Alina JenischAurel

 

Es war das erste Mal in dieser Woche, dass ich mich dazu entschied, die Zeitung, die bereits den gestrigen Tag auf meinem Tisch lag, anzufassen. Ich beschrieb mich gerne als einen Mann, der sich zum Nachteil vieler Frauen mit einem Buch im Bett eben mal stundenlang aufhalten konnte. Das jedoch ging nicht mit einer Zeitung, schon gar nicht mit einer der Billigen. In solch aufgesetzten Presseberichten wurde hauptsächlich nur über Unsinn und Lügen diskutiert, was meiner Wissbegierde wahrscheinlich keinen Vorteil verschaffte. Aber ich war mir ziemlich sicher, mindestens einen dieser Artikel zu kennen, ohne ihn zuvor gelesen zu haben. Deshalb musste ich zweimal überlegen, sie zu öffnen. Zu meinem Glück war es schon die Titelseite, die in mir ein elendiges Gefühlschaos erweckte. Jedoch nahm ich das Bündel vorsichtig in meine Hand, um mich zu vergewissern, was meine Augen durch die Brille gelesen hatten. “Krankenschwester erstochen”, war die Überschrift des Artikels, der sich am Rand, beinahe übersehbar, befand. Eigentlich wollte ich mich auf direkten Weg ins Bad begeben und meinen Kopf in die Toilettenschüssel stecken, doch gegen die Schnelligkeit meiner Magensäure kam ich nicht an, weswegen sich der Weg zum Mülleimer als kürzeren erwies. Noch nie war mir die Realität so bewusst wie in diesem Moment. Erst jetzt wurde mir klar, dass mein Leben kein Albtraum war, sondern purer Ernst. Nichtsdestotrotz hätte ich schwören können, dass ich keineswegs so früh von Lilis Tod hören würde, geschweige denn jemals. Doch anscheinend hatte ich mich geirrt, gegenüber der Ernsthaftigkeit der Situation und ihrem Vertrauen. So wie ich mich in allen Frauen bisher irrte, mit denen ich etwas zu tun hatte. Mein Sinn für Verständnis distanzierte sich immer weiter von mir, weshalb mir keine andere Wahl blieb, als dasselbe mit meinen Beziehungen zu tun. Ich zerbrach nach jedem Atemzug, den sie während der nutzlosen Diskussionen mit mir teilten, nur um mich mit dem zu konfrontieren, wovon ich bereits wusste. All das, was ich in die minderwertigen Beziehungen investierte, zeigte meinem Verstand umso mehr, was es bedeutete, zu verlieren für was man kämpfte. Im Höhepunkt all dieser Erkenntnis überkam mich das vertraute Gefühl, als entzöge sich meine bereits zerschmetterte Seele nun endgültig aus meinem makellosen Körper. Es war jedes Mal ein Feuerwerk gezündet vom Schmerz mit ein wenig Unterstützung von Clozapin und Codein. Jedoch war meine Liebe zu Lili viel stärker als alles andere, was man je hätte beschreiben können. Doch die Gewissheit war wie ein Schuss zwischen meine Augen, der sich in mein Gehirn bohrte und für noch mehr Schaden führte, sodass ich allmählich die Kontrolle verlor. Ich war nicht blind vor Liebe, ich glaubte an sie. Deshalb viel es mir umso leichter sie auf diese Weise gehen zu lassen. Es war nicht nur für sie, sondern auch für mich besser. Ich konnte nicht mein restliches Leben mit dem Gedanken und den Schmerzen, von ihr mit einem Psychologen hintergangen zu werden, verbringen. Wie hieß es doch so schön; die meisten Verbrechen geschahen aus Liebe.
Der grauenvolle Film, der sich vor meinem Auge abspielte und sich immerwieder wiederholte, schien mal wieder kein Ende anzunehmen, also griff ich mit zusammengepresstem Kiefer nach einem Taschentuch und trocknete meinen feuchten Mund ab. Allmählich verschwand der widerliche Gestank, der sich zum Glück nur kurzfristig in meiner Nasenschleimhaut abgesetzt hatte.

