Peregrina4Mutterliebe

„Jemand war hier.“ Diese Gewissheit durchfuhr Sabine urplötzlich und ohne jeglichen Zweifel. Hinweggefegt war ihre fast schon chronische Müdigkeit, als sie sich vorsichtig im Flur umsah. Etwas war anders als sonst. Die Küchentür. Sabine schloss sie jeden Abend, bevor sie zu Bett ging. Es gehörte zu ihrer Abendroutine. Unter keinen Umständen würde sie sie angelehnt lassen. War die Person noch hier? Sachte schob sie die Tür ein Stück weiter auf und blinzelte hinein. Im schummrigen Licht dauerte es einige Zeit, bis Sabine ein kleiner Gegenstand auffiel, der auf dem Küchentisch lag. Sie ging auf ihn zu und bei genauem Hinsehen erkannte sie ein schwarzes, ihr völlig unbekanntes Handy. „Was war hier los?“ Als sie erneut hinsah, lag das Mobiltelefon noch immer an Ort und Stelle. Sie träumte nicht. Sabine lauschte in die Stille hinein. Sie schien allein zu sein. Jakob schlief noch und so eilte sie zur Haustür. Diese war unversehrt und auch sonst deutete nichts auf ein gewaltsames Eindringen hin. Beunruhigt lief sie zurück und nahm, hin- und hergerissen zwischen Neugierde und Panik, das wie ein Fremdkörper wirkende Handy in die Hand. Als sie es anhob kam ein kleiner Zettel zum Vorschein. Auf ihm befanden sich vier Ziffern. 4285. Als sie das Display berührte, leuchtete der Sperrbildschirm auf und Sabine tippte wie hypnotisiert mit leicht zitternden Fingern die Zahlenfolge ein.

Der PIN war korrekt und so entsperrte sich das Telefon, das eine ungelesene Nachricht anzeigte. Schon bei dem ersten Wort verwandelte sich ihr leichtes Unbehagen in handfeste Panik. Sabine! las sie dort. Ihr Name wirkte in dieser surrealen Situation zeitgleich vertraut und bedrohlich. Die nachfolgenden Zeilen markierten den Beginn einer für sie unvorstellbaren Tortur, die ihr Leben für immer verändern sollte.

Eilig flogen ihre Augen über den Bildschirm. Ich kenne dein Geheimnis. Wenn du dich an die nachfolgenden Regeln hältst, wird es bei mir sicher sein. Sabines Herz schlug ihr bis zum Hals. Ihr war sofort bewusst, um welches Geheimnis es ging. 1. Sprich mit NIEMANDEM über dieses Handy und die Nachrichten. 2. Setze die Anweisungen, die dich in Kürze erreichen werden, eins zu eins um und halte den Zeitplan penibel ein. 3. Versuche nicht, meine Nummer zurückzuverfolgen. Hältst du dich nicht an die Spielregeln, kann ich nicht für die Sicherheit deines Sohnes garantieren.  

„Jakob!“, schoss es ihr durch den Kopf. Das Mobiltelefon glitt ihr aus der Hand und sie sackte völlig überwältigt auf dem Stuhl in sich zusammen. Das konnte, nein, das durfte nicht wahr sein. Zu ihrem Entsetzen erschienen in dem Nachrichtenverlauf zusätzlich Fotos von ihr. Sie waren gestochen scharf und zeigten bis ins kleinste Detail, was sie jahrzehntelang versucht hatte, geheim zu halten. „Alles okay, Mama?“ tönte es leise aus Richtung des Flurs. Jakob stand verschlafen im Türrahmen und beäugte seine Mutter fragend. Hastig schob Sabine das Handy in ihre Hosentasche und setzte ein gezwungenes Lächeln auf. Sie war durch die langjährige Krankengeschichte ihres zehnjährigen Sohnes und die unzähligen Krankenhausaufenthalte daran gewöhnt, ihm Gelassenheit in herausfordernden Situationen vorzuspielen. Während sie das Frühstück für ihren Sohn vorbereitete, spürte sie ein zartes Vibrieren in ihrer linken Hosentasche. Eine weitere Nachricht. Sie hastete zur Toilette, schloss sich ein, zog das schwarze Gerät heraus und blickte nervös auf die sich öffnende Nachricht. Es waren nur drei Sätze. Doch sie führten dazu, dass Sabines Magen sich krampfhaft zusammenzog und sie sich, gekrümmt vor Schmerz, an der Wand abstützen musste. Sag den OP-Termin für deinen Sohn am Donnerstag ab. Bis 14:00 Uhr. Schicke mir einen Beweis.

Wer war so erbarmungslos und setzte mit seinen Forderungen das Leben ihres Sohnes aufs Spiel? Hieß es nicht in der ersten Nachricht, ihrem Sohn würde nichts geschehen, wenn sie sich an die Regeln hielt? Wie passte das zusammen?

