Denise83Geraubt

 

Geraubt

 

– 1 –

 

 

Sie trat aus der Tür ihrer Praxis direkt auf den Gehweg, der an der viel befahrenden Straße der Paderborner Innenstadt entlangführte. Feierabend. Gott sei Dank ist dieser verdammte Tag vorbei. Dr. Nele Graf richtete ihr Gesicht der Sonne entgegen, die an diesem Freitag Nachmittag im Juni mit einer Kraft von 38 Grad auf ihre Haut nieder brannte. Der Tag heute hatte ihr einiges abverlangt. Alleine am Nachmittag waren 9 Patienten in ihrer Praxis erschienen, die steif und fest behaupteten, dass sie telefonisch einen Termin vereinbart hätten. Doch waren diese Termine nirgendwo vermerkt gewesen. Das Wartezimmer war brechend voll gewesen. Diese verdammte Computersoftware. Für Montag hatte sie bereits den IT-Techniker bestellt, der ihr dieses nicht funktionierende Software-Programm so hoch angepriesen hatte. Der ganze Tag war so chaotisch verlaufen, sodass sie nun 2 Stunden später als geplant aus der Praxis kam, und niemand konnte den Fehler finden.

Nele bog nach links die Bahnhofstraße hinunter und machte sich auf den Weg Richtung Hauptbahnhof zur Bushaltestelle. „Wochenende“- dachte sie. Sie hoffte, das Richard heute nicht zu lange in der Kanzlei festsaß und pünktlich zu Hause sein würde. Er nahm seinen Beruf als Anwalt sehr ernst, manchmal zu ernst, wie Nele empfand. Gott, sie brauchten einfach mal wieder ein Wochenende für sich! Eine kleine Auszeit. Vielleicht einen spontanen Ausflug. – Spontan – das war seid ihrer Studienzeit nicht mehr drin gewesen. Richard Graf war in einer der renommiertesten Anwaltskanzleien der Stadt eingestellt worden und hatte sich dort als Fachanwalt für Strafverfolgung sehr schnell einen Namen gemacht. Und Nele hatte mit Eifer ihr Medizinstudium beendet, ihre Facharztprüfung abgelegt und eine eigene Praxis für Frauenheilkunde eröffnet. So wie sie es sich erträumt hatten. Alles lief perfekt, nur heute war so ein durcheinander gewesen.

Nele erreichte den Busbahnhof und setzte sich auf die Mauer, die die eilende Bevölkerung von den Bereich der Fahrradabstellplätze trennte. Die Sonne brannte. Nele schaute in ihrer Tasche nach dem Rest der abgestandenen Wasserflasche, die sie seit Tagen mit sich herum trug. Sie fischte sie heraus und leerte die Flasche mit einem Zug. In dem Moment sah sie es. Die junge Frau war zum schon abfahren wollenden Bus geeilt und zog im Laufschritt ihre Fahrkarte aus der Tasche. Das Kuvert, dass sie dabei mit aus der Tasche zog und hinter ihr zu Boden viel, bemerkte sie nicht.

„Hey, warte!“ rief Nele. Doch die Türen des Busses hatten sich bereits wieder geschlossen und der Bus hatte sich in Bewegung gesetzt. Nele lief winkend auf den Bus zu, doch der Fahrer hatte sie scheinbar nicht bemerkt. Wenn Nele geahnt hätte, dass die kommenden Sekunden ihr Leben für immer verändern würde, wäre sie auf der Mauer sitzen geblieben. Aber es war zu spät. Ihr Blick hatte sich schon dem auf dem Boden liegenden Kuvert zugewandt. Sie hätte es liegen lassen können, es ignorieren können. Hätten auf dem weißen Umschlag nicht mit roter Tinte diese 4 Buchstaben wie Feuer gebrannt. Nur ein Wort. Nur ein Name. Auf dem Umschlag stand: NELE.

 

 

 

 

 

– 2 –

 

 

Im Bus herrschte eine unerträgliche Hitze. Ihre Jeans klebte an ihren Oberschenkeln. Die Arme waren schwitzig. Der Geruch von Schweiss lag in der Luft. Nele umklammerte ihre Tasche unbewusst fester. Sie starrte aus dem Fenster und doch nahm sie das Treiben außerhalb des Busses nicht war. Ihre Gedanken schweiften ab. Sie blieben an der jungen Frau mit den braunen, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen Haaren hängen. Wie sie rennend ihre Fahrkarte aus der Tasche gezogen hatte und der Umschlag zu Boden viel. In ihren Gedanken verursachte der Aufprall des Umschlags einen ohrenbetäubenen Lärm. Etwas, was die Unbekannte hätte unmöglich überhören können. Und doch war sie weiter geeilt. Hatte sich nicht umgesehen. Nele selbst hatte nach dem Lesen des Namens – sie weigerte sich zu denken IHRES Namens – sekundenlang auf den Umschlag am Boden gestarrt. Es war ihr eiskalt den Rücken herunter gelaufen und jede Faser ihres Körpers hatte sie angeschrien, ja, regelrecht angefleht, dieses verdammte Ding dort liegen zu lassen wo es lag. Sie hatte ihren Beinen bereits befohlen, sich in Bewegung zu setzen, weg von diesem Umschlag, weg von dem Unheilvollem, was er wohl verbergen würde. Als ihr Bus die Haltestelle erreichte war es ein Affekt gewesen. Nele hatte sich gebückt, den Umschlag in ihre Tasche gestopft und war in den Bus gestiegen. Und dort saß sie nun. Die Tasche fest umklammert, die mit jeder Sekunde schwerer zu werden schien. Was wollte sie nun damit tun? Ein Umschlag, der mit dem Namen Nele versehen war, war nun mal wahrlich nicht einfach, seinem Besitzer zurück zu bringen. Aber sollte sie ihn öffnen? Vielleicht war es eine sehr private Nachricht, oder gar ein notwendiges Dokument, welches nicht für jedermanns Augen bestimmt war. Der Bus hielt und Nele war froh, den stickigen und nach Schweiß riechenden Bus entkommen zu können. Sie steuerte auf das kleine Haus am Rande Paderborns zu und hoffte, dass Richard schon zu Hause sein würde. Als sie auf die mit Kies bedeckte Auffahrt zulief musste sie leicht enttäuscht feststellen, dass der BMW ihres Mannes nicht in der Einfahrt parkte. Er war also noch nicht daheim. Nele holte ihren Schlüssel aus der Tasche und betrat durch die Haustür den schmalen Flur ihres Hauses, der am Wohnzimmer vorbei direkt zu dem neu gestalteten Wintergarten führte. Sie zog ihre Schuhe aus, ging zum Kühlschrank um sich eine kalte Flasche Wasser heraus zu holen und nahm diese mit einem frischen Glas direkt mit in den Wintergarten. Dann setzte sie sich auf die neuen Rattan – Möbel, die erst letzte Woche geliefert worden waren und holte ihr Handy aus der Tasche. Keine Nachrichten. Wahrscheinlich steckte Richard noch mitten in einem Meeting und es war ihm bisher nicht möglich gewesen, ihr zu schreiben. Nele goss sich ein Glas eiskaltes Wasser ein und leerte es in einem Zug. Dann fiel ihr Blick zurück auf ihre Tasche. Was sollte sie jetzt mit dem Umschlag machen? Langsam zog sie den Umschlag aus der Tasche. NELE… sonst nichts. Kein weiterer Hinweis auf seinen Besitzer. Der Umschlag lag schwer in ihrer Hand. Er war etwas dicker. Kein normaler Brief. Nele zögerte kurz, fasste aber dann einen Entschluss und riss den Umschlag an der zugeklebten Seite auf. Im inneren befanden sich Fotos. Sonst nichts. Keine weiteren Hinweise, keine Info über den möglichen Besitzer. Nele drehte die Fotos um und betrachtete sie. Eine Eiseskälte erfasste ihren Körper, ließ sie erzittern und die Fotos glitten ihr aus der Hand. Sie kannte den Ort, an denen diese Fotos entstanden waren, erkannte die Location nur 20 Minuten von hier, erkannte die Personen auf den Fotos, die sie allesamt zu ihren Freunden zählen konnte. Sie erkannte die Tischdeko, die sie selbst mit so viel Liebe zum Detail entworfen hatte. Und sie erkannte den Anzug, den der Mann trug und das weiße Brautkleid, IHR Brautkleid, das Kleid, in dem sie JA gesagt hatte. Die Hände, die sich einander hielten und die Ringe in die Kamera hielten. Es waren Fotos ihrer Hochzeit. Der Hochzeit von vor 2 Jahren. Der schönste Tag ihres Lebens. Doch es war nicht die Tatsache, dass Nele Bilder ihrer eigenen Hochzeit in einem Umschlag mit ihrem Namen auf der Straße liegend gefunden hatte. Es war die Art, wie die Bilder vor ihr lagen. Alles war vertraut. Alles, bis auf eines. Auf den Hochzeitsbildern ihrer Hochzeit fehlte Nele der Kopf.