Köln sollte ein Neuanfang werden, weit weg von Berlin, meiner eigentlichen Heimatstadt. Ich ließ mich, den bedauernswerten, naiven, schmerzerfüllten Aurel in Berlin zurück. Der, der doch nie das richtige aus seinem Leben machen wird, der Verrückte. Ja, ich war der, der immer wegrannte und sich den Dingen nie stellte, nicht stellen konnte. Der, der seine gewellten, rötlichen Haare immer anders färbte, da es ihm zu peinlich war, angestarrt zu werden. Das Einzige, was ich nicht verbergen konnte, waren meine Sommersprossen. Doch auch ich musste der Realität einmal ins Auge blicken und feststellen, dass nur wenige Personen bereit waren hinter mir zu stehen. Abgesehen von meiner Familie blieb mein bester Freund, der hier in der Nähe wohnte, übrig. Enrico verstand mich, abgesehen davon, dass er bei meinem hysterischen Wutausbruch live dabei gewesen war und alles mitansehen musste, mich aber für schlimmeres auch nicht mehr zurückhalten konnte, so stand er doch immer hinter mir. Meiner Meinung nach verdiente ich ihn nicht, da ich es doch immer wieder schaffte, es zu verscherzen, denn ich war es, der ihn hatte schuldig fühlen lassen. Hätte ich mich im Griff gehabt, hätte er auch nicht tatenlos zusehen müssen. Es wurde mir endlich bewiesen, dass das Glück bei mir das Einzige war, das sich nicht verdoppelte, wenn ich es zu teilen versuchte, sondern verringerte. Im Nachhinein wurde mir wohl oder übel ebenso klar, dass Enrico Berlin niemals wieder besuchen würde. Er war es, der mich dazu motivierte nach Köln zu kommen, um mir zu helfen.

Ich zog mir meine altmodische Jeansjacke über, die sich beim Betrachten meines Spiegelbilds sehr gut mit meiner Haarfarbe abstimmte. Kaum verließ ich das Erdgeschoss, das ich schon seit zwei Tagen mein neues Zuhause nennen musste, stieg mir ein Duft süßer, saftiger Brownies in die Nase, deren grashaltigen Inhalt nahezu meine Jugendzeit symbolisierten. Es war mir beinahe so, als würde ich sie schmecken, mein Unterbewusstsein konnte eben kaum das Treffen mit Enrico abwarten. Es stellte sich als eine perfekte Gelegenheit heraus, um einen kurzen Spaziergang durch die mir noch unbekannte Gegend zu wagen. Diesmal versuchte ich bewusst auf mein Umfeld zu achten, auf die Menschen und die Natur, die mich umgab, ich war schließlich in einer neuen Stadt mit neuen Möglichkeiten. Ich verlies das Gebäude und somit den Südteil und überquerte ein kurzes Stück Park. Es war angenehm, Geräusche einer noch unberührten Natur zu hören. Das Vogelgezwitscher und Rauschen der Bäume, erwies sich als so einiges erfreulicher, wie so viele Stimmen, die ich bereits in meinem Leben ertragen musste und sich in meinen Kopf immer wieder wiederholten. Als ich kurze Zeit darauf einen Einkaufscenter von der Ferne zwischen ein paar Bäumen erblickte, war ich wohlwissend, unseren Treffpunkt fast erreicht zu haben. Also folgte ich dem Einkaufscenter, bis ich bei der nächsten Kreuzung abbiegen musste.