Ihr erster Gedanke, als sie das Handy gesehen hatte, war ihr Ex-Mann Frank gewesen.  Er war der Einzige, der über einen Zweitschlüssel zu ihrer Wohnung verfügte. Hin und wieder war er zu mehr oder weniger lustigen Streichen aufgelegt.  Doch er konnte es nicht sein. Nie würde er die Gesundheit seines geliebten Sohnes aufs Spiel setzen. Das stand fest.

Sabine sah auf ihre Armbanduhr. 09:32 Uhr. Ihr blieben nicht einmal viereinhalb Stunden, um die von langer Hand geplante und zudem lebenswichtige OP ihres Sohnes abzusagen. Sollte sie es wirklich tun und damit in Kauf nehmen, dass sich der Allgemeinzustand ihres Sohnes so weit verschlechterte, dass er ins Koma fiel? Oder vielleicht sogar…? Nein, das konnte sie nicht zu Ende denken. Allerdings schien es der Person ernst zu sein. Wenn sich Sabine nicht daran hielt, würde ihr Sohn sterben. Ihr blieb keine andere Wahl, als die Anweisungen umzusetzen. Obwohl die Ärzte und sie monatelang darauf hingearbeitet hatten, Jakob soweit zu stabilisieren, dass er eine Organtransplantation einigermaßen gut überstehen würde, musste sie nun unter einem Vorwand die geplante OP absagen. „Mama?“, tönte es aus der Küche. Verdammt, sie war schon viel zu lange auf der Toilette eingeschlossen und Jakob wartete sicherlich auf seine allmorgendlichen Medikamente. Auf wackeligen Beinen ging sie zurück, holte routiniert die verschiedenen Blister aus dem alten Küchenschrank, drückte die bunten Tabletten heraus und reichte sie ihrem Sohn. „Meinst du, ich kann dich heute bei der Dialyse ungefähr eine Stunde allein lassen?“, fragte sie. „Natürlich“, nuschelte Jakob, nachdem er die Tabletten wie Smarties geschluckt hatte. Er war schon immer ein wortkarges und eher unkompliziertes Kind gewesen. Schon früh musste er lernen, zeitweise ohne seine Mutter im Krankenhausalltag zurecht zu kommen, da Sabine weiterhin arbeiten gehen musste, um ihre kleine Familie zu ernähren. Da waren wenige Stunden für ihn ein Kinderspiel.

Auf dem Weg zum Dialysezentrum überlegte Sabine krampfhaft, welchen Grund sie dem behandelnden Arzt Dr. Belting nenne könnte, der die geplante Organtransplantation hinfällig werden ließ. Sie setzte Jakob am Dialysezentrum ab und begab sich auf direktem Weg in Richtung des Zentralklinikums. Mit jeder Minute, die während ihrer kurzen Fahrt in den nahegelegenen Stadtteil verging, wurde sie immer nervöser und fand sich schließlich völlig ratlos und verzweifelt online nach möglichen Gründen für eine Transplantationsabsage suchend, auf dem Parkplatz des Klinikums wieder. Es dauerte nicht lange, bis sie fündig wurde und mit einem hoffentlich guten Plan gewappnet die Klinik betrat. Nach kurzer Wartezeit konnte Sabine das Sprechzimmer von Herrn Dr. Belting betreten. Der Mediziner erhob sich strahlend aus seinem Ledersessel und gab ihr die Hand. Mit der anderen deutete er eine Umarmung an. „Es ist immer schön, Sie zu sehen, Frau Kollmann. Darf ich fragen, was Sie nur drei Tage vor der Operation Ihres Sohnes zu mir führt?“ Erstaunen lag in seinem Blick und Sabine ging erneut in ihrem Kopf durch, was sie sich selbst immer und immer wieder vor wenigen Minuten im Auto vorgesagt hatte, damit es nun, so hoffte sie, authentisch klang. „Ich bin schwanger.“ Sabine fühlte, wie sie langsam errötete. Das Erstaunen in dem Blick des Mediziners wich Entsetzen. „Aber…“ Er zögerte und rang sichtbar einige Sekunden um Fassung. Nach all den Jahren kannte Dr. Belting neben Jakobs Beschwerden auch viele Details ihres Privatlebens. Ihm war es vermutlich nicht verborgen geblieben, dass Sabine keinen Partner an ihrer Seite hatte.  „Ihnen ist bewusst, dass dies bedeutet, dass die OP abgesagt werden muss? Auch über die Konsequenzen, die hieraus für Ihren Sohn resultieren, so nehme ich an, sind Sie hinreichend informiert?“ Ja, das war sie. Tränen rannen ihr die Wangen hinab und sie rang um Fassung. Ihre Lebendspende war, das hatten ihr verschiedene Ärzte unabhängig voneinander bestätigt, derzeit die einzige Möglichkeit, langfristig das Leben ihres Sohnes zu retten. Auf der Warteliste für eine postmortale Niere befand er sich auf Platz 132. Die Wartezeit betrug schätzungsweise zwei bis drei Jahre. Zeit, die ihr Sohn aller Voraussicht nach nicht hatte. Wie gerne hätte Sabine ihm ihre gesamte Verzweiflung entgegengeschrien, doch sie blieb stumm und nickte nur. Sie fühlte sich als hätte sie das Todesurteil für ihren Sohn unterschrieben und hatte noch nicht einmal die Möglichkeit mit irgendjemandem darüber zu sprechen. Nach einigen Formalia, die Dr. Belting professionell und merklich distanzierter mit ihr durchging, verließ sie die Klinik und nahm, angekommen in ihrem PKW, das Mobiltelefon erneut in die Hand. Hastig hörte sie den Mitschnitt ihres Gesprächs ab, war erleichtert über die gute Qualität der Aufzeichnung und schickte sie direkt im Anschluss an ihren Erpresser.