 

– 3 –

 

 

Nele erbrach sich mehrfach im Bad. So lange, bis in ihrem Magen nichts mehr war, außer gähnende Leere. Langsam rappelte sie sich hoch und wusch sich ihr Gesicht mit kaltem Wasser aus dem Wasserharn. Sie blickte in den Spiegel. In ihr aschgraues Gesicht, in ihre angsterfüllten Augen. Woher kamen diese Bilder? IHRE Bilder? Und wer hatte sie so bearbeitet, dass ihr Kopf wie ausradiert war? Eine neue Welle der Übelkeit erfasste Nele. Sie würgte, brachte aber nix mehr hinaus. Langsam ging sie zurück in den Wintergarten. Die Fotos lagen auf dem Boden. So, wie Nele sie hatte fallen gelassen als der Brechreiz von ihr Besitz ergriffen hatte. Sie riss den offenen Umschlag vom Tisch und stopfe die Fotos zurück in das Kuvert. Sie konnte, sie wollte sie nicht noch einmal sehen. Anschließend nahm sie den Umschlag, und pfefferte diesen wütend und angewidert in die Papiertonne. Dann ging sie zurück ins Bad und wusch ihre Hände mit Seife. Sie schrubbte, so, als könne sie damit diese entstellten Bilder, die sich in ihr Gehirn gebrannt hatten, loswerden. Doch es half nichts, die Bilder hatten sich in ihre Erinnerung gefressen und ernährten sich dort nun von ihrer Angst und ihrem Entsetzen. Nele schossen die Tränen in die Augen. Diese verdammte Woche. So viel war schief gelaufen und jetzt das. Sie holte ihr Handy und wählte Richards Nummer. Sie wollte, dass er nach Hause kommt. Sie brauchte jetzt seine Nähe, jemanden, mit dem sie über diese Sache reden konnte. „Der gewünschte Teilnehmer ist zur Zeit nicht erreichbar!“ – flötete die Computerstimme der deutschen Telekom. Super, Richard hatte sein Handy entweder ausgeschaltet oder vergessen, aufzuladen.  Beides war möglich. Also musste Nele doch warten, bis das er nach Hause kommen würde. Sie fror. Von den über 30 Grad außerhalb des Hauses spürte sie nichts. Ihr war eiskalt. Nele fühlte sich mit einem mal unheimlich erschöpft. Sie sank auf dem Sofa zusammen, zog sich die Decke näher heran und schlief schon ein, bevor sie sich richtig hingelegt hatte.

Das Zuknallen einer Autotür riss Nele aus dem Schlaf. Endlich. Richard war zu Hause. Nele setzte sich auf, streifte die Decke von ihren Schultern und rieb sich die Augen. Was er wohl zu dieser ganzen Sache sagen würde… Langsam erhob sich Nele und machte sich auf dem Weg in die Küche. Sie wollte sich einen Tee machen. Sie nahm den Wasserkocher, befüllte diesen mit Wasser und drückte den Start-Knopf. Dann schaute sie aus dem Küchenfenster. Ihr Blick wanderte über die Auffahrt, die jetzt am Abend nicht mehr von der Sonne erhellt wurde. Kein BMW. Kein Richard. Es war wohl eine andere Tür gewesen, die sie aus dem Schlaf geholt hatte, jemand anderes war nach Hause gekommen. Nele blickte auf die Uhr am Backofen in der Küche. 20:18 Uhr. Lange sollte es nicht mehr dauern bis das Richard nach Hause kam. Nele blickte zurück auf die Straße vor ihrem Haus. Ruhig und unschuldig lag sie vor ihr. Die Sonnenstrahlen der untergehenden Sonne spielten mit den Blättern der üppigen Baumbepflanzung der Straße. Hier waren die Leute schon zu Hause. Bis auf eine junge Frau, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite unterwegs war, waren die Straßen leer. Das lange braune Haar wehte im warmen Sommerwind als ihre Silhouette immer kleiner wurde, je weiter sie sich von Neles Haus entfernte. Nele, schaute zurück auf den Wasserkocher, das Wasser bereitete sich gerade auf den Siede – Vorgang vor. Dann durchzuckte ein Blitz Neles Körper. Die braunen langen Haare! Die Frau draußen auf der Straße war die Frau mit dem Umschlag!. Nele sprintete zur Tür, hinaus auf die Straße. Sie rannte die Straße entlang, der Frau hinterher, die eben noch hier zu sehen war. Doch die Straße war leer. Niemand war zu sehen. Langsam ging Nele zurück zum Haus. Sie berührte die Haustür. Sie war ins Schloss gefallen. Die Tür war zu. Nele fluchte. Kein Schlüssel. Hoffentlich war die Garagentür auf. Die Tür als Verbindungstür zwischen Hausflur und Garage. Sonst konnte sie sich auf die Vordertreppe am Haus setzen und hoffen, das Richard bald mit seiner Arbeit fertig war und endlich nach Hause kam. Nele ging zum Garagentor, welches mit einem Zahlencode zu bedienen war. Der Code war einfach… Ihr Hochzeitstag…Sie tippte die Zahlen ein. Ein Rattern ertönte als sich der Motor langsam in Bewegung setzte und das Tor langsam hoch fuhr. Nele schaute sich nochmals seufzend um und erstarrte, als sie die Papiertonne sah, die umgekippt an der Ecke der Auffahrt lag. Sie brauchte gar nicht näher auf die herausgewühlten Papierreste hinzu gehen um festzustellen, was offensichtlich nicht mehr vorhanden war. Der Umschlag war verschwunden. Nele stolperte rückwärts in die Garage und viel rücklings zu Boden, als sie auf einen harten Widerstand stieß. Noch im Fallen wurde Nele bewusst, was sie da gerade zu Boden gerissen hatte. In der Garage stand Richards BMW.