“Und da bin ich”, begrüßte ich Enrico von hinten, der dementsprechend erschrak und reflexartig eine Hand auf die Brust schlug.
“Hey, Aurel.”, er zog mich mit einem breiten Grinsen in eine Umarmung und schlug mir kräftig auf den Rücken.
“Sieht sehr schön aus hier, nicht so monoton wie ich es eigentlich erwartet hatte.”, stellte ich überzeugt fest. Das Bistro war größer als man es von draußen erwartet hätte. Der gesamte Eingang war mit einer großen Fensterfront ausgestattet. An der Fensterfront befanden sich sofaähnliche Sitzgelegenheiten, die der Reihe nach abwechselnd grün und braun waren. Auf einer dieser nahmen wir Platz. Gegenüber befand sich das Buffet mit der Kasse, dahinter wahrscheinlich die Küche.
“Ich erwarte heute noch einen wichtigen Anruf, muss also etwas früher los.”, berichtete Enrico.
“Klar, kein Problem.”, lächelte ich etwas versteift.
Wenn wir eine weitere Gemeinsamkeit, außer Loyalität und Ehrlichkeit, besaßen, dann waren es unsere welligen Haare. Wie bei mir wiesen sie bei Enrico eine feste und dauerhaft splissfreie Struktur auf. Das einzig feste in meinem Leben. Zwischen unseren letztem Treffen lagen zwar erst ein zwei Wochen und trotzdem schien es mir, abgesehen weniger Stressfalten auf seiner Stirn, als würde er jedes Mal jünger und ich älter werden. Was eventuell auch an seinem Faible für Sport liegen kann und meinem für Stress, Sorgen und Leid.
Wir holten uns etwas zu Essen und nahmen Platz.
“Wie geht es dir nach allem?”, nahm er das Gespräch wieder auf.
“Soweit lässt sich alles gut genug verkraften”, antwortete ich nicht allzu überzeugend, was er hoffentlich nicht bemerkte.
“Ach ja, schön zu hören.”
“Ich genieße die Natur, sofern ich es mal nach draußen schaffe”, lächelte ich verlegen.
“Das wirst du jetzt auf jeden Fall öfter können.”, zwinkerte er.
“Ja, da hast du recht.”, entgegnete ich ihm.
Ich blieb noch einen weiteren Augenblick auf der Couch sitzen, nachdem Enrico sich verabschieden musste. Und erst dann, als ich mir die Karte nochmals zur Hand nahm, um einen kurzen, letzten Blick darauf zu werfen, entdeckte ich im Augenwinkel das Handy. Enrico hatte es vor lauter Stress liegen gelassen. Na super, auch das noch, sein Anruf. Ich war nicht einmal in der Lage es zu ihm zu bringen, er musste es abholen. Um keinen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, packte ich es ein und lief den gleichen Weg zurück.