Wenige Minuten später spürte sie erneut das vertraute Gefühl des vibrierenden Gerätes in ihrer Hosentasche. Erzähle deinem Sohn, dass die OP abgesagt wurde und fange schon mal an, deinen Koffer zu packen. Morgen früh wirst du für einige Tage verreisen, las sie dortSabine fühlte wie ihr Puls explodierte. Panik übermannte sie. Sie sollte ihren Sohn verlassen? Wie konnte diese Person das von ihr verlangen? Wie sollte Jakob das überstehen? Geschweige denn sie? Niemand konnte sie ersetzen. Und überhaupt: Wer würde sich in der Zeit ihrer Abwesenheit um ihn kümmern können? Niemand außer ihr kannte bisher die genaue Dosierung seiner Notfallmedikation. Was, wenn er des Nachts in einen komatösen Zustand geraten würde? Und wie in Gottes Namen sollte sie ihm erklären, dass seine Heilung versprechende Transplantation soeben abgesagt wurde? Das Gedankenwirrwarr überschlug sich nur so in ihrem Kopf. Sie fühlte, wie sie die Kontrolle verlor und zwang sich, sich auf ihre Atmung zu fokussieren. Als sie sich einigermaßen beruhigt hatte, machte sie sich auf den Rückweg. Jakob wartete bereits am Empfang des Dialysezentrums auf seine Mutter.

Kaum waren die beiden losgefahren, erkundigte sich Jakob neugierig: „Wo warst du eigentlich?“ Diese simple Frage löste bei Sabine erneut heftige Schweißausbrüche aus. „Ich war in der Klinik. Bei Herrn Dr. Belting“, antwortete sie wahrheitsgemäß. „Warum?“ Sabine setzte den Blinker, fuhr an den Straßenrand, hielt an und schaute ihrem Sohn tief in seine tiefbraunen Augen. „Ich habe leider eine sehr schlechte Nachricht für dich.“ Jakob wich ihrem Blick aus. Schon wieder rannen ihr unaufhörlich dicke Tränen die Wangen hinab. „Die OP. Du weißt schon…“, stammelte sie, „die wurde abgesagt. Es tut mir so furchtbar leid!“ Schluchzend fiel sie ihrem Sohn, der angesichts dieser Situation sprachlos und wie versteinert war, in die Arme. So aufgelöst hatte er seine Mutter noch nie gesehen. Selbst damals nicht, als der Arzt ihnen erläutert hatte, dass Jakobs Nieren kaum noch leistungsfähig seien. „Deine Blutwerte haben sich verschlechtert, mein Schatz!“, log sie. „Die Ärzte haben Angst, dass diese OP zu anstrengend für deinen Körper werden würde und sie daher kurzfristig abgesagt.“ Nun füllten sich auch seine Augen mit Tränen. Jakob war bewusst, wie wichtig diese OP für ihn gewesen wäre. Ein weiteres Mal wurde all seine Hoffnung aus heiterem Himmel zerstört. Weinend lagen sie sich für einige Minuten in den Armen, bevor sie schweigend ihren gemeinsamen Heimweg fortsetzten.