 

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Nele schreckte hoch. Ihr dröhnte der Kopf. Der Mond tauchte den Kies der Garagenauffahrt in ein mystisches Licht. Windstille. Sie fröstelte. Ihr Hinterkopf schmerzte. Vorsichtig tastete Nele mit den Fingerspitzen nach der klaffenden Wunde, die der Betonboden der Garage in ihren Schädel geschlagen hatte. Nichts. Kein Blut. Tastbar war eine ordentliche Wölbung am Hinterkopf, direkt oberhalb des Genicks. „Das wird eine ordentliche Beule“ , dachte sie. Langsam rappelte sie sich auf. Die Bewegung verschlimmerte augenblicklich die stechenden und bohrenden Schmerzen, die sich nun von ihrem Hinterkopf die komplette Wirbelsäule herunter bahn brachen. Ihr Körper protestierte. Er wollte liegen bleiben. Doch Nele zwang ihn aufzustehen. Ihr nackten Füße waren eiskalt. Sie starrte auf die umgekippte Papiertonne, dessen Inhalt in der Auffahrt verstreut lag. Es waren nur wenige Werbeprospekte, die Müllabfuhr hatte am Morgen erst die Tonnen geleert. Nele drückte den Knopf für das Garagentor und wartete, bis dieses heruntergefahren war. Der Bewegungsmelder registrierte ihre Anwesenheit und erhellte die Garage. Nele ging langsam Richtung Garagentür, musste sich aber an dem schwarzen BMW festhalten. Ihre Beine wollten sie noch nicht so wirklich tragen. „Warum war Richards Wagen in der Garage?“ fragte sie sich. Sie spähte über die schwarze Limousine hinüber zu dem kleinen Mini Cooper Cabrio… ihr Auto… Normalerweise parkte Richard seinen Wagen in der Auffahrt, erst recht, seitdem die Fernsteuerung des Garagentores defekt war. Es war ihm zu umständlich, erst aus dem Auto zu steigen und den Zahlencode für das Garagentor einzutippen, sich dann zurück ins Auto zu setzen und dann den Wagen in die Garage zu fahren. Deshalb stand der BMW draußen. Eigentlich. Nele erreichte die Tür, die sie hoffentlich zurück ins Innere des Hauses bringen würde. Sie drückte die Klinke… Gott sei Dank… Die Tür sprang auf. Der Hausflur erstreckte sich dunkel und durch den Mond nur schwach erleuchtet vor ihr. Sie machte das Licht an und schlurfte in die Küche. Sie brauchte Eis für die Beule am Hinterkopf, die im Begriff war, Nele einen zweiten Kopf wachsen zu lassen. Das Kühlpack lag im Eisfach des Kühlschranks. Nele schnappte es sich und wickelte es in das Geschirrhandtuch, welches am Backofen hing. 1:23 Uhr zeigte die Uhr. Es war mitten in der Nacht. Nele ging zurück ins Wohnzimmer, ihr Handy lag auf dem Couchtisch. Keine Nachrichten. Kein Anruf. Wo war Richard? Sie entschloss sich, nach oben zu gehen. Zu den Schlafräumen. Und Richards Büro. Der Gang die Treppe hinauf fühlte sich an, als müsste sie einen Berg erklimmen. Als sie endlich oben ankam versagten ihr die Beine fast den Dienst. Es brannte kein Licht. Nele schleppte sich ins Schlafzimmer und fiel auf das frisch bezogene Ehebett. Sie atmete den Duft des Waschmittels und eine wohlige Wärme erfasste ihren Körper, eine Wärme, die sie nicht mehr verspürt hatte, seitdem sie den Umschlag an der Bushaltestelle vom Boden aufgenommen hatte. Nele tastete in ihrer Nachttischschublade nach Ibuprofen. Sie brauchte etwas, um den elenden Kopfschmerz zu bremsen. Sie nahm die Tablette mit einem großen Schluck aus der Wasserflasche, die sie immer griffbereit am Bett hatte. Dann drehte sie sich auf die Seite, positionierte das Kühlpack auf die Beule an ihrem Hinterkopf und starrte aus dem Fenster zur Straße. Sie konnte die Baumkronen der Allee sehen. Und das Mondlicht, welches sich auf den Dächern der Nachbarshäuser spiegelte. Es war so friedlich. Mit einem letzten seufzen schloss Nele die Augen und viel sogleich in einen traumlosen Schlaf. Sie hörte nicht die Schritte, die sich langsam über die Auffahrt Richtung Haustür bewegten. Hörte nicht, wie der Schlüssel die Haustür eine Etage tiefer aufspringen ließ. Sie spürte nicht, das jemand das Schlafzimmer betrat und sie aus dunklen Augen böse anstarrte.

 

 

 

 

 

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Das Schrillen der Türklingel holte Nele aus ihrem Schlaf. Ungeduldig drückte der fremde Besucher gleich mehrfach auf den Klingelknopf. „Ja, ja, ich komm ja schon“, flüsterte Nele. Sie richtete sich auf was sie sogleich bereute, da der Schmerz im Hinterkopf mit der Bewegung ebenfalls erwachte und sich voller Tatendrank ans Werk machte, ihr Gehirn zu bearbeiten. Nele wurde übel. Erneut ertönte die Türklingel. Penetrant. Unnachgiebig. Nele stolperte die Treppe herunter, auf die Haustür zu. Sie packte den Griff und schob die Tür auf. Ein kleiner, untersetzter Mann in den Vierzigern wartete auf der anderen Seite. Die dunkelblaue Uniform und das Cappy mit dem gelben „Post“ – Zeichen schienen seinen schmächtigen Körper drei Nummern zu groß zu sein. „Ich habe ein Einschreiben für Sie“ , sagte er mit Blick auf sein Klemmbrett. „Sie müssten hier einmal unterschreiben und…“ , weiter kam er nicht. Sein Blick war auf Nele gerichtet, mit großen Augen starrte er sie an.

