ChiaraGesichtsverlust

Er schreckte hoch. War da etwas an dem Fenster gewesen? Eine Schweißperle löste sich von seiner Stirn und rann in sein linkes Auge. Es brannte. Anstatt das Brennen als solches wahrzunehmen und den Fremdkörper aus dem Auge zu wischen, bemerkte er nur den Schmerz, an dessen Stelle sich mal sein Körper befunden haben musste.

Seitdem das Baugerüst an dem Mehrfamilienhaus stand, in dem sich Bens Zwei-Zimmerwohnung befand, schlief er noch schlechter, als sowieso schon. Er vermutete hinter jedem Schatten, hinter jedem Knarzen und Klappern etwas Unheilvolles.

Was war nur los mit ihm?

Langsam setzte Ben sich auf und strich sich die nassen Haarsträhnen von der Stirn, die eine eigenartige Symbiose mit dem Schweiß eingegangen waren.

Seine rechte Hand glitt an die Stelle, an der normaler Weise seine Brille auf dem abgesägten Baumstamm lag, den er als Nachttisch umfunktioniert hatte.

Nichts.

Auch das Fenster, das sich links neben seinem Kopf befinden hätte müssen und, an dem er dachte einen Schatten wahrgenommen zu haben, war nicht da. Wo verflucht nochmal war er? Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Da war nur diese sich kalt an ihn heranschleichende Angst.

Bens Finger kribbelten, als er weiter versuchte sich in dem Dunkel zu orientieren. Ein unangenehmer Geruch trat in sein Bewusstsein. Irgendetwas süßlich Modriges, was sich mit der stickig, stehenden Hitze in dem Raum verbunden hatte.

Der erste Aufstehversuch schlug fehl, endete mit ihm auf seinen Knien und einem nicht enden wollendem Schwindelgefühl.

Er übergab sich vor sich auf den Boden. Na super, jetzt hatte er auch noch den säuerlich bitteren Geschmack von der hochgestiegenen Galle am Gaumen hängen. Zudem machte der, mit dem Erbrochenen zwischen seinen Händen, einhergehende Geruch seine Situation nicht unbedingt angenehmer.

Mit dem 2. Versuch aufzustehen, erreichte Ben endlich sein Ziel sich von dem hölzernen Boden zu lösen und eine vertikale Position einzunehmen.

So langsam gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit und machten 2 Diagonalen aus, die sich gleichermaßen über ihm zu einer Decke schlossen. In seinen Blick fielen ebenso in gleichen Abständen stehenden Holzpfeiler.

Ben erlebte ein Gefühl von Dankbarkeit, während seiner Orientierungsphase nicht auch noch gegen einen von diesen gedonnert zu sein. Das Gefühl währte nur kurz.

Vielleicht ein Dachboden? Das erklärte auf jeden Fall die enorme Hitze und die stickige Luft, die sich auf die sommerlichen Temperaturen der letzten Tage zurückzuführen ließ.

Oder, wie viel Zeit war bereits vergangen? Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren.

Er suchte verzweifelt die schrägen Wände ab, die sich noch im Rohzustand befanden. Der Geruch von Bauschaum und Farbe gelang immer wieder in seine Nase, während er mit den Händen die Oberflächen abfuhr.

Kein Fenster. Keine Tür. Kein lichterfüllter Spalt. Nichts.

Alles an seinem lädierten Körper sagte ihm, es nicht zu tun. Er konnte nicht anders, als sich seinen rudimentären Instinkten hinzugeben und zu schreien.

Er schrie. Er schrie laut: „Hallo, Hallo ist da jemand? Kann mich jemand hören? Hilfe!!!“ Er trommelte, wie wild mit den Fäusten gegen die Wand, aber es regte sich nichts.

„Ok Ben, bleib ruhig.“, sagte er sich, während er sich langsam auf den Boden sinken ließ und tief durchatmete, um gegen die aufsteigende Panik anzukämpfen. Es fühlte sich an, wie Schläge in die Magengrube zu bekommen. Sein Magen krampfte sich zusammen und übergab sich erneut.

Die Hitze legte sich, wie ein lähmender Schleier um seinen Körper. Sein Bewusstsein.

Wie passte das alles zusammen? Was war geschehen? Er gab sich aller größte Mühe die letzten Stunden, an die er sich noch erinnern konnte, zu rekapitulieren. Bestimmt würde er so schneller Klarheit über das bekommen, was hier vor sich ging.

Er erinnerte sich, dass sein Chef ihm freundlich vorgeschlagen hatte, sich eine Auszeit zu nehmen. Aber Ben war sich darüber im Klaren gewesen, dass alles andere als eine Auszeit sein sollte, sondern eine zeitlich befristete Suspendierung. Aufgrund seiner, in letzter Zeit immer wieder häufiger auftretenden impulsiven Einzelgänge sowie den vermehrten Panikattacken, hatte sein Chef, Kurt Maczinek, die Reißleine gezogen und ihn vorerst für zwei Wochen nach Hause geschickt. Er sollte an seiner mentalen Verfassung arbeiten. Als ob er das nicht schon sein halbes Leben versucht hatte. Ben arbeitete als Journalist im Kriminalressort einer landesweit bekannten Wochenzeitung. Er war vermutlich das Sinnbild eines Workaholics. Kein Privatleben, keine Freunde, nur die Arbeit. Er war noch nie gut in Freundschaften schließen gewesen und noch schlechter in Freundschaften erhalten. Irgendwie frustrierten ihn Menschen ziemlich schnell. Dafür fand er sie um so interessanter, je mehr sie zu verbergen hatten und er dadurch eine neue Story witterte. Seit seiner letzten großen Reportage war bereits mehr als ein Jahr vergangen.

Ben vermisste das Kribbeln unter seiner Haut, das immer begann, wenn er an etwas Großem dran war. Drauf und dran die Bombe in aller Öffentlichkeit platzen zu lassen; etwas bisher nicht für möglich Befundenes zu enthüllen. Das letzte große Ding war die Veröffentlichung der mehr als dubiosen Machenschaften eines großen Immobilienkonzerns und der Verhaftung dessen Chefetage gewesen. Besonders den millionenschweren Eigentümer des Unternehmens, Matthias Vanderhoven, hatte es hart erwischt. Mitunter dank Ben. Er hatte durch seine beharrliche Recherche aufgedeckt, dass jener zum Teil wissentlich gesundheitsschädliche Bausubstanzen verwendete. Außerdem hatte sich Vanderhoven bei den Entschädigungszahlungen, der durch die gefährdenden Bausubstanzen erkrankten Bewohner, aus der Verantwortung gezogen. Er hatte hohe Tiere im Justizwesen geschmiert, teilweise auch so lange bedroht, bis ihnen nichts Anderes übrig geblieben war, als zu seinen Gunsten zu handeln.