In meinem Schlafzimmer angekommen ging ich mein alltägliches Ritual durch, alles an seinen Platz zu stellen, bevor ich Enrico wegen seines Handys anrief.
Ich wählte die Nummer seines Arbeitsplatzes.
“Dr. Steiner Hallo.”, meldete sich Enrico.
“Hey, ich bin es, sorry wenn ich störe…” “Hey Aurel, tut mir echt Leid wegen vorhin, das wiederholen wir.”, unterbrach mich Enricos Stimme.
“Alles okay, deine Arbeit ist wichtiger. Aber deswegen rufe ich nicht an, ich kann dir dein Handy leider nicht bringen wie du weißt, du musst es holen.”, gestand ich ihm leicht beschämt.
“Mein was? Das ist hier Aurel, steckt am Ladekabel.”
Auf einmal, wie ein Schlag fing alles an sich zu drehen, ich bildete mir nicht ein verrückt zu sein, anscheinend war ich es. Um schlimmeres als den Verlust meines Bewusstseins zu verhindern, ließ ich mich langsam auf den Sofasessel sinken.
“Hallo, bist du noch dran?”, wurde die Stille von einer besorgten Stimme unterbrochen.
Ich räusperte mich, “Jaja, bin ich. Hab mich anscheinend vertan.” Abrupt beendete ich das Gespräch. Mir wurde soeben erst klar, dass ich im Besitz eines fremden Handys war, das ich einfach so mitgenommen hatte. Aber vorher lag es doch auch noch nicht da ? Oder war es doch nur mein eigenes ? Ausgeschlossen, es hatte keine Ähnlichkeit mit meinem. Seit dem Unfall vor einem Monat war es kaputt gegangen weswegen ich mein altes Modell vorübergehend benutzte. Es dauerte nicht lange und ich warf aus Neugier einen Blick auf das hüllenlose I Phone. Ich lies es in meinen Händen hin und her wiegen bevor ich mich dazu entschied es anzuschalten. Gegen meiner Erwartung verlangte es keinen PIN, also reichte ein kuzes Wischen über den Bildschirm. Ein Chatverlauf öffnete sich, es war ein offener Tab. Der Kontaktname konnte nicht geladen werden, es gab nicht einen Balken Empfang. Den Chat konnte ich dennoch klar und deutlich lesen. Es war lediglich eine Nachricht auf dem sonst leeren Verlauf zu sehen, die mich erzittern lies.
Du wirst es noch einmal tun!
Ich las den Satz zweimal, dreimal, viermal, zehnmal, immer schneller. Nach jedem weiteren Mal wurde er undeutlicher, wie, als würde er allmählich vor meinen Augen verschwinden.
“Wer sind sie? Was meinen sie?”, wollte ich schreiben, doch es war mir nicht möglich, ich konnte die Tastaur nicht bedienen, stattdessen erschien eine weitere Nachricht.
Warum hast du es getan?
Schlagartig spürte ich es wieder, den leichten Schwindel, die Kopfschmerzen, mein Hals, der sich plötzlich seltsam geschwollen anfühlte.
“Ich weiß es nicht.”, raunte ich kraftlos in die Leere meines Zimmers.
Es erschien eine weitere Nachricht.
Hättest du deine Krankheit im Griff, wäre all das nicht passiert und du wärst glücklich.
“Ich war noch nie glücklich! Wer behauptet das ?”, schrie ich machtlos gegen den Bildschirm. Doch dann erschien ein Wort, das mir den letzten Funken Verstand raubte. Es war eine Vermutung, dessen Antwort nur ich kannte.
Du.
Und sie erwies sich als richtig. Nur ich war im Besitz dieser trostlosen, verantwortungslosen Erkenntnis, die nicht nur mir sondern auch anderen Menschen Schaden zufügte. Wie in Trance wischte ich über den Bildschirm, hoch und runter. Plötzlich war ich am Anfang des Chates angelangt, den ich vorher nicht bemerkt hatte.
“Nein, das kann, das kann nicht sein.”
Ein Bild von Lili. Nicht nur irgendeines, sondern das, welches ich von ihr vor einem Monat in der Klinik, einen Tag vor ihrem Tod, flüchtig geschossen hatte. Aus meinem Zimmer. Aus meinem Bett. Aus meinem Blickfeld.
“Ich habe das niemals jemanden geschickt. Ich kenne die Nummer nicht. Ich kenne das Handy nicht!”, wollte ich gegen alle Vernunft aus meinem Fenster brüllen, sodass es jeder hören konnte, aber es kam nur ein vergebliches Krächzen aus mir heraus. Es war die vergebungslose Trauer, die in den Nachrichten steckte, was mich die Fassung verlieren lies. Obwohl die bisherige Dosis, die ich einnahm, schlimmeres nicht verhindern konnte, schaffte es die doppelte Tablettenmenge, die ich mir erfolgreich gegen den Willen meiner Ärzte bunkerte. Um die Menge wirken zu lassen, krallte ich mich am Waschbeckenrand fest, hob meinen schwer gewordenen Kopf an und sah in die leeren grünen Augen meines Spiegelbildes, die einst funkelten.
“Kann das wirklich sein?”, mit zitternder Stimme und bebenden Lippen krallte ich mir an meinen Kopf im Kampf mit meinem Gewissen, das sich gegen meine inneren, aufbrausenden Emotionen stellte.
“Hör auf damit, ich will das nicht mehr”, ich vergrub mein Gesicht in den Händen in der Hoffnung nicht mehr atmen zu können.
“Es tut mir ja so leid, bitte, nur mach das es aufhört!” Nun brach der Damm meiner Verzweiflung endgültig, sodass ich die Tränen, die mir in die Augen schossen, nicht mehr zurückhalten konnte. Ich wusste nicht, was ich fühlen und was denken sollte. Das Einzige was ich wirklich wusste, war, dass ich mein eigener Gegner, mein eigener Racheengel war und von diesem grauenvollen Gefühl nie wieder eingenommen werden wollte. Nie wieder wollte ich das jemanden antun und auf gar keinen Fall mir selbst. Umhüllt im Schleier meines inneren Konflikts, trottete ich zurück zum Sofasessel und wie erwartet war der Chatverlauf verschwunden und das Handy gab es auch nicht.

Angesichts meiner bisherigen Lebenserfahrung gab es Menschen, die der Genetik zu verdanken als Sieger geboren wurden, aber auch welche, die zum Verlieren verdammt waren. Das hatte ich geglaubt zu sein, einer der Verdammten, doch es war der Selbstzweifel, der mich zu meinem Gegner und gleichzeitig zum Verlierer machte. Jedoch war ich in der Lage mich meinem Gegner zu stellen und über diese Einsicht konnte ich nur schwer erleichternd schmunzeln.