Aufgrund fehlender Alternativen musste sie Frank, so schwer es ihr auch fiel, darum bitten, auf Jakob aufzupassen. Der Großteil ihrer ohnehin schon sehr begrenzten Anzahl von richtigen Freundschaften war durch die zeitintensiven Behandlungen von Jakob nach und nach eingeschlafen. Nach nur wenigen Sekunden war ihr Exmann am Telefon. Natürlich war er erstaunt und verunsichert darüber, dass sich Jakobs Blutwerte innerhalb einer Woche so katastrophal verschlechtert hatten. Allerdings stellte Frank keine weiterführenden Fragen, was Sabine kurzzeitig aufatmen ließ. Als sie ihn mit der Aufgabe konfrontierte, schon morgen vorübergehend bei ihnen einzuziehen, damit er sich um Jakob kümmern konnte, wollte er natürlich den Grund für ihre sehr kurzfristigen Reisepläne wissen. Die Ausrede, dass sie für eine erkrankte Kollegin eine Dienstreise antreten müsse, klang in seinen Ohren anscheinend plausibel und so willigte er ein, bereits am Abend anzureisen, damit Sabine ihn in alle wichtigen Dinge bezüglich Jakob einweisen konnte.

Frank legte nach diesem aufwühlenden Gespräch besorgt sein Telefon zur Seite. Obwohl Sabine ihm versichert hatte, dass alles in Ordnung war, sprach ihre Stimme eine andere Sprache. Nach 18 Jahren Partnerschaft kannte er sie in- und auswendig. Noch nie in den vergangenen 10 Jahren hatte Sabine ihren Sohn auch nur für eine Nacht allein gelassen. Hier stimmte irgendetwas ganz und gar nicht. Sobald sie von ihrer Reise zurück war, würde er sie zur Rede stellen. Bis dahin musste er für sie stark sein, ohne zu viele Fragen zu stellen. Das spürte er mit jeder Faser seines Körpers.

Es war später Nachmittag als sich das von Sabine gefürchtete Mobiltelefon erneut mit mehrfachem Vibrieren meldete. Jakob hatte sich vor einiger Zeit hingelegt und so konnte sie, vor neugierigen Blicken geschützt, die nächste Hiobsbotschaft lesen. „Viel schlimmer kann es jetzt sowieso nicht mehr werden. Ich habe vor einigen Stunden die Zukunft meines Sohnes zerstört.“  dachte sie resigniert. Sabine hatte keine Ahnung, dass sie damit absolut falsch lag und ihr das Schlimmste noch bevorstand. Morgen früh um 9:00 Uhr wird dich ein Taxi vor deiner Haustür abholen und dich an deinen Bestimmungsort bringen.  Steig ein und stelle keine Fragen.

Das gemeinsame Abendessen mit Frank und Jakob verlief harmonischer, als Sabine es vermutet hatte. Ihr Sohn genoss es sichtlich, dass er, wenn auch nur für einen Abend, sein altes Leben zurück hatte, in dem beide Eltern für ihn dagewesen waren. Auch er stellte nicht viele Nachfragen, als sie von ihren kurzfristigen Reiseplänen erzählte. In der Hinsicht waren sich Sohn und Vater sehr ähnlich. Nachdem Jakob von Sabine zu Bett gebracht worden war, ging sie kleinlich jede Eventualität mit Frank durch. Mögliche Notfälle wurden bis ins Kleinste besprochen, seine Pillen für eine Woche im Voraus sortiert und akribisch in verschiedene Medikamentendosierer abgefüllt.  Auch als Frank nach einer Stunde genervt mit den Augen rollte, ließ sie nicht locker. Seit seiner Erkrankung war sie noch nie von Jakobs Seite gewichen und die Aussicht, dass sie ab morgen für ungewisse Zeit von ihm getrennt sein würde, löste in ihr tiefes Unbehagen und unberechenbare Panik aus.

Nach einer fast schlaflosen Nacht stand Sabine um 8:50 Uhr Fingernägel kauend vor ihrer Haustür. Eisiger Herbstwind zog unter ihrem Mantel hindurch und schon nach wenigen Minuten stieg sie in das warme Taxi und begann damit ihre Fahrt ins Ungewisse. Nach etwa einer Stunde, in der sie nur das Nötigste mit dem Fahrer besprochen hatte und das Handy still geblieben war, fand sie sich auf dem Vorplatz der St. Barbara- Klinik wieder. Erneut spürte sie das unheilvolle Vibrieren. Sieh nach rechts. Etwa 30 Meter entfernt siehst du einen Mülleimer. Greif hinein. Alles Weitere findest du in dem braunen Umschlag. Möglichst ohne Aufsehen zu erregen näherte Sabine sich dem besagten Mülleimer. In einer unbeobachteten Minute griff sie gekonnt hinein und zog einen braunen DIN-A4 Umschlag heraus. Angespannt ließ sie sich auf einer nahegelegenen Parkbank nieder und zog ein weißes Blatt sowie einen Personalausweis hinaus. Gebannt starrte sie auf die viereckige Plastikkarte und traute ihren Augen kaum. Der Ausweis zeigte ihr Passbild und auch alle anderen Daten stimmten mit ihrem Originalausweis überein. Nur eines stimmte nicht:  Der Nachname. Krampfhaft zermarterte sie sich ihr Gehirn, aber sie wusste beim besten Willen nichts mit dem Namen anzufangen. Sie hatte ihn noch nie zuvor gehört. Verdammt. Zu was war eine Person fähig, die sogar dazu in der Lage war, einen täuschend echt aussehenden Personalausweis zu fälschen? Wo steckte sie hier drin? Der beiliegende Zettel hielt weitere Anweisungen für sie bereit. Sabine prägte sich alle Details ein, um ihn anschließend umgehend in kleine Stücke zu zerreißen und in dem Abfalleimer zu entsorgen. Auch das war Teil der Anweisung gewesen. Noch war sie sich nicht sicher, was das alles zu bedeuten hatten. Los jetzt! Du hast einen Termin. Die nächste Nachricht. Da ihr nun klar war, dass sie beobachtet wurde, eilte sie, nachdem sie den Ausweis in ihre Brieftasche gesteckt hatte, auf das imposante Krankenhaus zu. Mit jedem Schritt, den sie auf die Klinik zulief, steigerte sich ihre Angst. Wieso hatte man sie hierher bestellt? Was sollte sie als gesunder Mensch in einem Krankenhaus?