Davon abgesehen, dass das Herauswerfen von Mietern aus, von ihm neu erworbenen Objekten zu lächerlichen Konditionen, folgenden Luxussanierungen und anschließende Verkäufe zu horrenden Preisen, zu der täglichen Arbeit des Immobilienhais gehörte.

Es war zu einem langwierigen öffentlichen Prozess gekommen. Matthias Vanderhoven war anschließend zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden, die er derzeit in der JVA Plötzensee absaß. Ben hatte damals die Rechte für eine Exklusivstory von der Polizei zugesichert bekommen, da er entscheidende Hinweise geliefert hatte, die letztendlich zu Vanderhovens Verhaftung geführt hatten.

Bens Chef war natürlich über die Resultate sehr erfreut gewesen, hatte ihn allerdings seither nicht mehr auf eine derart heiße Story angesetzt. Er wollte vermeiden, dass bestimmte Menschen auf Bens Arbeit aufmerksam wurden. Ben hatte allerdings auch vermutet, dass Maczinek überwiegend aus Eigennutz gehandelt hatte. Ein psychisch instabiler Journalist würde sich und andere früher oder später in Gefahr begeben bzw. würde ggf. rücksichtlos und ohne genügend Voraussicht handeln. Ben ärgerte das Ganze maßlos, auch wenn ein kleiner Teil von ihm Maczinek verstehen konnte.

Ben schloss die Augen, um statt vergeblich, wie bisher, mit seinen Augen etwas wahrnehmen zu wollen, sondern um sich besser auf seine anderen verbleibenden Sinne konzentrieren zu können.

Erst hörte er nur das Rauschen seines eigenen Blutes, was mit jedem Herzschlag ein Stückchen weiter in den Rest seines Körpers gepumpt wurde.

Da! Ein Geräusch! Es klang wie ein dumpfes Schlagen.

Wie Wind, der gegen eine lose Plane schlug.

Plötzlich glitt ein kühler Lufthauch über Bens Nacken. Sein Körper reagiert sofort mit einer Gänsehaut, die jedes sich auf seinem Körper befindende Haar aufstellen ließ. Wie eine elektrostatisch aufgeladene Marionette, saß Ben stocksteif in aller höchster Alarmbereitschaft da. Seine Hände begannen wieder mit dem Zittern, das ihn immer überfiel, wenn er nervös wurde. Verdammt.

Ein kalter Schweißtropfen ran seinen Nacken hinab, seine Wirbelsäule entlang. Er fühlte die Präsenz einer anderen Person im Raum, konnte aber niemanden ausfindig machen.

Wurde gerade die Luft in dem Raum noch etwas stickiger? Das Zittern wurde schlimmer.

„Hallo Ben, wie schön dich wieder bei Bewusstsein zu wissen“, drang der warme Klang einer tieferen Frauenstimme in seine betäubten Ohren.

Er fröstelte.

Er versuchte fieberhaft sein Gehirn zu einer Erinnerung zu zwingen. Aber es war nur, wie eine volle Bibliothek mit lauter Büchern. Nur dass, jede Seite, in jedem dieser Büchern, leer war. Weiß.

Ben atmete stoßhaft aus und versuchte eine Gestalt zu der Stimme ausfindig zu machen.

„Wer sind Sie?“, brachte er panikverzerrt heraus. Er hatte einmal bei einem Deeskalationsseminar mitmachen müssen, zu dem ihm sein Chef damals gezwungen hatte. Er konnte sich erinnern, dass es wichtig war, dem Gegenüber Respekt und zugleich Abstand zu signalisieren, indem man ihn trotz einer Konfliktsituation zunächst siezte.

„Das ist nicht der Grund, weshalb wir uns hier versammelt haben.“, kam es von ihr zurück.

Seine Augen probierten, so gut wie nur in der Dunkelheit möglich, die Umrisse einer Person auszumachen. Er sah nichts.

Sie musste ihn betäubt haben. Da war er sich sicher. Es würde auf jeden Fall seine Erinnerungslücken und die unendliche Übelkeit erklären, die ihn seit seinem Aufwachen nicht loslassen wollte.

Sein Hirn switchte auf Arbeitsmodus und versuchte in rasanter Geschwindigkeit alle Fälle durchzugehen, die er jemals während seiner Arbeit bearbeitet hatte. Klar, mit seiner Recherche war er häufiger Menschen auf die Füße getreten, aber würde deshalb jemand ihn betäuben, verschleppen und auf einem Dachboden festhalten?

„Und was ist dann der Grund? Was wird hier verdammt noch Mal gespielt?“ Ben wollte einfach nur so schnell, wie möglich weg von diesem Ort und hoffte innständig, dass das nur ein böser Traum war. So musste es sein. Ein Traum. Hervorgerufen von seinen schlaflosen Nächten, seinen verstörenden Erinnerungen und dem Alkohol, den er sich immer wieder einflößte, um besser vergessen zu können.

 „Du hast mich umgebracht. Das wird hier gespielt. Klingelt es jetzt bei dir? Aber warte, bei so vielen Menschen, die auf dem Gewissen hast, kommt man bestimmt mal durcheinander.“, sagte die Stimme mit eisigem Sarkasmus. „Aber, wenn du dich dumm stellen willst, kein Problem. Dann muss ich zu anderen Mitteln greifen, um dich wieder erinnern zu lassen.“, sagte die Stimme mit einem leichten Schmunzeln, was Ben meinte heraushören zu können.

Oh Gott. Es war kein Traum. Ben schlug der Hammer der Erkenntnis mit einem Schlag ins Gesicht. Aber das konnte nicht sein. Niemand kannte seine Vergangenheit. Diese vor Enthüllungen zu wahren, darauf war er die letzten Jahre immer bedacht gewesen. Die Stimme konnte unmöglich darauf anspielen.

Bens Gehirn konnte sich noch nicht entscheiden, ob er in tosende Panik verfallen oder versuchen sollte einen kühlen Kopf zu bewahren, um besser analytisch vorgehen zu können. In seinem Job war er schon das ein oder andere Mal an seine psychischen Belastungsgrenzen gekommen und war nicht nur deshalb einmal wöchentlich bei Dr. Frederik Halverson.

Der Psychotherapeut mit dem Spezialgebiet der Hypnosetherapie versuchte seit etwa eine halben Jahr Ben bei seinen immer häufiger auftretenden Panikattacken zu helfen. Er schlief schon lange nicht mehr durch, wenn er überhaupt die Augen zu und das Gedankenkarussell ausgeschaltet bekam.