„Entschuldigen Sie die Frage aber… ist alles in Ordnung bei Ihnen?“ , fragte er. Nele blickte ihn an. „Danke, alles in Ordnung.“ Sie versuchte ein lächeln, was ihr nicht so recht zu gelingen schien, da sie der Postbote weiterhin mit großen Augen anstarrte. Nele quittierte den Empfang des Einschreibens und reichte dem offensichtlich entsetzten Mann das Klemmbrett zurück. Im Gegenzug übergab er ihr wortlos den dicken Umschlag und noch ein paar andere Briefe. Sie wünschte  ihm noch einen schönen Tag und schob langsam die Tür zu. „Frau Graf? – der Postbote schien seine Stimme wiedergefunden zu haben – „ eins noch, Sie sollten Ihr Schloss kontrollieren lassen, die Tür war auf als ich geklingelt habe.“ Nele nickte und schloss die Tür. „Was hatte er gesagt? – Die Tür war … auf?…“ Das konnte nicht sein… Sie hatte schließlich gestern Abend vor der ins Schloss gefallenen Haustür gestanden. Nele warf die Briefe, die ihr der Postbote gegeben hatte auf den Küchentisch. Sie blickte auf die Uhr. 13:48. Sie hatte den halben Tag geschlafen. Langsam bewegte sie sich Richtung Badezimmer. Sie würde gleich noch mal eine Ibuprofen nehmen müssen, damit der Vorschlaghammer in ihrem Kopf endlich etwas Ruhe gab. Ein Blick in den Spiegel erklärte, warum der Postbote sie so angestarrt hatte. Nele sah furchtbar aus. Ihre Gesichtsfarbe hatte sich in ein aschgrau verwandelt, die Augenringe unter ihren müden Augen ließen vermuten, dass sie die letzte Woche nicht geschlafen hätte. Das braune, kurze Haar stand in allen Himmelsrichtungen von ihrem Kopf ab. An der linken Wange klebten Reste vom Schmutz des Betonbodens der Garage. Sie wirkte um Jahre gealtert. Nele drehte den Wasserhahn auf und wusch sich ihr Gesicht. Danach versuchte sie, ihre widerspenstigen Haare zu ordnen und legte ihre Kleidung, die sie seit gestern bereits trug, ab. Sie ging ins Schlafzimmer, holte ein frisches T-Shirt und eine Leinenhose aus dem Schrank und zog sich an. Dann setzte sie sich aufs Bett, öffnete die Schublade des Nachttisches und nahm eine Ibuprofen. Ein Blick auf ihr Handy verriet, dass weiterhin niemand angerufen hatte. Kein Richard. Sie wählte seine Nummer. „Der gewünschte Gesprächs…“ – weiter kam die Computerstimme nicht. Nele pfefferte ihr Handy aufs Bett. „Verdammt, wo steckt dieser Kerl?“, fluchte sie laut. Sie wühlte das Kühlpack aus den Kissen hervor und machte sich wieder auf den Weg nach unten. In der Küche angekommen, packte sie das Kühlpack zurück ins Eisfach und drückte auf den AN – Knopf des Kaffeevollautomaten. Sie brauchte jetzt unbedingt einen Kaffee. Dann setzte sie sich an den Küchentisch, auf dessen Marmorplatte sie die Briefe abgelegt hatte. Eine Urlaubskarte von Christine, die sich gerade auf Mallorca befand und eine Rechnung vom Autohaus, mit Sicherheit die Rechnung der letzten Inspektion. Dann packte sie das Einschreiben. Kein Absender… ungewöhnlich…, nein eigentlich unmöglich ein Einschreiben ohne Absender zu schicken. Nele öffnete den Umschlag und zog eine längliche Schachtel hervor. Ansonsten nichts. Kein weiteres Schreiben in dem Umschlag. Langsam öffnete sie die Schachtel und etwas goldenes blitzte ihr entgegen, eine Millisekunde, bevor ein spitzer, unmenschlicher Schrei ihre Kehle verließ. Sie schmiss die Schachtel soweit von ihr weg, wie es ihr nur möglich war, was die Konsequenz hatte, das ihr Inhalt nun quer über den Küchenfußboden kullerte. Nele konnte nicht aufhören zu schreien, zu entsetzlich präsentierte sich ihr der Inhalt der Schachtel vor ihren Füßen. In der Schachtel lag Richards Ehering, und er steckte noch an seinem rechten Ringfinger.

 

 

– 6 –

 

 

Der Schrei, der Nele aus der Kehle widerfahren war, hallte noch in ihren Ohren. Das Entsetzen, das ihr in den Augen stand, wollte noch nicht so recht weichen.  Nur langsam verarbeitete ihr Gehirn die Information, die ihre Augen bereits registriert hatten. Auf dem Fußboden vor ihr… Blutspritzer, überall auf dem Küchenboden verteilt… der Ring… die penibel auf Ringfingergröße zugeschnittene Bockwurst. Nele hatte sie für einen Finger gehalten, so gut war der Ring auf dem Stück Wurst positioniert worden und meisterhaft mit Kunstblut in Szene gesetzt worden. Da hatte jemand ganze Arbeit geleistet. Der Schrei aus ihrem Mund war in ein hysterisches Lachen umgeschlagen und drohte nun, da auch ihre letzten Gehirnzellen die Tatsache annahmen, dass ihr hier ein böser Streich gespielt worden war, in einem schluchzen zu enden. Neles Augen füllten sich mit Tränen. Sie konnte sich nicht vorstellen, wer ihr einen solchen Schrecken einjagen wollte und warum. Langsam hob sie die Ringfingerwurst vom Boden auf. Sie zog den Ring herunter und blickte hinein. Der Ring gehörte Richard, dass stand außer Frage. Wie kam der oder die Unbekannte nur in den Besitz dieses Ringes? Oder hatte Richard den Ring verloren und es ihr nur nicht erzählt? Was verdammt noch mal passierte hier? Nele machte sich auf den Weg ins Schlafzimmer, um ihr Handy zu holen. Sie musste einfach noch einmal probieren, Richard zu erreichen. Sie brauchte einen Moment, um das Telefon zu finden. Dann blickte sie auf ihr Display. 5 Anrufe in Abwesenheit, 8 neue Nachrichten. Hastig entsperrte Nele ihr Telefon. Richard hatte 5 mal versucht, sie anzurufen… Dann öffnete sie die Nachrichten. Eine von Karla, drei von Sabine und 4 Nachrichten von Richard. Karla schrieb standardmäßig „Ok, melde dich einfach, wenn du reden willst.“ Nele konnte mit dieser Message gar nichts anfangen, beachtete sie aber auch nicht weiter. Sie öffnete die Nachrichten von Richard.