 

10 Stunden zuvor

Es war Montag, der 4. Mai. Noch vor Arbeitsbeginn betritt Enrico das Büro von Dr. Anisch, Chefärztin der Psychiatrie in Köln. Er lehnte sich gespannt an eines ihrer vier gefüllten Bücherregale und wartete, bis sie mit Aurels Akte zurückkam.
“Diagnose Schizophrenie. Halluzinationen, Störungen des Affekts. Ursache, psychosoziale Strukturen im Jugendalter, übermäßiger Konsum von Cannabis, Ecstasy und Schmerzmitteln, besonders Codein. Behandlung durch regelmäßige Verhaltenstherapie und Medikamenten wie Clozapin und Antipsychotika. Tritt in regelmäßigen Schüben auf, die von starken Wahnvorstellungen und extremen Realität -, Gefühls – und Kontrollverlust geprägt sind, weswegen ihm der Führerschein bereits früh entzogen werden musste. Eine Einlieferung in die Psychiatrie ist aufgrund extremer Suizidgedanken, die durch die schizophrenen Schübe verursacht wurden, und Mord an Krankenschwester Lili Tolmar notwendig. Auf Wunsch des Patienten erfolgte die Einlieferung in die Psychiatrie Köln.”, las Dr. Anisch aus der Akte vor. Sie zog ihre Lesebrille ab, wodurch ihre großen, grünen Augen zum Vorschein kamen und schaute Enrico eindrucksvoll an.
“Aurel ist einer der schwierigeren Fälle. Niederlagen oder tiefgreifende Veränderungen, die sich negativ auf ihn auswirken, kann er nicht verkraften und reagiert impulsiv. Er nimmt Gefühle anders war, verliert auch über seine eigenen die Kontrolle. Du kennst ihn doch, wie war das früher, in eurer Schulzeit ? Beziehungen zu Gleichaltrigen ?”
“Er hatte die Diagnose mit 17 Jahren bekommen. Er hatte auf der Klassenfahrt eine Stimme gehört, die ihn dazu aufforderte aus dem Fenster zu springen. Ich und ein paar Kumpels hielten ihn davon ab. Ansonsten genauso wie du es aus der Akte vorgelesen hast. Von seinem Beziehungen zu Frauen weiß ich nicht viel. Bei seiner Ex, mit der er am längsten zusammen war, war er der festen Überzeugung sie würde ihm fremdgehen, weil es manchmal nicht so lief wie er es gerne gehabt hätte. Außerdem habe sie öfter telefoniert und er hat in der Anruferliste Namen gelesen, die sie anscheinend nie angerufen hatte.”, erläuterte er und überlegte einen kurzen Augenblick, um die vorhandenen Informationen zu verknüpfen. “Lili hatte er ja auch bei einem Telefonat “erwischt”. Handys haben anscheinend in seinem bisherigen Beziehungen öfter eine Rolle gespielt.”, stellte er beeindruckt fest und stemmte die Arme in die Hüften.
“Das ergibt Sinn. All seine bisherigen Beziehungen waren kein Erfolg. Seine Krankheit fraß ihn förmlich von Innen auf, sie beherrschte ihn und er ließ sich beherrschen.”, bestätigte er.
“Die meisten Patienten kommen mit Schizophrenie schwer zurecht, obwohl sie behandelbar ist, stellt sie einen vor viele unzumutbaren Herausforderungen. Eben, weil sie vererbbar ist und man an ihr erst später erkrankt und nicht bereits ab der Geburt an. Doch genau deshalb kommt er zu uns, seine Lasten werden ihm endgültig genommen. Doch was er nicht weiß, ist, dass er sie sich selbst nehmen wird.” erklärte Dr. Anisch und fuhr fort, “Es klingt vielleicht noch ein wenig zu weit hervorgegriffen, aber das Handy, das er auch mit Lili verbindet, begleitet ihn schon über seine Einlieferung hinaus. Es stellt sich als ein wichtiges Therapiemittel heraus. Aurels Krankheit lässt ihn Dinge sehen und fühlen, die er durch das Handy mit dem Unfall in Verbindung setzt. Somit leitet er eine Selbstheilung ein, ohne es bewusst zu wollen. Nur wenige psychische Krankheiten haben kleinere Vorteile. Ist jemand paranoid, wird es demjenigen nie passieren, dass er das Kleingedruckte nicht liest. Ist jemand zwangsneurotisch, wird er nie vergessen den Herd auszuschalten. Ist man psychopathisch umgibt einem ein mächtiges Gefühl von Selbstwertgefühl, Intelligenz, Überzeugungskraft und oberflächlichem Charme. Es ist eine selbstverständlich kritisierende Feststellung, aber eine Feststellung. Und warum sollte es nicht auch funktionieren, die Menschen sich selbst durch ihre Krankheit, wenn zu heilen. Wir müssten den Prozess nur einleiten.”
“Mit einem Handy?”
“Genau.”
“Interessant.”
“Es war der Auslöser seiner Tat, die er aber schnellst möglich vergessen wollte. Er leidet außerdem unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, mit der man bekannterweise wie umgeht?”
“Mit einer seelischen und geistigen Stabilisierung, woran der Patient im Anschluss das Trauma überwindet, indem er sich dem Trauma nähert.”
“Bei der Stabilisierung müssen wir uns keine Gedanken machen, das erledigst du bereits als eine wichtige Bezugsperson. Doch um das Trauma zu überwinden, stellt seine Krankheit eine wichtige Funktion dar. Du platzierst das Handy und wir werden feststellen, dass sich seine Seele durch eintretende Erkenntnis langsam, aber Gewiss regeneriert.”
Enrico warf einen kurzen Blick auf die Uhr, die gegenüber an der Wand hing. “Dann mache ich mich mal auf den Weg.”, sagte er entschlossen und nahm den Aufzug ins Erdgeschoss, von dort aus er sich zur Cafeteria begab, in der er sich in wenigen Minuten mit Aurel treffen würde.