Er war früher schon mal bei jemandem anderen für sehr lange Zeit in Therapie gewesen. Aber das war lange her und in einer anderen Stadt, in einem anderen Leben. Er hatte einige Jahre nach dem Umzug gedacht, er würde alleine klarkommen. Er wollte es so unbedingt. Er hatte alles versucht. Meditation, gesunde Ernährung, Yoga, kein Alkohol, alles. Aber es holte ihn früher oder später immer irgendwie wieder ein. Ben hatte nicht gewollt, dass ein Fehler, den er als Jugendlicher gemacht hatte, sein ganzes Leben versaute. Aber so war es nun mal. Es klebte seither an ihm. Er würde es nie wieder los werden, das war ihm klar geworden, kurz bevor er sich erneut einen neunen Therapeuten gesucht hatte. Seitdem war er einmal wöchentlich, wenn es ganz schlimm war, sogar zweimal in der Woche, bei Dr. Halverson.

„Wovon reden Sie?“, versuchte sich Ben wieder an die Stimme zu richten. Doch er bekam keine Antwort. „Hallo? Hallo…sind Sie noch da?“ Stille.

Er hatte keine sich entfernenden Schritte gehört. Trotzdem schien die Stimme auf einmal verschwunden.

Ben sprang auf. Trotz seines schmerzenden Körpers. Es fühlte sich an, als würde er aus einem einzigen Hämatom bestehen. Sein Magen rebellierte noch immer, allerdings ohne sich erneut zu entleeren. Die Galle, die er erbrochen hatte, war scheinbar der Rest gewesen, von dem, was sich noch in seinem Verdauungsorgan befunden hatte.

Er probierte erneut sich auf seine Umgebung zu fokussieren, um so schnell, wie möglich einen Weg heraus zu finden. Stütze sich mit den Händen an der kühlen Wand ab. Ok. Keine Fenster. Keine Tür. Er bekam immer schlechter Luft. Das waren nicht unbedingt die besten Voraussetzungen für eine Flucht. Ben wollte es eigentlich nicht, aber mehr und mehr verließ ihn der Mut, etwas an seiner Situation aussetzen zu können.

Er rutschte langsam mit dem Rücken zur Wand, mit dem Gesäß Richtung Boden, bis er in einer merkwürdigen Position Platz fand. Alle Gliedmaßen so weit, wie möglich von sich gestreckt, um weiterer Schweißbildung möglichst wenig Potential zu bieten. So versuchte er sich wieder auf seine Atmung zu konzentrieren.

Die richtige Atemtechnik war jetzt Gold wert, sagte er sich, einer Intuition nachgehend. So wenig, wie möglich von dem verbleibenden Sauerstoff verbrauchen, aber so viel wie möglich aufnehmen, damit sein Blut die lebenswichtigen Organe weiterhin mit den nötigen Nährstoffen versorgen konnte und gewährleistest war, dass er sein Gehirn zumindest auf Sparflamme benutzen konnte.

Also atmete Ben. Flach. Langsam. Und fand schließlich etwas Ruhe, um zu reflektieren, was so eben geschehen war. Er starrte auf seine Hände, das Zittern ließ nach. Er startete erneut einen Versuch sich an die letzten Tage zu erinnern. Der erste Tag, an dem er nicht in die Redaktion sollte, verlief, soweit er sich erinnern konnte ohne besondere Vorfälle.

                                                                                 *

Der zweite Tag lief da etwas anders ab. Er hatte sich am Abend zuvor etwas volllaufen lassen. Alleine selbstverständlich. Die Jack Daniels Flasche, die er frisch geöffnet hatte, war Dreiviertel leer gewesen, als sich Alfonso, der Deutsch Kurzhaar seiner Nachbarin Alessia, mit einem anhaltenden Fiepen bemerkbar gemacht hatte.

Alessia wohnte seit ca. 2 Jahren ebenfalls im 2. Stock des sich in Berlin Friedrichshain befindenden Altbaus. 1 ½ Jahre hatte er es erfolgreich zustande gebracht, ihr nicht über den Weg zu laufen, wie er das, seitdem er in dem Haus wohnte, mit den anderen Nachbarn gehalten hatte. Nur nicht in Gespräche verwickeln lassen. Ein knurrendes „Hallo“ war das Maximum, was ihm bei treppenhäuslichen Begegnungen über die schmalen Lippen kam.

Bei der Vollblutitalienerin war das anders gewesen. Sie hatte irgendwie, aus einem für Ben unerfindlichen Grund, Gefallen daran gefunden, ihn in tiefgründige Gespräche zu verwickeln, sobald sie sich im Treppenhaus trafen. Sie zwang ihn regelmäßig mit ihrem einnehmenden Temperament zu mehr Worten, als die, die er sonst übrig gehabt hätte. Es war, als schien sie, sobald sie ihn mit ihren hellgrünen Augen ansah, durch ihn hindurch, direkt in die Abgründe seiner Seele zu blicken.

Er fühlte sich jedes Mal unwohl, wenn er ihr begegnete. Sie hatte so was Verstehendes hinter ihrer freundlich durchdringenden Art, was immer wieder einen Fluchtreflex in Ben auslöste, dem er allerdings nicht folgen konnte. So war es auch diesmal gewesen, als sie ihn fragte, ob er einige Tage auf ihren Hund aufpassen könne. Sie wollte für ein paar Tage nach Ligurien an die nördliche Mittelmeerküste zu ihrer Familie. Ein Geburtstag irgendeines Cousins, hatte sie gesagt, glaubte Ben sich zu erinnern. Ben hatte eigentlich nur zugestimmt, um einer weiterlaufenden Konversation aus dem Weg zu gehen.

Er hatte sich mehr als verflucht auf die Hundesittinganfrage eingegangen zu sein, als Alfonso ihn aus seinem Katerschlaf gerissen hatte. Er wollte alles andere, als dass, der Hund auf seinen, für ihn heiligen, Dielenboden machte. Also hatte er sich aus dem Bett gequält, seine Brille aufgesetzt, eine Jogginghose und ein Shirt übergestreift, den Wohnungsschlüssel und die Hundeleine geschnappt. Als er an der Haustür auf wackeligen Beinen angekommen war, stürmte Alfonso zu dem einzigen sich in der Straße befindenden Baum und verrichtete sein Geschäft. Ben war die warme, stickige, definitiv nicht mehr morgendliche Luft ins Gesicht geschlagen, was einen Würgereflex ausgelöst hatte, dessen Folge er glücklicherweise noch unterdrücken gekonnt hatte.

Die Sonne hatte für einen Tag Ende April schon erstaunlich stark vom Himmel gebrannt und hatte Bens Kopf ein bedeutendes Bisschen mehr schmerzen lassen.

Nachdem Alfonso fertig war und Ben sich einigermaßen an seine neue Umgebung gewöhnt hatte, liefen beide hinunter zur Spree und am Spreeufer entlang. Nach einer guten halben Stunde hatte Ben gerade den Rückweg angetreten, als sich Alfonso losgerissen hatte und hinter einen angesprühten Frachtcontainer gerannt war, der auf einer brachliegenden Fläche am Wasser lag. Ben erinnerte sich den Gedanken gehabt zu haben, wie lange es wohl dauern würde bis sich der nächste geldgeile Investor das Grundstück unter den Nagel reißen würde, als er trotz seines schreienden Körpers dem Hund hinterhergerannt war.