„ Liebling, ich danke Dir für diese tolle Überraschung! Ich liebe dich!“

„Liebling, ich habe dich leider nicht erreicht, wir telefonieren morgen ok? Ich liebe Dich!“

„ Nele, wo bist du? Warum gehst du nicht an dein Telefon? Was ist los? Antworte mir oder ruf mich an! Sonst breche ich das Wochenende mit den Jungs ab und komme nach Hause!“  

Und Nele las ihre Antwort:

„ Schatz es tut mir leid, ich habe die letzten 12 Stunden nur geschlafen. Das Handy war auf lautlos, mach dir keine Sorgen um mich, es geht mir gut. Genieß dein Wochenende und die Auszeit vom Alltag! Ich freue mich schon, wenn du morgen wieder da bist!“ – unendlich viele Herzen folgten der Nachricht.

Richard:

„Ich hatte mir schon sorgen gemacht. 12 Stunden – Nele, dass ist ne Leistung! Aber wahrscheinlich hast du den Schlaf einfach mal gebraucht. Dann lass noch etwas die Seele baumeln, die Jungs und ich starten jetzt unsere Biergarten – Tour… Wir sehen uns morgen! Ich liebe Dich!“

Was war hier los? Nele konnte sich weder daran erinnern, dass Richard am Wochenende verreisen wollte, noch das sie eine Überraschung für ihn geplant hatte, geschweige denn, dass sie ihm auf die erst grad gelesen Nachrichten schon geantwortet hatte. Nele drückte auf den Telefonier – Button, das Menü erschien. 5 Anrufe in Abwesenheit. 2 von gestern Abend und 3 von heute morgen. Sie hatte doch immer wieder auf ihr Handy geschaut! Da waren keine Anrufe gewesen! Nele zögerte einen Moment, dann drückte sie die Wahlwiederholung zu Richards Handy. Doch noch bevor sich die Verbindung aufbauen konnte hörte sie es. Ein klicken. Ganz nah an ihrem linken Ohr. Und eine Stimme aus dem nichts, die ihr nur 1 Wort zuflüsterte, welches Nele einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. „Auflegen!“

 

– 7 –

 

 

Nele ließ das Telefon fallen. Das Display wurde schwarz. Langsam erhob sie sich und drehte sich um. Sie sah in grüne Augen, die sie wachsam beobachteten. Das Haar war frisch frisiert, so als ob die Person ihr gegenüber gerade vom Friseur gekommen wäre. Die hellbraune Damenlederjacke betonte hervorragend die Figur der Trägerin. Die ausgewaschene, eng anliegende Röhrenjeans schmiegte sich perfekt an die schlanken Beine und die Bikerstiefel bildeten einen perfekten Abschluss des Outfits. Die Trägerin bewies Stil, keine Frage. Und wenn Nele es nicht besser gewusst hätte, wenn nicht die Erinnerung sie mit voller Wucht getroffen hätte, die Erinnerung, die sie doch längst begraben hatte, eingeschlossen im hintersten Winkel ihres Langzeitgedächtnisses. Die Erinnerung, die nun das Schloss an der Tür gesprengt und sich wie eine Welle einen Weg an die Oberfläche kämpfte. Wenn sie all das hätte zurück halten können, dann hätte Nele behaupten können, dass sie in ihr Spiegelbild schauen würde. 

 

 

–  8 –

 

 

 

„Anna“ , flüsterte Nele. Mit Entsetzen versuchte sie zu verarbeiten, wer gerade vor ihr stand.

„Ich…ich dachte, du wärst tot.“

„ Oh, ich weiß, dass wäre dir wohl am liebsten gewesen. Mich einfach verschwinden zu lassen, aus deinen Gedanken zu streichen. Du hast schließlich all die Jahre erfolgreich so getan, als ob es mich nicht geben würde.“

„Anna… wie… wie hast du mich gefunden? Was machst du hier?“ – Nele starrte immer noch in ihr Ebenbild.  Sie konnte einfach nicht glauben, was gerade passierte.

„ Oh, das war gar nicht so einfach. Schließlich wusste ich nach deiner Hochzeit nicht, wie du nun heißt. Ja, ich wusste noch nicht mal, dass du noch hier wohnst. Und eigentlich hatte ich mich damit abgefunden, wie mein Leben verlaufen ist. Aber dann traf ich an der Tankstelle hier in Mönkeloh auf eine… Bekannte?… Christine hieß sie. Sie sprach mich mit deinem Namen an und bevor ich sie berichtigen konnte, befand ich mich schon mitten in einem Monolog über ihre geplante Urlaubsreise. Naja, zum Schluss meinte sie nur, dass ich meinen Mann Richard schön grüßen sollte, und dass er ihr beim letzten Treffen sehr abgekämpft vorgekommen sei und ihm etwas Abstand von der Kanzlei sicherlich gut tun würde.“

Anna grinste. Noch immer hielt sie den Lauf der Waffe auf Nele gerichtet. Sie konnte es kaum erwarten, ihr alles zu erzählen.

„ Nach der Begegnung an der Tankstelle suchte ich im Internet nach der Adresse deiner Eltern. Die Namen kannte ich ja. Und siehe da, sie standen tatsächlich im Online – Telefonbuch.

Also fuhr ich zu der Adresse und klingelte. Deine Mutter öffnete die Tür und bat mich herein. Wir tranken Kaffee, aßen selbstgemachten Kuchen. Ich spürte die Liebe deiner Eltern. Ich spürte eine Wärme, die ich nie verspürt hatte. Der einzige Haken an der Geschichte war, dass sie mich mit „Nele“ ansprachen. Aber sie hielten mich für dich!“ – Annas Stimme überschlug sich. So sehr freute sie sich über den Verlauf der letzten Tage, der ihren Plan weiter reifen ließ.