14 thoughts on “Aurel

  1. Liebe Alina,

    Ich bin durch deinen Aufruf auf @wir_schrieben_zuhause aufmerksam geworden und hab die nächtlichen Wachphasen direkt dafür genutzt.
    Erst mal vorweg, es ist ja so schade, dass ich deine Geschichte nicht früher gelesen habe und dir nun keinen Like mehr geben kann.

    Mir gefällt der Name deines Protagonisten unglaublich gut und auch, dass deine Geschichte schlichtweg so heißt. Ich hätte sie bestimmt auch gelesen, wenn sie mir vorher über den Weg gelaufen wäre.

    Du hast eine ganz besondere Art zu schreiben, aber eine, die ich sehr gerne mag. Ich liebe Metaphern, tolle Ausdrücke, Verschachtelungen… Du musst nur schauen, dass es nicht zu viel oder zu komplex wird. Für eine Kurzgeschichte top und viel Tiefgang, finde ich. Für einen Roman müsste es an manchen Stellen etwas flüssiger für mich sein, damit ich nicht zu oft raus gerissen werden. Wäre ja aber sicher Passagenweise dann so. Hier habe ich das aber einfach gefeiert.

    Hier hab ich wirklich lachen müssen. Extrem toller Ausdruck:

    Wie bei mir wiesen sie bei Enrico eine feste und dauerhaft splissfreie Struktur auf. Das einzig feste in meinem Leben.

    Das hat mir auch besonders gut gefallen:
    Zwischen unseren letztem Treffen lagen zwar erst ein zwei Wochen und trotzdem schien es mir, abgesehen weniger Stressfalten auf seiner Stirn, als würde er jedes Mal jünger und ich älter werden. Was eventuell auch an seinem Faible für Sport liegen kann und meinem für Stress, Sorgen und Leid.

    Mini Kritik: ich würde das iPhone nicht nennen, wenn die Markennennung nicht nötig ist. In diesem Fall ist es ja egal, welches Handy. Zudem ist es auch falsch geschrieben 😁

    “Du wirst es noch einmal tun!”
    –> eine meiner Lieblingsstellen. Gigantischer Einstieg, total spannend. Ich glaube, das hatte Fitzek ja auch in einem Live-Talk mal erwähnt, oder? Warst du das über den er sprach?