 4. Etage, Zimmer 227. Nach kurzer Wartezeit wurde sie aufgerufen und betrat das Sprechzimmer von Herrn Dr. Rotbusch. Es war ein steriles, beliebig austauschbares Arztzimmer mit den üblichen abstrakten und farbenfrohen Drucken an der Wand und dem unterschwelligen Geruch von Desinfektionsmittel. Dieser rief bei jedem Menschen sicherlich ganz unterschiedliche und individuelle Gefühle hervorrief. Bei Sabine war es Vertrautheit, ja schon fast so etwas wie Geborgenheit.  Gut gelaunt gab ihr der untersetzte Mittfünfziger die Hand und kam ohne große Umschweife zur Sache. „Wie schön, dass sie sich für eine Nierenspende entschieden haben. Es sind jedoch noch einige Untersuchungen nötig, um sicher zu gehen, dass sie gesund und als Spender für Herrn Feldhoff kompatibel sind.“ Der Raum, in dem sie sich befand, geriet ins Schwanken. Sie fühlte sich, als würde sie jede Sekunde kollabieren. Wirre Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf. Von was redet dieser Arzt dort? Lebendspende? Meine Niere? Aber die soll doch mein Kind erhalten und nicht irgendein mir völlig unbekannter Mann! Was für ein Interesse hatte dieses Schwein daran, dass sie eine ihrer beiden gesunden Nieren verlor und Jakob damit seinen einzigen Lebendspender? Sie verstand das alles nicht. „Frau Feldhoff? Geht es Ihnen gut? Sie sehen so blass aus. Kann ich Ihnen ein Glas Wasser anbieten?“ Besorgt musterte sie der Mediziner und Sabine kam langsam wieder in das Hier und Jetzt zurück. Den Rest des Gesprächs, so fühlte es sich an, beobachtete Sabine als außenstehende Person. Sie, die ihr Leben lang Einzelkind gewesen war, hörte sich Dinge wie „Ja, ich habe mich aus freien Stücken zu der Spende entschlossen, da ich Holger, meinen Bruder, nicht länger leiden sehen möchte.“, sagen. Nach dem Durchlaufen mehrerer Tests, zeigten sich die beteiligten Ärzte sehr zuversichtlich, dass die Transplantation bereits übermorgen stattfinden könnte.

Abends im Krankenhausbett liegend und völlig übermüdet von der katastrophalen Nacht sowie dem nervenaufreibenden Tag, erreichte ihre innere Zerrissenheit ihren bisherigen Höhepunkt. Zum Glück hatte Sabine ein Einzelzimmer erhalten. So musste sie ihre Weinkrämpfe, die sie in unregelmäßigen Abständen überkamen, vor niemandem rechtfertigen oder erklären. Noch könnte sie einfach aufstehen und zur Polizei gehen. Die Nachrichten auf ihrem Handy und der gefälschte Ausweis würden die Beamten doch sicherlich neugierig machen, oder? Wäre es Beweis genug oder würden sie sie für eine Spinnerin halten? Was wäre mit Jakob, wenn sie wirklich die Polizei informieren würde? Zwischen den Zeilen hatte sie deutlich heraushören können, dass Jakob, würde sie sich nicht an die Anweisungen halten, nicht mit dem Leben davonkommen würde. Die Bilder, die sie auf dem Smartphone gefunden hatte, schlichen sich erneut vor ihr inneres Auge. Nein. Sie musste diese psychische Folter weiter durchstehen und wenn dieser Albtraum vorbei war, auf die Spenderniere eines Verstorbenen für ihren Sohn hoffen. Es blieb ihr keine andere Wahl. Unter keinen Umständen würde sie das Leben ihres Kindes aufs Spiel setzen.