„ Als ich mich von deinen Eltern verabschiedete, gaben sie mir einen Umschlag mit Hochzeitsfotos von Richard und dir, mit der Bitte, diese noch einmal neu abziehen zu lassen, da sie welche zu ihren Bekannten nach Amerika schicken wollten. So kam ich in den Besitz der Fotos und nun hatte auch dein Mann ein Gesicht. Ich googelte nach euren Namen und fand heraus, wo ihr wohnt. Ich beobachtete euer Haus, eure Gewohnheiten. Wann ihr zur Arbeit gingt, wann ihr wieder zurück kamt. Ich war beeindruckt, als ich heraus fand, dass du eine Ärztin mit eigener Praxis bist. Du hattest so viel erreicht, führtest ein glückliches und sorgenfreies Leben, während ich mich mit Nebenjobs über Wasser hielt und ruhelos quer durch Deutschland reiste, auf der Suche nach dem Sinn meines Lebens. Und ich schien ihn gefunden zu haben. Jetzt musste ich meinen Plan nur noch zu Ende bringen, um endgültig den Platz meiner Zwillingsschwester einnehmen zu können.“

 

 

 

– 9 –

 

 

Nele war schlecht. Sie hatte Anna aufmerksam zugehört und mit jedem Satz war ihr Wunsch gestiegen, sich übergeben zu können. Der Lauf der Waffe war noch immer auf sie gerichtet. Anna wollte sie umbringen, das war ihr mit dem letzten Satz ihrer Erzählung klar geworden. Sie wollte ihren Platz einnehmen. 

„Anna…. Es… es tut mir leid, was ich damals gemacht habe. Ich… ich hatte einfach Angst. Angst davor, was es bedeuten könnte, wenn du wieder in unser Leben trittst.“ Nele wusste, dass diese Erklärungen nichts ändern würden, nicht nach dem, was sie Anna angetan hatte. Sie hatte gelogen, ihre Familie belogen, sich selbst belogen, damals, nur um ihre kleine heile Welt aufrecht zu erhalten. Und Anna hatte ihr einen letzten Brief geschrieben, und ihr mitgeteilt, dass sie ihr Leben beenden würde, da sie es als sinnlos und überflüssig betrachtete. Und Nele hatte nichts dagegen unternommen. Sie war sogar froh gewesen, erleichtert, dass diese Person für immer von der Bildfläche verschwand.

Neles Mutter hatte ihr erzählt, dass sie damals mit Zwillingen schwanger gewesen sei, dass ihre Schwester, Anna, jedoch bei der Geburt gestorben sei. Kurz vor Neles 18. Geburtstag war Nele von der Schule nach Hause gekommen. Auf der Fußmatte vor der Tür hatte ein Brief gelegen. Adressiert an „Familie Ewert“. Nele war neugierig gewesen und hatte ihn geöffnet. Ihre Eltern waren nicht zu Hause gewesen. Der Brief war von Anna. Sie schrieb, dass sie als Baby aus dem Krankenhaus entführt und einer reichen Familie zum Kauf angeboten worden sei. Mit 6 Jahren gab diese Familie Anna jedoch in ein Kinderheim, mit der Begründung, dass sie ihnen zu sehr zur Last fallen gefallen sei. Die letzten Worte ihrer angeblichen Mutter seien gewesen, dass sie eh nicht ihre Tochter sei und sie damals für sie zu viel bezahlt hätten. Anna schrieb weiter, dass niemand im Heim ihre Geschichte glauben wollte. Und so sei sie im Heim aufgewachsen. Allein. Ohne Familie. Im Lauf der Jahre machte sie sich auf die Suche nach ihrer Familie und eines Tages fand sie ein Bild im Internet, auf dem die Abschlussklasse eines Gymnasiums in Paderborn abgebildet war. Und dort auf dem Bild erkannte sie jemanden, der ihr zum verwechseln ähnlich sah. Nele!  Also hatte sie weiter gesucht und dann auch tatsächlich eine Adresse ausfindig machen können, die sie zu ihren leiblichen Eltern führte. Zu Neles Eltern. Nun, kurz vor ihrem 18. Geburtstag, war Anna bewusst geworden, dass sie das Heim mit ihrer Volljährigkeit verlassen musste und sie wusste nicht, wohin. Also habe sie all ihren Mut zusammen genommen und diesen Brief an ihre Eltern verfasst, in der Hoffnung, dort mit offenen Armen empfangen zu werden. Mit dem Brief hatte Anna ein Foto von sich mitgeschickt und Nele hatte in ihr Ebenbild gesehen.

Nele hatte den Brief vor ihren Eltern versteckt. Nein, sie wollte ihre Familie nicht mit jemanden teilen, sie wollte nicht, dass diese Anna in ihr Leben trat. Sie schrieb Anna einen Brief, adressiert an das Kinderheim, welches im Brief angegeben worden war. Sie schrieb, dass sie niemand hier haben wolle und dass sie sie in Ruhe lassen sollte. Dann schickte sie den Brief heimlich an Anna. Erst Wochen später erreichte Nele ein weiterer Brief, indem Anna ihr mitteilte, ihrem Leben ein Ende setzen zu wollen, da sie sich in der Welt allein und überflüssig fühle. Nele hatte auf diesen Brief nie geantwortet und erst Monate später im Kinderheim angerufen und nach Anna gefragt. Die Heimleitung hatte geantwortet: „Anna Winter? Die gibt es nicht mehr.“ Für Nele war damit klar gewesen, dass Anna ihre Drohung wahr gemacht hatte. Und damit war auch für Nele das Thema erledigt gewesen. Sie hatte die beiden Briefe und auch das Foto ihrer Schwester verbrannt und damit war auch jede Spur von ihr erloschen.

Und jetzt stand Anna hier, in Neles Schlafzimmer, den Lauf einer Pistole auf sie gerichtet, bereit, ihren rechtmäßigen Platz in der Familie einzunehmen. Und so wie Nele es damals mit ihr getan hatte, war Anna gewillt, diese Familie nicht mit Nele zu teilen.

 

 

 

