Geist entsprungen ist wie die Verfolgung durch eine Tote. Verdammt, dann hätte ich ihren Selbstmord vielleicht verhindern können!“ Fillings Kollegin legte ihr die Hand auf die Schulter und schüttelte den Kopf. „Wir können verhindern, dass Menschen sich gegenseitig töten. Aber wir können kaum etwas dagegen tun, dass Menschen sich selbst töten.“

 

Stella lächelte, während sie das Polizeiaufgebot beobachtete, das sich vor dem Parkhaus eingefunden hatte. Als sie vor wenigen Wochen in der psychologischen Praxis, in der sie als Schreibkraft beschäftigt war, die handschriftlichen Notizen ihrer Chefin in die Patientenakte übertragen hatte, war sie wie elektrisiert gewesen: Die neue Patientin hatte Frau Dr. Förster haarklein geschildert, wie sie Melissa aus dem Unternehmen gemobbt hatte, um sich selbst den Posten der Abteilungsleiterin zu sichern. Wie sie der Geschäftsleitung das freizügige Foto zugespielt hatte, das sie zufällig auf einer Sexseite im Internet gefunden hatte. Wie Melissa daraufhin zunächst ihren Job verlor und kurze Zeit später die Stadt verließ, als das Foto irgendwie den Weg in die sozialen Medien gefunden hatte. Und was für ein berauschendes Gefühl des Triumphs sie durchflossen hatte, als sie selbst endlich den Posten der Abteilungsleiterin besetzen konnte. Niemand hatte erfahren, dass sie diejenige gewesen war, die der Geschäftsleitung das kompromittierende Foto geschickt hatte.

 

Stella kannte das Nacktfoto mit der obszönen Pose nur zu gut. Es war bei der Produktion eines Erotikfilms geschossen worden, der aber nie veröffentlich worden war. Sie nutzte das Foto gerne für die Sedcard ihres speziellen Model-Jobs, bei dem die Kunden für entsprechende Bezahlung etwas mehr bekamen als nur Bilder. Irgendjemand musste das Bild wohl abfotografiert und im Internet in Umlauf gebracht haben. Stella hatte das nichts ausgemacht, sie hatte es eher als Werbung für sich angesehen. Aber damals hatte sie auch noch nicht gewusst, dass sie eine Zwillingsschwester hatte, die ihr bis aufs Haar glich. Erst vor Kurzem hatte ihr ihre Adoptivmutter erzählt, dass sie und ihre Schwester gleich nach der Geburt getrennt worden und in verschiedenen Familien aufgewachsen waren. Stella hatte sich sofort auf die Suche nach ihrer Schwester gemacht und sie tatsächlich gefunden – aber da war sie bereits tot. Melissas Mutter hatte ihr unter Tränen die tragische Geschichte ihrer Adoptivtochter erzählt.

 

Obwohl Melissa nach dem Vorfall Hunderte von Kilometern weit weg in eine andere Stadt gezogen war, hatte sie keine Anstellung mehr gefunden. Ihre neue Freundin verließ sie während der Hochzeitsvorbereitungen, als sie das unglückselige Foto im Internet entdeckte. Sie beschuldigte Melissa, sie belogen zu haben, packte ihre Sachen und ging. Melissas Leben wurde nie wieder wie zuvor. Sie beendete es schließlich, indem sie von einem Parkdeck sprang.

 

Stella und die trauernde Mutter hatten sich in den Armen gelegen und gemeinsam um die Frau geweint, die ihre Schwester nie kennenlernen durfte.

 

Nachdem Kathleen Frau Dr. Förster in ihrer Praxis ihre Tat gebeichtet hatte, war es für Stella ein Leichtes gewesen, sie am Telefon davon zu überzeugen, dass man sie an eine Kollegin verweisen müsse. Die Rolle der dafür frisch von ihr erfundenen Dr. Kepler gefiel Stella ausgesprochen gut. Und die inzwischen ausgebrochene Corona-Pandemie spielte ihr ideal in die Hände: So konnte sie Kathleen „therapeutische Sitzungen“ unter ihrem eigenen Skype-Anschluss unterschieben und ihr verräterisches Äußeres dabei mit einem Mundschutz, einer getönten Brille und einer Perücke verbergen, ohne dass ihre „Patientin“ irgendeinen Verdacht schöpfte.

 

Es hatte ihr ein diabolisches Vergnügen bereitet, Kathleen mit der vermeintlichen Verfolgung zu quälen. Wie hätte sie auch wissen sollen, dass es sich bei der alten Frau, die ihr gelegentlich begegnete, in Wirklichkeit um die Person handelte, die sich als ihre Psychologin ausgab? In der Verkleidung der Rentnerin konnte Stella die ahnungslose Kathleen in aller Ruhe unbemerkt fotografieren und ihre Gewohnheiten ausforschen. Und weil sie deshalb auch Kathleens Stammplatz im Linienbus kannte, war es ein Kinderspiel, sie das Handy finden zu lassen.

 

Stella liebte es, sich in den Skype-Sitzungen an dem Schmerz, der Angst und der Verzweiflung zu weiden, die sie in Kathleen auslöste. Es war herrlich, sich daran zu ergötzen, wie sie immer hysterischer und fahriger wurde. Um ihr Vergnügen noch zu steigern, schickte sie Kathleen anonyme Briefe. Unsinnige Phrasen wie „Gedenke mein“, gedruckt in übergroßer Schmuckschrift, genügten schon, um sie in Angst und Schrecken zu versetzen. Sie sollte so leiden, wie auch Melissa gelitten hatte. Und sie sollte so sterben, wie Melissa gestorben war. Heute ganz hautnah Kathleens fassungslose Panik und ihr maßloses Entsetzen genießen zu dürfen, war der Höhepunkt ihres kleinen Spiels gewesen. Allein der Gedanke daran jagte Stella noch immer wohlige Schauer über den Rücken.

 

Kathleen hatte sich gewünscht, sich für immer von ihren Schuldgefühlen befreien zu können. Nun, diesen Wunsch hatte Stella ihr erfüllt.

 

Schade nur um den schönen Zeitvertreib, an dem sie inzwischen einen solchen Gefallen gefunden hatte. Aber wer weiß, vielleicht würde sich eine neue Spielgefährtin finden. Sie wusste jetzt ja, wie es funktionierte.

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