Er hatte Alfonso hinter dem Container gefunden, nachdem er zwischen etlichen Hundehaufen, benutzten Kondomen und alten Flaschen mit fragwürdigem Inhalt Slalom gelaufen war. Der Hund hatte sich in Ufernähe befunden. Er steckte in einem riesigen Haufen Schlick, den Arbeiter auf einer Art kleinem Containerschiff mit Bagger aus der Spree gefischt hatten und hatte sich genüsslich darin gesuhlt. Der erste Gedanke bei dem Bild, das sich ihm geboten hatte, hatte Bens Gehirn in eine wütende Erinnerung eingebettet, die er noch gut abrufen konnte. Das konnte wohl doch nicht wahr sein! Scheiße! Als er den Hund endlich aus dem Dreck gezogen, angeleint, und Alfonso ihn überglücklich aus seinen strahlenden braunen Augen angesehen hatte, hätte Ben ihn am liebsten angeschrien. Aber dafür hatte ihm definitiv die Energie gefehlt.

Ben hatte sich umgedreht und war am Gehen gewesen, als einer der drei Arbeiter ihn von der Plattform aus über den Lärm hinweg angeschrien hatte: „Ey, Sie da! Halt! Ick globe, Sie haben noch nich janz alles einjesammelt, was zu Ihnen jehört, wa?!“

Ben hatte sich kraftlos und zugleich höchst genervt zu den Arbeitern umgedreht. Er hatte doch nur nach Hause gewollt. So ein Dreck, dass er sich auf die ganze Hundesituation eingelassen hatte. Er fluchte einmal mehr über Alessia und die 5 Tage, die er noch mit Alfonso vor sich hatte.

„Was? Ich will nur den Hund einsammeln und weiter. Was meinten Sie grade?“, hatte er dem Arbeiter geantwortet, der nun mit einem von dunkelbraunem Moder getränktem Ärmel, den Arm weit von sich und in Bens Richtung gestreckt auf ihn zugelaufen war.

„Na, Ihr Telefon. Dit jehört doch zu Ihnen, wa?! Sind Sie ja schließlich auch druff.“

Ben war ein paar Schritte in Richtung des Mannes gegangen und hatte nun auch erkannt, dass es sich um ein Handy, handelte, was dieser in der Hand hielt. Ihm war nichts anderes übriggeblieben, als dieses mit seiner noch freien Hand (in der anderen war die Leine mit samt Hund am anderen Ende gewesen) zu fangen, als der schlammverschmierte Mann ihm das Telefon plötzlich zugeworfen hatte.

Völlig perplex, als würde er grade zum ersten Mal ein mobiles Endgerät in den Händen halten, hatte Ben auf dem dreckverschmierten Bildschirm geblickt. Er erinnerte sich, dass er, bis er bereit war den ersten richtigen Gedanken zu fassen nur geistesabwesend die Fotos, die abwechselnd auf dem Bildschirm des Handys auf und abtanzten, angestarrt hatte. Dann war auf einmal seine Großhirnrinde angesprungen und die Fragen prasselten auf sein Bewusstsein ein, wie ein starker Hagelschauer, dessen Eiskörner sich in einen nackten Körper einschnitten.

Dann wurde alles schwarz.

                                                                                   *

Ben konnte sich nicht mehr erinnern, was danach geschehen war. Er lag mittlerweile zusammengekrümmt in einer Ecke in der Dunkelheit und versuchte bei Bewusstsein zu bleiben. Die Luft hier drinnen wurde immer dünner. Er hustete trocken. Er brauchte dringend Wasser. Sein Mund war vollkommen ausgetrocknet. Von Speichel konnte nicht mehr die Rede sein, bei dem sehr viskösen Schleim, den er gelegentlich versuchte runterzuschlucken, der sich aber meist nicht von der Unterseite seiner Zunge lösen wollte. Sein Körper zitterte vor lauter Erschöpfung. Wenn er versuchte seine Position zu wechseln, zuckten grelle Blitze vor seinem inneren Auge auf. Der Schmerz von tausenden Prellungen lähmte seinen Körper. Er stöhnte.

Was war das? War das wirklich grade er gewesen oder war das Geräusch von jemandem anderen gekommen? War die Stimme wieder zurück? Er konnte nichts Weiteres hören, da das andauernde Fiepen in seinen beiden Ohren immer lauter wurde. Auf einmal streifte etwas seinen Arm. Etwas Kaltes. Für einen Moment empfand Ben es als angenehm, einen anderen Reiz wahrzunehmen, als die ewigwährende Hitze und seinen schmerzenden Körper. Als das zweite Mal ihn etwas berührte und diesmal auf seinem Arm liegen blieb, war Ben nicht mehr so ganz überzeugt, ob es sich bei dem Objekt um etwas angenehmes handelte. Es fühlte sich irgendwie klebrig an und bildete er es sich nur ein oder bewegte es sich?

Obwohl, jede Faser seines müden Körpers sich dagegen versuchte zu wehren, hob er den anderen Arm, gerade so weit, dass seine Fingerspritzen das Ding zufassen bekamen. Er fuhr über die rillige Oberfläche der sich windenden Wurst, die er nun zwischen Daumen und Zeigefinger hielt.

Ein Wurm? Nein, dafür war es zu dick. Eine Made! Ja es musste eine Made sein. Angewidert warf Ben, kurz nach seiner Erkenntnis das Viech in die nächstbeste Ecke, möglichst weit weg von ihm.

Was machte verflucht nochmal eine Made auf einem Dachboden?

Ben war zu müde um darüber zu philosophieren. Er kauerte sich wieder zusammen und versuchte erneut zu tun, was viel wichtiger in seiner Situation war: Herausfinden was geschehen war und wie das alles in ein Bild passte. Er schloss die Augen und begab sich an den Ort, der als nächstes in den zeitlichen Abläufen auftauchte, an die er sich noch erinnern konnte.

Er stieg in seinen Erinnerungen an dem Moment ein, an dem das Schwarz sich wieder gelichtet hatte.

                     *

Ben war aufgewacht. Er hatte sich nicht erinnern können, wie er wieder in seine Wohnung gekommen war. Seine Kopfschmerzen hatten sich, auch wenn er das vorher niemals gedacht hätte, dass dies möglich wäre, in ihrer Intensität mindestens verdoppelt.