Der nächste Tag zog wie in einem Film an ihr vorüber. Abwesend überflog sie die Einwilligungserklärung zur Spende und unterzeichnete blind alle Papiere, die ihr vorgelegt wurden. Zwischenzeitlich rief sie mehrmals bei Frank an und erkundigte sich nach Jakobs Wohlbefinden. Es schien ihm den Umständen entsprechend gut zu gehen. Dies zu hören verschaffte ihr ein wenig Erleichterung in einer Situation, die auswegloser nicht hätte sein können.  

Dann war er gekommen: Der Tag der OP. Die Nachtschwester hatte sie erst vor einigen Stunden noch mit starken Beruhigungsmitteln versorgt, sodass sie auf dem Weg in den Operationssaal, in einem Dämmerzustand, die Deckenlichter an sich vorbeiziehen sah.

Einige Stunden später öffnete Sabine blinzelnd die Augen und sah sich vorsichtig um. Alles war noch sehr verschwommen. Ihr war übel. Sie fühlte sich, als hätte sie gestern zu tief ins Glas geschaut. Ein leises Piepen kam und ging in einem beruhigenden Rhythmus. „Die OP ist gut verlaufen. Sie haben ein Schmerzmittel bekommen und sollten jetzt noch etwas schlafen“, hörte sie eine ihr unbekannte Stimme flüstern. Vermutlich eine Schwester. Dann wurde wieder alles schwarz um sie herum.

Wohnung von Sabine

Das Gespräch mit Frank war so verlaufen, wie sie es sich erhofft hatte. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als ihr im Auto sitzend noch etwas klar wurde: Ihr Plan war bisher aufgegangen. Sie hatte ein Leben gerettet. Jetzt kam der letzte und zugleich schwerste Teil: Sie musste ein Leben zerstören, um ein weiteres zu retten. Es musste sein. Energisch drehte sie den Schlüssel im Schloss herum und fuhr los.

St. Barbara-Klinik

Als sie das nächste Mal wach wurde fühlte Sabine sich noch immer schwach und ihr war weiterhin übel. Ihr Sehvermögen schien jedoch wieder vollständig hergestellt zu sein. Das merkte sie daran, da sie in ein ihr bekanntes Gesicht blickte. Dieses starrte sie wiederum ohne jegliche Gefühlsregung an. „Du bist krank.“ Ein Hauch von Verachtung schwang in diesem einen Satz mit. Mehr sagte ihr Gegenüber nicht. Nur langsam kam Sabine zu sich. Was war das für eine Begrüßung? Und überhaupt: Was wollte die Person hier und woher wusste sie, dass Sabine in diesem Zimmer lag? Nur langsam erwachten ihre alten Lebensgeister. „Du bist krank, Sabine.“ Dagmar starrte sie mit durchdringenden und eiskalten Augen an. Langsam setzten sich in Sabines Kopf die noch fehlenden Puzzleteile an die richtige Stelle. Dagmar? Steckte etwa ihre langjährige Putzhilfe hinter dem Psychoterror der vergangenen Tage? Was für ein Spiel wurde hier gespielt? Ungläubig schaute sie ihr in die allzu vertrauten Augen. Langsam wurde ihr einiges klar: Dagmar hatte Zugang zu ihrer Wohnung und anscheinend genug Zeit gehabt, um alles zu arrangieren. Wieso war ihr diese naheliegende Erklärung nicht in den Sinn gekommen?  Mit zitternder Stimme stellte sie die einzige Frage, die im Moment wichtig war: „Warum?“ „Weil du krank bist, Sabine.“ Was sollte diese ständige ´Du bist krank`- Geschichte? Sie war kerngesund. Das hatten alle Untersuchungen ergeben. Wut stieg in ihr auf. „Nicht körperlich, psychisch.“ Diese Worte, gesprochen von einer vermeintlichen Freundin, hallten in ihrem Kopf nach und wurden sirenenartig lauter und lauter. Sabine hielt sich die Ohren zu, um diese Wahrheit, die sie all die Jahre verdrängt hatte, aus ihrem Kopf zu verbannen. Doch es nützte nichts. Es war, als würde ihr jemand einen Spiegel vorhalten. Eine Gewissheit durchfuhr sie: Nichts würde jemals wieder so sein, wie vorher. „Weg, ich muss hier weg!“ Panisch, einem angeschossenen Reh gleich, versuchte sie aus dem Bett zu kraxeln, stolperte auf halbem Weg über ihre Infusionsschläuche und fiel, leise wimmernd, auf den eiskalten Boden. Tief im Innern war ihr klar, dass sie vor dieser Wahrheit nicht davonlaufen konnte. Leise schluchzend wiegte sie sich vor und zurück, beide Arme um ihre Körpermitte geschlungen. „Du glaubst zwar, dass du die Lebensretterin für deinen Sohn bist, aber die Wahrheit ist: Er muss vor dir gerettet werden, um am Leben zu bleiben!“ Dieser Satz war das letzte, was Sabine hörte bevor sie durch die Pflegekräfte, die eilig herbeieilten mit Hilfe einer Spritze ruhiggestellt wurde. Aus dem Augenwinkel heraus sah sie noch, wie Dagmar im Herausgehen das Handy und den Personalausweis in ihrer Manteltasche verschwinden ließ. Danach fiel sie in einen traumlosen Schlaf.