    Ab da hast du mich so gepackt und ich war voll drin in der Spannung:

    „Ich war noch nie glücklich! Wer behauptet das ?“, schrie ich machtlos gegen den Bildschirm. Doch dann erschien ein Wort, das mir den letzten Funken Verstand raubte. Es war eine Vermutung, dessen Antwort nur ich kannte.
    Du.

    Geil geil geil!!! Das erste Mal, dass ich das so lese.

    Umhüllt im Schleier meines inneren Konflikts, trottete ich zurück zum Sofasessel und wie erwartet war der Chatverlauf verschwunden und das Handy gab es auch nicht.

    Tolle Ansicht, toller Absatz:

    Angesichts meiner bisherigen Lebenserfahrung gab es Menschen, die der Genetik zu verdanken als Sieger geboren wurden, aber auch welche, die zum Verlieren…nur schwer erleichternd schmunzeln.

    Ich finde es auch richtig cool, wie die Art deines Stils zwischen den Passagen von Aurel zu dem der Doktoren sich ändert. Die Idee ist richtig gut und ich liebe es, dass es einfach vorbei war. Auch, wenn ich im ersten Moment enttäuscht war, dass es leider schon vorbei ist, interessiert mich nun umso mehr, wie es weitergeht. Geht das so gut, wie geplant? Wie entwickelt sich Aurel?…?

    Bitte schreib weiter und lass es mich wissen, was da noch so passiert. Ich hoffe, das ist alles schon in deinem kreativen Köpfchen.

    Liebe Grüße,
    Jenny /madame_papilio

  2. Liebe Jenny,

    Vielen lieben Dank für dein Lob, das bedeutet mir wirklich sehr sehr viel 😊.

    Dass ich zu komplex schreibe passierte mir leider immer wieder, auch im Deutschunterricht, was sich dann leider negativ auf meinen Stil auswirkt. Das merke ich jedes Mal selbst und ärgert mich auch immer wieder 😅. Dann fällt mir aber auf, dass ich nur so schreiben kann XD.

    Das freut mich, dass dich die Spannung am Ende nochmal gepackt hat, dann ist mir meine Absicht gelungen.

    Zum Ende : Ja, das was Dr. Anisch und Enrico geplant haben geht gut. Seine Regenerierung findet bereits während des Erkenntnisprozesses, durch das Handy, statt und endet nach wenigen Wochen in anhängenden Therapiesitzungen, die ich nicht mehr in die Geschichte miteingebracht habe. Dr. Anisch hat damit eine bahnbrechende Therapiemöglichkeit entdeckt, mit der sie noch weiterhin Erfolg haben wird.
    Aurel hat durch den Aufenthalt in der Kölner Psychiatrie gemerkt, dass es so in seinem Leben nicht weitergehen kann und auf jeden Fall etwas ändern muss um weiterleben zu können. Diese Erkenntnis geht er erfolgreich an, bis er schließlich die Klinik verlassen darf.

    Ich habe mir auch schon überlegt aus der Kurzgeschichte einen Thriller zu schreiben, bin mir dabei aber noch nicht ganz sicher.

    Liebe Grüße,
    Alina
    🙂

    1. Hallo Alina,

      Nur damit wir uns nicht falsch verstehen. Es war vorher schon sehr spannend, aber dann hast du nochmal eins drauf gesetzt.

      Ja, die Idee ist echt cool und man könnte da ja viele Fälle daraus machen und da würden mir auch viele Ideen einfallen, wie es schief laufen könnte 😁

      Komplex ist nicht die Geschichte, sondern manche Sätze. Aber du, ganz ehrlich, wenn das dein Stil ist und du so schreiben kannst und magst, dann ist das auch gut so. Egal, was man im Deutschunterricht davon hält, finde ich.
      Hut ab auf jeden Fall, dass du noch so jung bist und so toll schreibst.

      Liebe Grüße

  3. Hallo Jenny,

    Alles gut, ich weiß was du damit gemeint hast. 😉

    Ja, ich denke, dass die Geschichte auf jeden Fall noch großes potential hätte. Falls du Ideen hast, kannst du sie mir gerne mitteilen, wenn du magst. 😊

    Das sehe ich genauso, vor allem hat auch jeder seinen eigenen Schreibstil und das sollte man auch berücksichtigen.

    Liebe Grüße

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