Ein Blick zu seinem Fußende hatte ihm gezeigt, dass Alfonso zufrieden in seinem Korb lag und schlief. Die Dunkelheit, die von draußen durch das Zimmer gedrungen war, ließ ihn darauf schließen, dass es irgendwann in der Nacht sein musste. Was war in der Zwischenzeit passiert? Ben war schlaftrunken und ohne unnötige Kopfbewegungen zu machen Richtung Küche geschlurft. Die Futterschale von Alfonso hatte noch ein paar Spuren von frischem Fleisch aufgezeigt. Den Hund hatte er also scheinbar versorgt. Wo war sein Handy? Er hatte wissen gewollt, wie lange er geschlafen hatte. Die schmale Sichel des Mondes hatte nur spärlich Licht in die Wohnung geworfen. Er hatte das Licht aber nicht anschalten wollen.

Irgendwie war er auf eine Art paranoid, das wusste Ben. Er empfand es immer als Bedrohung, wenn er das Licht anschaltete, sobald es draußen dunkel wurde und man von draußen einen glorreichen Blick in die jeweilige Wohnung erhaschen konnte. Gerade seitdem das Gerüst an der Hausvorderseite und damit direkt an seinen Fenstern stand, wollte Ben niemanden dazu einladen, von draußen in seine Wohnung schauen, diese auszuspähen oder wohlmöglich dann gleich einsteigen zu wollen. Dafür lud das Gerüst ja mehr als ein. Er wusste nicht, ob es jemals eine Zeit gegeben hatte, an der es nicht an dem Haus gestanden hatte. Der angekündigte Dachausbau hatte sich jetzt schon über eine gefühlte Ewigkeit hingezogen. Vorhänge oder ähnliches kamen für Ben nicht infrage. Er wollte sich nicht die Sicht auf die schönen, hohen doppelt verglasten Altbaufenster nehmen. Also blieb dann meist das Licht einfach aus. 

Ben erinnerte sich, nachdem er die gesamte Wohnung nach seinem Handy abgesucht hatte, sich ein Glas kaltes Leitungswasser genommen zu haben. Er musste dafür immer den Hahn voll aufdrehen und das Wasser einige Sekunden laufen lassen, bis sich für ihn eine angenehme Trinktemperatur eingestellt hatte. Mit dem Glas Wasser in der Hand hatte er sich an die zwei Fenster im Wohnzimmer gesetzt und hinaus in die Dunkelheit geblickt. Der Himmel war wolkenverhangen gewesen. Keine Sterne zu sehen. Nur der Mond blitzte ab und zu durch die Wolken. Die Blätter des Baumes vor dem Haus hatten leicht im Wind geweht. Die alten Straßenlaternen hatten schmale Schatten auf die Gehwege gemalt. Eigentlich ganz friedlich, hatte Ben gedacht. Wäre da nicht diese Lücke in seinem Tagesablauf und sein Telefon verschwunden gewesen.

Ben hatte verzweifelt auf seine Hände geschaut, die wieder mit dem nervigen Zittern angefangen hatten, das er bereits von seinem Körper kannte. Auf einmal war ihm ein leises, aber deutlich vernehmbares Klingeln aufgefallen. War das nur eine Fantasie seines angeschlagenen Kopfes und ein Fehlsignal seiner Ohren? Es hatte sich angehört, wie das generische Klingeln eines Telefons. War das vielleicht seins?

Sein Handy hatte allerdings dieses klassische Gitarrengebimmel, eines großen Konzerns mit einem Apfel als Logo als Klingelton. Außer für die Nummer seines Chefs, dachte Ben. Für den, hatte er einen anderen Sound ausgewählt, damit er immer wusste, wann dieser anrief und sich dementsprechend vorbereiten konnte.  Ben war aufgestanden und bewegte sich im Raum auf und ab, um die Richtung, aus dem das Klingeln kam, besser orten zu können. Schließlich war er wieder an den Fenstern angekommen und hatte das rechte geöffnet. Der leichte Wind hatte die Plane, die sich am Gerüst befand, immer wieder gegen jenes schlagen lassen, was ein dumpfes Geräusch produziert hatte. Das Klingeln war aber immer noch zu hören gewesen, war sogar lauter geworden. Ben hatte den Kopf aus dem Fenster gestreckt. Es musste sich irgendwo hier draußen befinden, hatte er gedacht.

Wider seine Ängste, jemand könnte seine kurze Abwesenheit und das geöffnete Fenster als Einstiegsmöglichkeit nutzen, hatte sich Ben mit einem Satz auf das Gerüst geschwungen. Es hatte leicht gewackelt, als er sich aus der Hocke aufgerichtet hatte. Das Klingeln war noch lauter geworden. Aber noch war er nicht ganz bei der Quelle des Geräuschs angekommen. Es musste irgendwo noch weiter über ihm sein. Er hatte sich zwei weitere Ebenen des Gerüsts nach oben gekämpft. Mit jedem bisschen Bewegung, war die Stützverstrebungen des Gerüsts an der Fassade hin und her geschabt. Ben hatte inständig gehofft, niemanden seiner Nachbarn zu wecken bzw. auf seine nächtliche Erkundungstour aufmerksam zu machen. Sein Kopf hatte mit tosender Kraft gedröhnt. Bens Atem war noch etwas schneller gegangen, als er plötzlich auf der höchsten Ebene des Gerüsts stand und in die Tiefe geblickt hatte. Plötzlich hatte er es gesehen. Die Quelle des unaufhörlichen Klingelns. Das Handy. Er hatte das Telefon entdeckt. Es hatte ziemlich weit am Rand des Gerüsts gelegen und mit jedem weiteren Vibrieren, das mit dem Klingeln einherging, sich ein Stückchen weiter Richtung Kante bewegt.

Das Gerät war verstummt, genau in dem Moment, in dem er es in die Hand genommen hatte. Er war schnell zu dem Schluss gekommen, worauf der fremde Klingelton bereits hingedeutet hatte. Es war nicht das, das er vermisste. Nicht seins. Aber dennoch hatte er es erkannt. Es war das Telefon gewesen, dass der Typ aus der Spree gefischt und ihm in die Hand gedrückt hatte. Das Telefon mit den Fotos von ihm darauf. Den Fotos, von denen er gedacht hatte, sie würden nicht existieren. Sie hatten ihn gezeigt. In der Nacht vor vielen vielen Jahren. Die Nacht, die er so gerne aus seinem Lebenslauf hätte löschen wollen. Sie hatte ihn sein Leben lang verfolgt. Keine Therapie, kein Umzug hatte je geholfen zu vergessen. Der Mensch, der sich das Sprichwort, dass die Zeit angeblich alle Wunden heilen würde, ausgedacht hatte, gehörte laut Ben posthum entwürdigt.