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Anna starrte ihre Schwester hasserfüllt an. Alles, was sie sich damals gewünscht hatte, hatte Nele ihr verwehrt. Als sie bei Neles Eltern…nein, IHREN Eltern diese Liebe und Wärme gespürt hatte, war ihr klar geworden, dass sie dieses Gefühl nie wieder missen wollte. Anna war kein böser Mensch, sie hatte noch nie jemanden etwas getan. Und doch musste sie nun ihre Schwester aus dem Weg räumen, um ihren Platz einnehmen zu können. Sie hatte sich die Haare wie ihre Schwester schneiden lassen, die zum Glück nur etwas länger gewesen waren als die von Nele. Sie hatte die Telefonzentrale in Neles Praxis angezapft und so am vergangenen Freitag Termine doppelt vergeben, sodass Nele auf jeden Fall erst nach ihrem Mann zuhause sein würde. Dann hatte sie für ihren zukünftigen Ehemann Richard und dessen Freunden ein Wochenende in Willingen gebucht. Eine Männertour. Nur um ihn aus dem Weg zu haben. Sie hatte den überraschten Richard noch vor der Haustür abgefangen, ihm Schlüssel und Ehering abgenommen, damit er diese nicht verlieren würde. Dann hatten seine Freunde ihn abgeholt. Anna hatte den BMW in die Garage gefahren, nur damit Nele sich nicht zu früh auf die Suche nach ihrem Mann machen würde. Dann war sie mit der Bahn kurz zurück in die Stadt gefahren, um ein Handy mit Prepaid Karte zu besorgen. Auf dem Rückweg hatte sie Nele auf der Mauer entdeckt. Somit musste sie mit einem anderen Bus fahren. Beim Einsteigen waren ihr dann die Bilder aus der Tasche gefallen. Zugegeben, dass hatte nicht zum Plan gehört. Sie hatte Neles Kopf aus den Bildern heraus geschnitten um sicher zu gehen, dass sie sie auch wirklich eins zu eins ersetzen konnte. Zugegeben, dass ihre Schwester dann die Bilder fand und so entsetzt auf sie reagierte, passte dann wieder hervorragend in Annas Plan. So hatte Anna sich ihre Perücke, die sie schon am Nachmittag getragen hatte, wieder aufgesetzt, war ins Haus geschlichen als Nele schlief, hatte die Handys ausgetauscht, damit Richard sie nicht erreichen konnte, und hatte sich wieder hinaus geschlichen. Dann hatte sie die Fotos, die Nele in den Müll geworfen hatte, aus der Mülltonne gefischt, die dabei umgestürzt war. Durch das Geräusch hatte sie Nele geweckt, daher hatte sie noch einmal verschwinden müssen. Erst später, als Nele bewusstlos in der Garage lag, hatte sie sich wieder im Haus versteckt. Als Richards Nachrichten immer besorgter klangen, hatte Anna sich über Neles Laptop bei WhatsApp eingeloggt und Richard am Morgen eine plausible Erklärung für ihr nicht- antworten geschrieben. Danach war sie zurück zu ihrem Versteck im in Richards Büro geschlichen und hatte auf den richtigen Zeitpunkt gewartet, ihre Schwester zu überrumpeln. Und nun war dieser Zeitpunkt gekommen. Und Anna brannte darauf, es endlich hinter sich zu bringen.

 

 

 

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„Anna, bitte..“ versuchte Nele es erneut. Sie weinte jetzt. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Es gab nichts, womit sie den Fehler, den sie vor 14 Jahren begannen hatte, wieder gut machen konnte. Anna ging um sie herum und öffnete das Fenster hinter Nele, welches zur Auffahrt der Garage zeigte. Dann ging sie wieder zurück zu der Stelle, wo sie die ganze Zeit gestanden hatte. Den Lauf der Waffe weiterhin auf Nele gerichtet. Anna bückte sich und zog aus einer Tasche, die zu ihren Füßen stand, eine Flasche Wasser heraus. Sie öffnete diese und trat an Nele heran. Anna sah in die Augen ihrer Schwester. 

„Wir hätten Freundinnen sein können, Seelenverwandte, immer füreinander da.“, sagte Anna. Dann hielt sie die Wasserflasche über Nele und goss diese über sie aus.

Nele wusste es, bevor sie es roch. Das war kein Wasser, das war hochprozentiger Alkohol. Ihr entfuhr ein Schrei, der sofort verstummte, als Anna ihr die Waffe genau zwischen die Augen hielt.

„ Sei leise“, zischte sie.

„Anna, ich rede mit meinen Eltern… mit UNSEREN Eltern. Ich gestehe alles. Es ist allein meine Schuld. Wir können noch einmal neu anfangen. Ich spreche mit Richard. Vielleicht kann er dir helfen, die Leute, die dich entführt und verkauft haben zur Rechenschaft zu ziehen!“ Neles Stimme klang verzweifelt, sie konnte nicht aufhören zu weinen. Ihre Tränen verschleierten ihren Blick auf Anna. Sie hörte das Klicken des Feuerzeugs bevor sie die Flamme sah.

„Anna, nein…“, stammelte sie.

„Es tut mir leid“ , sagte Anna. Dann ließ sie das Feuerzeug auf Nele fallen und noch bevor sich die Flammen um den vor Entsetzen erstarrten Körper Neles schlangen, gab Anna ihr einen kräftigen schubs und stieß ihre Zwillingsschwester hinterrücks und brennend aus dem Fenster.

 

 

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Sie hörte das Flüstern, auch wenn er sich noch so bemühte, leise zu sprechen. Das tat er immer. Schon seit dem Anfang ihrer Beziehung hatte Richard stets Rücksicht auf sie genommen. Auch wenn er wusste, dass es sie nie störte, versuchte er möglichst leise zu sein solange sie schlief. 

Nele lag still und rührte sich nicht. Sie dachte an den Traum…diesen verrückten Traum der letzten Nacht. Sie spürte das Federkissen unter ihrem Kopf. Hatte es Federn verloren? Oder war ihr Kopf noch so unsagbar schwer von ihren langsam abnehmenden Hirngespinsten der letzten Nacht?

Richard ging im Schlafzimmer auf und ab. Sie hörte ihn jetzt etwas deutlicher. Lange schien er noch nicht wach zu sein. Seine Stimme wirkte belegt und er räusperte sich mehrmals beim telefonieren, ohne dass Dieses eine Veränderung in seiner Stimme bewirkte. Ein Hauch abgestandenen Männerparfüms gemischt mit den letzten Duftnoten der Tabakzigarette von gestern Abend zog an ihr vorbei. Nein, Richard war definitiv noch nicht lange auf den Beinen. Zumindest hatte er es noch nicht ins Bad geschafft. Das verriet sein Duft.

Nele lies die Augen geschlossen. Sie fühlte sich unendlich müde. Als wäre sie den Marathon der letzten Nacht selbst gelaufen. Als wären all diese schlimmen Dinge wirklich passiert. Sie fragte sich, wo in ihrem Inneren diese furchtbaren Gedanken vergraben gewesen sein könnten. Und doch verblasste der Traum der letzten Nacht nicht vollständig. Er pulsierte weiter in Neles Kopf und mit jeder Sekunde wurde ihr Körper schwerer.

Richard hatte die Freisprecheinrichtung des Telefons aktiviert. Das tat er dann, wenn er sich während des Gesprächs schon mal die Krawatte band oder die frisch polierten Lederschuhe anzog. Normalerweise verließ er dafür das Schlafzimmer, heute musste das Gespräch allerdings sehr wichtig und dringend sein. Seine Tonlage hatte sich verändert. Er schien sich über den Anrufer zu ärgern.

Nele wagte den ersten Schritt zurück in die Realität und öffnete vorsichtig ein Auge, nur, um es sofort wieder zu zukneifen, so sehr blendete sie die Sonne, die durch das Fenster ihren Weg ins Schlafzimmer gefunden hatte. „Noch fünf Minuten“ – dachte sie.  

Sie konnte langsam ihre Gedanken wieder sortieren. Und mit dem nun jetzt zurück kehrenden Geist in ihren Körper spürte sie auch wieder die Schmerzen im Rückenbereich. Heute morgen schienen sie sich nun einen besonders machtvollen Weg zurück in ihr Bewusstsein zu bahnen. Sie brauchte unbedingt eine neue Matratze. 