Wenige Stunden zuvor

„Münchhausen Stellvertreter Syndrom. Schon mal gehört?“ Mit dieser Frage eröffnete Dagmar Frank, nachdem die beiden am Küchentisch Platz genommen hatten, was sie schon lange vermutet und kürzlich auch hatte beweisen können. Nein, offen gestanden hatte er noch nie etwas davon gehört. Interessiert lauschte er Dagmars Erläuterungen.  Es handelte sich um eine Persönlichkeitsstörung, bei der eine dem Kind nahestehende Bezugsperson, häufig die Mutter, dem Kind eine Krankheit andichtete, Symptome übersteigert darstellte, oder sogar aktiv dafür sorgte, dass es krank wurde. Es handelte sich um eine psychische Störung, die zum Glück sehr selten, jedoch umso gefährlicher war. Dagmar las eine Checkliste vor. Diese nutzten beispielsweise Ärzte, um bei einem Verdacht auf diese Erkrankung, weitere verdächtige Symptome und Merkmale bei der Mutter in Augenschein nehmen zu können.  Sie klang wie eine Kurzbeschreibung seiner Exfrau.

Es traf ihn wie einen Schlag ins Gesicht. Daher rührten also Jakobs unzähligen Krankenhausaufenthalte, die er von klein auf über sich hatte ergehen lassen müssen. Die ständigen Durchfallerkrankungen, auffälligen Blutwerte etc. Alles war von Sabine ausgelöst beziehungsweise gefälscht worden? Geschockt durch diese Erkenntnis fühlte Frank neben seinem Unglauben noch etwas in sich aufsteigen: Schuldgefühle. Hätte er es nicht bemerken oder die ständigen Arztbesuche wenigstens hinterfragen müssen? Wie konnte ihm das entgehen? Wäre Sabine wirklich so weit gegangen und hätte Jakob die Strapazen einer Transplantation zugemutet, nur um als „Lebensretterin“ ihres Sohnes Wertschätzung und Anerkennung zu erhalten? Abwesend lauschte er Dagmars weiteren Ausführungen. Da diese sich durch ihren nierenkranken Lebensgefährten Holger mit dessen Medikation gut auskannte, wurde sie skeptisch, als sie in Jakobs Medikamentenschrank Mittel entdeckte, die sie noch nie bei Holger gesehen hatte und die sich, nach ihrer Recherche, sogar als nierenschädigend entpuppten. Mittels mehrerer heimlich installierter Kameras wurde sie Zeugin, wie Sabine Jakob zusätzlich zu seinen „Medikamenten“ pulverisierte Tabletten unter seinen morgendlichen Orangensaft mischte. Diese hortete sie in einer roten Blechdose im Keller. Die Screenshots der Aufnahmen hatte sie Sabine auf das Handy geschickt. Nun breitete sie die ausgedruckten Bilder vor ihm aus. Zudem zeigte Dagmar ihm Sabines handschriftlichen Aufzeichnungen, die sie unweit der Blechdose gefunden hatte. Penibel hatte seine Exfrau vermerkt, welche Lüge hinsichtlich Jakobs Krankengeschichte sie wem und wann aufgetischt hatte. Zweifelsohne handelte es sich um ihre Schrift.

Frank, der angesichts dieser krassen Vorwürfe zunächst noch skeptisch gewesen war, konnte sie vollends überzeugen, indem sie ihn dazu ermutigte, Jakobs behandelnden Kinderarzt anzurufen und ihn hinsichtlich der „Nierenmedikamente“ zu befragen. Die Aussagen des Kinderarztes waren niederschmetternd. Nicht eines der Medikamente hatte er verschrieben. Im Gegenteil: Es hätte unter dieser Medikation vermutlich nur noch wenige Wochen gedauert, bis Jakobs Zustand lebensbedrohlich geworden wäre.     