Er hatte mit dem Daumen auf das Display getippt. Neben der Uhrzeit, 2:43 Uhr, wurde ihm ein Anruf in Abwesenheit angezeigt. Ben brauchte keinen Code, um das Telefon zu entriegeln. Der Besitzer schien jemand zu sein, der auf Sicherheit wenig gab. Oder hatte er genau das gewollt? Dass jeder Zugang zu den Daten und Fotos hatte? Oder sogar, dass genau er Zugang dazu hatte? Sollte er, Ben, das Telefon finden? War das alles nur eine Inszenierung, der er gerade auf den Leim ging? Wie konnte das Telefon überhaupt die Zeit im Wasser überlebt haben? Die Fragen, die ihn zuvor schon einmal beschäftigt hatten, waren erneut auf Ben eingeprasselt.

Er hatte sich bis zum Anrufmenu vorgetippt und gesehen, dass eine Mailboxnachricht eingegangen war. „Du bist du, bist du, bist du. Das denkst du jedenfalls. Ich werde dir die Wahrheit zeigen. Bis sie dich zerfrisst. Dich auslöscht.“, hatte eine Stimme gelacht. Ben war wie erstarrt mit dem Handy am Ohr stehen geblieben. Der Wind hatte um seinen Oberkörper, der nur mit einem T-Shirt bedeckt gewesen war, geweht. Ihm war ein Schauer über den Rücken gelaufen. Nicht wegen des Windes. Auch nicht unbedingt wegen der verstörenden Worte, die die Stimme von sich gegeben hatte. Sondern viel mehr, wer die Worte gesagt hatte. Es war seine eigene Stimme gewesen.

Fluchtartig war Ben die schmalen Sprossen hinabgesprungen. Von Stockwerk zu Stockwerk, bis er endlich wieder vor seinem geöffneten Fenster stand. Drinnen angekommen, hatte er panisch jenes geschlossen und hätte am liebsten die nicht existenten Vorhänge zugezogen. Verdammt sei er und sein beschissener Einrichtungsgeschmack! Er wurde bestimmt gerade von diesem Irren beobachtet! Scheiße, Scheiße, Scheiße!

Ben war so schnell es ging durch das Zimmer den Flur entlang zur Wohnungstür gesprungen und hatte das Schloss überprüft. Alles fest verschlossen. Sogar das Sicherheitsschloss und die Kette waren vorgelegt, so wie er es immer machte, bevor er ins Bett ging.

Wieder im Wohnzimmer angekommen, hatte ihm ein Blick zum Hundekorb verraten, dass Alfonso immer noch schlief. Sein ruhiges gleichmäßiges Atmen hatte Ben ein kleines bisschen von seiner Panik nehmen können. Er musste das Telefon auf weitere Spuren des eigentlichen Eigentümers untersuchen, um dessen Intention für diesen ganzen Mist herauszufinden. Ein Teil von Bens Gehirn hatte gehofft, dass sich da jemand einfach nur einen dummen Spaß erlaubte oder er einfach in einem Albtraum feststeckte.

Die restlichen Stunden bis zum Sonnenaufgang hatte er dann damit verbracht das Telefon zu durchforsten und seine Optionen für die nächsten Schritte abzuwägen. Beim Handy hatte er nur herausfinden können, dass es sich um ein Wegwerftelefon handeln musste. Ansonsten war er erfolglos geblieben. Keine eingespeicherten Kontakte, keine Nachrichten, keine weiteren Fotos. Nichts.  Es schien, als würde der Eigentümer nicht entdeckt werden wollen.

Ihm war erneut die Galle hochgestiegen, als er die alten Fotos mit der jüngeren Version seiner selbst durchgegangen war. Bei seinen Optionen war ihm klar gewesen, dass kein Polizist in dieser gottverdammten Stadt ihn jemals ernst nehmen, eher als paranoiden Drogenabhängigen abstempeln würde. Seine ganze Hoffnung hatte schließlich auf Dr. Halverson gelegen. Bei dem Therapeuten hatte er ohnehin ein Termin an diesem Tag. Wer, wenn nicht er, würde Ben dabei beraten können, was als Nächstes zu tun war.

                                                                                 *

Ja. Das hatte Ben scheinbar wirklich geglaubt. Und nun war er hier.

Langsam schien sein Körper sich an die Umstände der Hitze und stickigen Luft gewöhnt zu haben. Es war, als wäre er auf eine Art abgestumpft. Die Schmerzen, die er die ganze Zeit empfunden hatte, nahm er nur noch kaum wahr. Wie, als wären sie von einem großen Schwamm aufgesaugt worden, waren sie kaum mehr greifbar für sein Gehirn.

Plötzlich war da ein Rascheln. War sie wieder da? Woher kam das Geräusch? Ben probierte seinen aufgedunsenen Augen zu öffnen, was ihm nur teilweise gelang. Irgendwas in dem Raum hatte sich verändert. Er konnte jedoch nicht erkennen was. Die Ungewissheit ließ seinen Puls erneut in die Höhe schnellen.

Ben nahm all seine verbleibenden Kräfte zusammen und versuchte mit Hilfe der Wand hinter sich, in eine sitzende Position zu gelangen. Sein Körper gehorchte mehr oder minder, sodass er schließlich, wie ein nasser Sack in sich zusammen gesunken an die Wand gelehnt dasaß.

Sein Gleichgewichtsorgan musste irgendeine Fehlermeldung an sein Gehirn melden, da alles sich um ihn herum, wie auf einem Kettenkarussell, zu drehen begann.

Das Rascheln wurde lauter. Und auf einmal war da seine Stimme, die zu ihm sprach. Schon wieder. Nur diesmal war es seine Mailboxansage: „Sie sprechen mit der Mailbox von Ben Stachkamp. Ich bin leider derzeit nicht zu erreichen. Bitte hinterlassen Sie Ihre Nachricht nach dem Piep.“ Dann…Rauschen. Als wären Ameisen unter seiner Haut, begann Bens kompletter Körper zu kribbeln. Er war in aller höchster Alarmbereitschaft. „Ben, Ben ich bin’s Kurt.“ Sein Chef hörte sich nervös und gestresst an. „Hör mal, ich versuch dich jetzt schon seit Ewigkeiten zu erreichen. Es kann doch nicht sein, dass so ne Story über dich erzählt wird, mit der Beweislage und du schweigst einfach. Wie so n feiger Sack. So hätte ich dich echt nicht eingeschätzt. Bist einfach untergetaucht?! Ich fasse es nicht, Ben, wie konntest du das die ganze Zeit verschweigen. Wie konntest du das der Zeitung antun. Wie konntest du MIR so etwas antun, verdammt! Man! Pädophilie? Geht’s noch du Irrer? Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich öffentlich von dir, als Person und deinen Taten zu distanzieren. Das ist ein scheiß Eklat, Ben. Ruf mich an, sobald du das hörst! “ Ein Klicken in der Leitung, dann war das Gespräch unterbrochen.