Richards Stimme war jetzt deutlich. Über die Freisprecheinrichtung des Telefons konnte man nun auch den Störenfried des frühen Morgens klar verstehen.

„ Und Sie sind sich da absolut sicher?“ – „Ja.“ Stille. Scheinbar telefonierte Richard mit einem seiner Klienten. „ Das heißt, dass sie für all das niemals vor Gericht stehen wird? Das man sie niemals dafür zur Rechenschaft ziehen kann?“ – „Genauso sieht es aus. Aber ich bin der festen Überzeugung, dass Frau Winter nie wieder jemanden Schaden zufügen kann.“

 

 

 

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Nele riss die Augen auf. Das Licht der Sonne brannte in ihre Pupillen und sie hatte kurzzeitig das Gefühl, zu erblinden. Sie blinzelte mehrfach, doch die schwarzen Flecken, die sich in ihr Gesichtsfeld gebrannt hatten wollten nicht so schnell verschwinden. Ihre Kehle war trocken und sie konnte sich nicht erinnern, wie das Bilden eines Wortes funktionierte. Sie versuchte, ihren Kopf auf die Seite zu drehen, es gelang ihr keinen Millimeter. Worüber sprach Richard? Und wieso sprach er über Anna? Er kannte sie doch gar nicht! Sie hatte ihm nie von ihr erzählt. Es hatte nie einen Grund gegeben, über sie zu sprechen! Und bis zur letzten Nacht hatte sie selbst jahrelang nicht an sie gedacht.

Langsam kehrte das Augenlicht zurück. Nele erkannte nun Umrisse. Und sie sah die schemenhaften Umrisse ihres Mannes, der weiter im Zimmer auf und abging. Nele blinzelte erneut, doch ihre Pupillen wollten sich noch nicht auf ihre Sehschärfe einstellen. Noch immer suchte sie nach der Fähigkeit, zu sprechen. Es viel ihr einfach nicht ein, wie es funktionierte.

„ Wie geht es nun weiter?“ fragte Richard. – „Nun, wir werden noch einige Untersuchungen durchführen aber aufgrund der Schwere ihrer Verletzungen sind die Chancen, dass sie jemals wieder mit ihrem Umfeld in Kontakt treten wird, gleich null.“

Nele schluckte, und dieser Akt kostete sie eine enorme Kraft. Der Speichel, der sich in ihrem Mund gesammelt hatte, verursachte auf seinem Weg die Speiseröhre hinunter das Gefühl, als wenn sie Rasierklingen geschluckt hätte. „ Um Himmels willen, was war Anna zugestoßen?“ dachte sie. „ Warum habe ich grad heute von ihr geträumt?“ – Nele versuchte erneut, sich daran zu erinnern, wie das Sprechen funktioniert. Es wollte ihr einfach nicht einfallen. 

Richard wanderte weiter im Zimmer umher. Sein Gang wirkte gebeugt, so als ob er eine schwere Last zu tragen hätte. Seine Füße schlurften über den Boden. Er wirkte um Jahre gealtert. Nele bemerkte eine Bewegung im hinteren Teil des Zimmers. „Was zur Hölle… ist da etwa jemand in unserem Schlafzimmer?“ – schoss es ihr durch den Kopf. In ihrem Kopf dröhnte es, sie hörte den Presslufthammer, der auf dem Nachbargrundstück seine Arbeit aufnahm. Richard bewegte sich nun langsam auf sie zu. Das Telefon schien er abgelegt zu haben. Noch immer konnte sie den Raum nicht scharf erkennen. Aber irgendetwas in ihr sagte ihr, dass sie nicht in ihrem Schlafzimmer, ja, noch nicht mal in ihrem Haus war. Sie erkannte, dass das vermeintliche Sonnenlicht von einer über ihr hängenden, auf sie gerichteten Neonlampe kam. Nele wurde kalt. Der Geruch von Tabak und dem abgestandenen Parfüm verstärkte sich. Richard beugte sich über sie. Nele starrte in seine dunkelbraunen Augen, weiterhin unfähig, ein Wort heraus zu bringen. Diese dunkelbraunen Augen, die ihr so vertraut, und doch so fremd erschienen. In seinem Blick war nichts von der Wärme, mit der er sie sonst ansah und alle Freundlichkeit schien aus seinem Gesicht  verschwunden zu sein. Sein Blick war kalt, abweisend. Der Blick eines Anwalts.

„ Ich habe kein Mitleid mit ihr“, sagte Richard und wandte sich wieder von Nele ab. „Diese Frau versuchte, meiner Frau etwas anzutun. Ich wollte sie überraschen und bin daher eher von unserem Wochenendausflug mit den Jungs zurück gekommen. Als ich aus dem Auto stieg hörte ich meine Frau schreien und dann sah ich, wie diese Person aus dem Fenster sprang. Nele sagte, dass sie sich selbst angezündet hatte, nachdem Nele ihr die Waffe entwendet hatte, mit der Frau Winter auf meine Frau ziehlte.“

Eine weitere Person trat in Neles Sichtfeld. Ein Mann in weißem Kittel.

„ Wissen Sie, Herr Graf,“ sprach er, „wir werden wohl nie heraus finden, warum Frau Winter gerade bei Ihnen ins Haus eingebrochen war. Sie wird uns diese Frage nie beantworten können. Sie hat starke Verbrennungen erlitten, gerade ihr Kopf ist bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Die Wirbelsäule ist 3 mal gebrochen, dazu das Becken, das rechte Bein und beide Arme. Die Brüche werden verheilen, die Haut wird sich vernarben aber die Schäden an Fr. Winters Gehirn sind irreparabel. Sie wird nie wieder sprechen, noch sich alleine bewegen können. Sie ist gefangen in ihrem eigenen Körper.“

„ Professor Naumann, das mag für Sie sicherlich hart klingen, aber ich kann trotzdem kein Mitleid für Frau Winter empfinden. Sie hätte mir beinahe das Liebste genommen, was ich auf dieser Welt besitze.“

„Das verstehe ich.“ Der Professor nickte und wandte sich dann ab zum gehen. 

Richard Graf folgte dem Mediziner ohne noch einmal einen Blick zurück zu werfen.

 

 

Der Presslufthammer stand nun neben dem Bett, der Kopf platzte, ihr Herz zerriss. Doch niemand bemerkte beim Verlassen des Raumes den Todeskampf von Nele Graf,  deren Augen sich angstvoll aus ihren Augenhöhlen herausheben wollten und deren weit aufgerissener Mund nur einen stummen Schrei hinaus in die Welt ließ, bevor der Presslufthammer ihr den Schädel in zwei Hälften riss. Dann war es dunkel. 

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