„Ich sollten umgehend die Polizei informieren!“ Voller Tatendrang sprang Frank von seinem Küchenstuhl auf, nachdem Dagmar ihm die ganze Geschichte erzählt und ihm alle Beweise vorgelegt hatte. „Das hättest du im Übrigen schon vor Wochen tun sollen, Dagmar!“ Da war er. Der Vorwurf mit dem sich Dagmar schon seit Wochen selbst herumgeschlagen hatte. Seit sie Wissen über die kaltblütigen Machenschaften von Sabine und die lebensgefährlichen Konsequenzen, die diese für Jakob hatten, erlangt hatte, war sie hin- und hergerissen gewesen. Sollte sie nicht doch einfach zur Polizei gehen? Letztendlich überwog jedoch der unglaubliche Leidensdruck. Sie konnte einfach nicht länger mit ansehen, dass ihr geliebter Holger jeden Tag Höllenqualen durchlitt. Außerdem sollte Sabine für ihr Handeln büßen. Schließlich hatte sie ihrem Sohn jahrelang aktiv krank gemacht und damit dafür gesorgt, dass auch er, wie ihr Mann, tagtäglich unter enormen Schmerzen litt. Warum also nicht zwei Leben retten?

Es kostete sie sehr viel Überredungskunst, letztlich willigte Frank jedoch ein, zuerst seine Gedanken zu sortieren und erst morgen, gemeinsam mit Dagmar, zur Polizei zu fahren. Nachdem er Dagmar nach draußen begleitet hatte, kehrte er, immer noch unter Schock stehend, auf wackeligen Beinen zurück in die Wohnung seiner Ex-Frau zurück. Dagmar hatte Recht. Es gab im Moment wichtigeres zu tun. Er musste Jakob irgendwie beibringen, dass er seine Mutter niemals wiedersehen würde.

St. Barbara- Klinik – Einige Tage später

„Na, wie geht es uns denn heute?“, trällerte Schwester Ursula Sabine übertrieben gut gelaunt entgegen während sie energisch die Vorhänge zur Seite zog. Musste diese geschwätzige Krankenschwester auch jedes Klischee erfüllen? Genervt wälzte sich Sabine auf die andere Seite und drehte ihr demonstrativ den Rücken zu. Sie wollte niemanden sehen und sprechen. Nie wieder. „Sie können sich glücklich schätzen, dass alles so unkompliziert verlaufen ist. Hätten wir das vorher gewusst, hätten wir sie natürlich nicht operiert.“ Zwinkernd überreichte sie ihr ein zusammengefaltetes Blatt. „Aufgrund Ihrer Übelkeit haben wir das große Blutbild noch um einen Wert erweitert“, trällerte sie und schon war die Schwester wieder verschwunden. Jedoch nicht ohne die Tür möglichst geräuschvoll zu schließen. Vorsichtig entfaltete Sabine das Papier, das ihre Blutergebnisse vom Vortag zeigte und erkannte sofort, was der erhöhte hCG-Wert zu bedeuten hatte. Ungläubig starrte sie auf das Blatt Papier. Sie bekam tatsächlich eine zweite Chance. Sie war schwanger.

3 thoughts on “Mutterliebe

  1. Spannend vom ersten bis letzten Satz.Sehr plastisch geschrieben, so dass das Geschehen
    vor dem geistigen Auge abläuft. Man ist mit Geist und Herz dabei. Der Leser bekommt die Schattenseite
    der Mutterliebe in Form des Münchhausensyndroms(mir bis dato unbekannt) unterhaltsam
    und eindrucksvoll geschildert. Das überraschende Ende (Schwangerschaft) gibt der
    Mutter die Chance, es beim zweiten Kind richtig zu machen und dem Leser die
    Möglichkeit, den Faden geistig weiter zu spinnen.
    Fazit: Eine ausgezeichnete schriftstellerische Leistung!!PROFI???????????????????

  2. Liebe/r Peregrina4,
    „Jemand war hier.“ Puh! Und das noch in der Nacht während die Protagonistin schlief! Das ist gruselig. Mit dem ersten Satz hast du mich gefesselt. Du hast nicht nur alle geforderten Parameter in deine Geschichte einfließen lassen, du hast sie auch perfekt in Szene gesetzt. Ich bin Sabine lange auf den Leim gegangen, habe ihr lange das arme Opfer und die treusorgende Mutter abgenommen. Mit dieser Wendung hatte ich nicht gerechnet. Klasse gemacht, wunderbar geschrieben und definitiv ein Like von mir! Ich verstehe nicht, warum du erst so wenig Likes hast. Deine Geschichte sollte unbedingt ins eBook kommen. Ich drücke dir die Daumen, dass sie von ganz vielen gefunden und gelesen wird.
    Liebe Grüße
    Angela
    PS: Falls du magst …, meine Geschichte heißt „Stunde der Vergeltung“ 😊
    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/stunde-der-vergeltung

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