Was verflucht war das denn bitte?, ging es Ben durch den Kopf. „Hallo, ist da wer? Was soll der Scheiß?“

Statt eine Antwort zu bekommen, wurde das Rauschen wieder lauter. Erneut die Mailboxansage; der Piep. Dann erneut Maczinek: „Den Job bist du natürlich los.  Ich denke das versteht sich von selbst, du widerlicher Perverser! Wenn du nicht sowieso schon längst im Knast hängst, nachdem du endlich mit deiner scheiß Versteckscharade aufgehört hast! Du bist erledigt, Ben. Der Zug ist abgefahren. Und weißt du was?! Du brauchst mich auch nicht mehr anrufen. Ich bin durch mit dir! Wir sind es alle!“

Rauschen. Stille. Wie nach dem ersten Anruf. Komplett fassungslos saß Ben da. Wenn er die Kraft dazu gehabt hätte, hätte er am liebsten geschrien. Konnte er aber nicht. Es klang mehr, wie ein verzweifeltes Wimmern. Tränen der Wut füllten sich an seinen Unterliedern, liefen die Wangen hinab, was ihn wiederum noch wütender machte. Er ein Perverser? Was für ein kranker Mist war das denn? Er musste sofort hier raus und das klären. Es richtigstellen. Das bisschen Würde, das wohlmöglich von ihm übriggeblieben war, retten. Sein Atem ging schnell. Zu schnell. Er fühlte durch den eingetretenen Adrenalinstoß die Lebensgeister zeitweise zurückgehren und hämmerte gegen die Wand, an die er bis eben noch gelehnt hatte. „Lass mich verdammt nochmal raus hier!!! Was soll der Kack! Hilfe! Hiiiiilfe! Hiilf…“

Zu mehr war er nicht mehr im Stande. Das Hyperventilieren bei der eh schon knappen Luft gab ihm den Rest. Das Schwarz kam diesmal nicht plötzlich, sondern sickerte langsam, aber zielsicher von Rand seines Blickfeldes Richtung Mitte. Er fiel. Und fiel immer tiefer in das Nichts.

                                                                                 *

Ben sah sich von oben. Auf sich herab, wie er vor der verschlossenen Tür von Dr. Halversons Praxis gestanden hatte. Die Leine in der linken Hand. Alfonso neben ihm. Die Sonne brannte auf seinen Nacken. Er schwitze. Verdammte Klimaerwärmung! Er hatte mehrfach geklingelt. Hatte mehrfach geklopft. Mehrfach angerufen. Nichts hatte sich geregt, geschweige jemand geöffnet oder abgehoben. Die Praxis in der Pankower Stadtvilla hatte im Dunkeln gelegen. Dabei hatte er doch einen Termin gehabt. Hatte er sich geirrt? Nein. Er war sich sicher gewesen. Das alles war irgendwie eigenartig. Das war noch nie passiert. Falls Dr. Halverson etwas dazwischengekommen wäre, hätte er sich bei Ben gemeldet. Da war er sich sicher. Er war noch zweimal ums Haus gegangen, wobei er sich etwas wie ein potentieller Einbrecher gefühlt hatte. Es war so ein Gefühl gewesen. Vielleicht hätte er ja einen Hinweis auf die Abwesenheit des Doktors finden können. Dem war nicht so gewesen.

Nachdem er eine Dreiviertelstunde vergebens vor der Psychotherapeutischen Praxis verbracht hatte, hatte er sich entschlossen zu einer anderen Taktik überzulaufen. Sein Journalistenhirn war nun eingeschaltet. Weg das Unverständnis und die Verzweiflung. Auf dem Rückweg nach Hause hatte Ben einen IT-Typen namens Karl angerufen, den er schon häufiger, wenn er mit legalen Mitteln nicht weitergekommen war, angehauen hatte. Karl war ein Meister in seinem Fach und konnte ohne weitere Spuren zu hinterlassen, Telefone orten, haken und sonst noch was damit machen, von dem Ben wenig verstand, es aber jedes Mal seinen Zweck erfüllt und er es nie bereut hatte auf Karls Talente zurückzugreifen.

„Hey Ben, von dir hab ich ja schon länger nichts mehr gehört! Wie geht’s dir? Ach, was frag ich. Was kann ich für dich tun?“, erinnerte sich Ben an Karls beschwingte Stimme.

Er hatte ihn in kurzen Sätzen damit beauftragt zwei Nummern zu orten und herauszufinden, wer sich am anderen Ende der Displays befand. Es war zum einen: die Nummer seines eigenen Telefons gewesen. Zum anderen: Halversons Privatnummer, von der er Ben einmal aus angerufen und Ben diese in weiser Voraussicht abgespeichert hatte. Zwar mit einer anderen Intention, aber das war Ben so was von egal. Zu guter Letzt hatte er Karl noch damit beauftragt, das Fundtelefon, von dem Ben ihn aus angerufen hatte, zu durchforsten. Jeder kleinste Hinweis, der auf den eigentlichen Eigentümer hindeuten würde, war für Ben Gold wert. Er konnte es sich nicht weiter leisten unwissend zu bleiben, wenn jemand es auf ihn abgesehen hatte.

Dann war da wieder eine große Leere in seinen Erinnerungen, was seine Aktivitäten des restlichen Tages betraf.

Er konnte sich erst wieder an den Moment erinnern, an dem er abends vor lauter Frust auf seinem Sofa gesessen hatte. In seiner Hand das Glas. Auf dem Tisch vor ihm die geöffnete Flasche hochprozentigen Alkohols. Er hatte gerade wieder seinen Mund an den Rand seines Glases angesetzt, als das mysteriöse Fundtelefon zu klingeln begann. Ben war leicht zusammengezuckt und hatte etwas von der kostbaren Droge, die ihn betäuben hätte sollen, verschüttet.

Zögernd hatte er das Gespräch entgegengenommen, mit der Angst, es könne sich nicht um Karl, sondern wieder um eine weitere Nachricht seiner eigenen Stimme handeln. Es war Karl gewesen. Aber was hatte er gesaaag…?

Ben fühlte, wie ein Unterdruck an seinem ganzen Körper zog. Wie ein Sog, der ihn seiner Ohnmacht beraubte und ihn mit einem Mal in die abstruse Realität zurückkatapultierte.

                                                                                  *

Als er die Augen diesmal öffnete, hatte sich etwas Grundlegendes verändert. Es fiel gleißend helles Licht direkt auf ihn hinunter. Ben versuchte sich zu orientieren. Die Panik stieg in ihm hoch und ergoss sich in einem Schwall über sein Bewusstsein. Es schien, als sei die Lichtquelle direkt über ihm. Der restliche Raum lag immer noch im Dunkeln, sodass nur ein geringer, um ihn befindlicher Radius von Licht erfüllt war.

Und noch etwas war anders. Sein Köper. Besser gesagt, die Position, in der sich sein Körper befand.

Er lag nicht mehr, wie bisher auf dem Boden. War das Glas?

Ja, er blickte wie durch eine Scheibe auf den Rest des Raumes, in dem er sich die ganze letzte Zeit befunden hatte. Ein Blick an ihm herunter ließ ihn erfahren, dass er tatsächlich in einer Art Glaskasten gefangen war. Die Decke des Kubus hatte breite Schlitze, sodass fürs erste genug Luft zu ihm dringen würde. Trotzdem konnte er nur schwerlich atmen, was diesmal vermutlich weniger an der stickigen Luft, mehr an seinem Riechorgan lag. Er musste irgendetwas auf die Nase bekommen haben. Es fühlte sich an, als würden gleich zwei dicke Blutspfropfen die Nasenlöcher versperren. Reflexartig hatte er den Mund zur besseren Sauerstoffaufnahme geöffnet. Blitze zuckten vor seinem inneren Auge auf, als er seinen Kiefer bewegte. Was war nur passiert und warum hatte er nichts mitbekommen? Konnte man so tief überhaupt in Ohnmacht fallen, dass man keine physischen Impulse mehr wahrnahm, auch wenn sie stark gewesen sein mussten? Oder war er wieder betäubt worden? Bewegungen seiner Finger signalisierten ihm, dass ein Fremdkörper in dem Handrücken der linken Hand stecken musste.

Verkrustetes Blut hing an seinen Nasenflügeln, ebenso, wie auf seinem Shirt. Ben versuchte sich zu bewegen, um weitere Erfahrung über seine Umgebung zu gewinnen. Jede kleinste Bewegung schmerzte noch mehr, als zuvor. Ein Blick seine Beine hinab verriet ihm, dass er knöcheltief in dunkelbraunem Matsch steckte. Es gab ein schmatzendes Geräusch von sich, als er versuchte seine Zehen zu bewegen.

Er probierte nur durch Augenbewegungen in die jeweiligen Richtungen Klarheit zu bekommen. Er war an ein Metallkreuz gefesselt. Metallringe mit einer Art Dornen, die auf seinen Körper gerichtet waren, fixierten die Gelenke der Gliedmaßen; waren auch um seine Stirn und seinen Hals angebracht, was Bewegungen, ohne sich selbst dadurch zu zerstören, unmöglich machte. Ben musste den ersten Impuls, heftig an seinem Gefängnis zu rütteln, unterdrücken. Plötzlich hörte er ein Schreien. Ein sehr verzweifeltes, wütendes Schreien. Er schrie. Durch das Glas um ihn herum wurde das Geräusch gedämpft. Es klang befremdlich, gar nicht nach ihm.  Ben bemühte sich vorerst ruhig zu bleiben. Er musste Kräfte schonen und versuchen einen klaren Kopf zu behalten, wenn er jemals wieder aus dieser Situation entkommen wollte. Am besten lebend. Der süßlich modrige Geruch, der ihn die ganze Zeit begleitet hatte, war stärker geworden. Nun, glaubte er, hatte er immerhin die Pampe zu seinen Füßen als die Quelle dessen identifizieren können.

Bens auditives System war in Habachtstellung. Es wartete geradezu darauf, gleich wieder die Schwingung der tiefen weiblichen Stimme wahrzunehmen, mit der er bereits Bekanntschaft hatte machen müssen.

Doch da kam nichts.

Stattdessen nahm Ben eine Bewegung am oberen Blickrand wahr, etwa 3 Meter von ihm entfernt. Er kniff die Augen zusammen, um es besser erkennen und einordnen zu können. Selbst die kleinen, um die Augen befindlichen Muskeln dafür anzuspannen, war ein Kraftakt und sendete einen stechenden Schmerz an sein Hirn. Er zuckte unweigerlich zusammen. Ein neuer Schmerz wurde seinem Gehirn präsentiert. Diesmal kam er von seiner Stirn. Ein Blutstropfen rann ihm zwischen den Augenbrauen entlang über die Nase und tropfte auf seine Oberlippe. Der modrige Geruch war verschwunden; ein metallischer hängen geblieben.

Mit einem Knarzen entfaltete sich vor ihm etwas von der Decke. Eine Plane, wie er ausmachte. Diese rollte sich weiter nach unten aus und blieb ca. einen Meter vor dem Boden hängen. Oder vielmehr eine Leinwand? Ben verstand den Sinn dahinter erst, als er ein kontinuierliches Rattern vernahm, das Licht über ihm mit einem Mal erlosch und ein heller Lichtkegel mit wechselnden Bildern auf der weißen Fläche projiziert wurde. Ein Beamer.

Kurz nachdem die Bilder erscheinen waren, kam auch noch Ton dazu. Es handelte sich um eine Nachrichtenreportage. Der Sprecher faselte irgendetwas auf Italienisch, was Ben nicht verstand. Am unteren Bildrand wurde leicht zeitverzögert ein deutscher Untertitel eingeblendet. Irgendetwas von einem Unfall. Jemand war die Klippen ins Meer gestürzt. Der Körper nicht gefunden. Mehr konnte Ben dem Text nicht entnehmen. Er war nicht schnell genug die einzelnen Buchstaben zu sinnhaften Worten zusammen zusetzten. Angesichts seiner Situation verständlich, wie er sich eingestand.

Es gab einen harten Cut und auf einmal, waren die Nachrichten auf Deutsch, was die Informationsaufnahme für Ben deutlich vereinfachte. Es ging um einen grausigen Fund, der im Berliner Grunewald gemacht worden war. Ein Jogger hatte einen Koffer gefunden, in dem sich die zerstückelten Überreste eines Leichnams befunden hatten.

Wieder ein Cut. Dieselbe Nachrichtensendung, nur scheinbar ein paar Tage später. „Die von vor ein paar Tagen in einem Koffer im Grunewald gefundenen Überreste konnten von der Polizei identifiziert werden.“, tönte eine junge Frauenstimme. „Es handelt sich bei der Leiche um einen Psychotherapeuten aus Berlin-Pankow. Zu dem wie und warum der mysteriösen Todesumstände wollte sich die zuständige Behörde noch nicht äußern.“

Wieder ein Cut. Diesmal war die Pause bis zum nächsten Bild länger, was Ben für eine für ihn verständliche Zusammensetzung der Umstände nutzen konnte. War das der verschwundene Dr. Halverson? Nein, so viel Zufall konnte es nicht geben oder? Andererseits wurde ihm das hier ja gerade nicht ohne Grund gezeigt. Also musste es auch kein Zufall sein, sondern stand vielleicht direkt im Zusammenhang, mit dem, was ihm gerade widerfuhr? Aber was hatten er und Dr. Halverson denn schon gemeinsam, außer ihre gemeinsamen Therapiesitzungen?

Für weitere Gedanken war keine Zeit mehr, denn der nächste Beitrag hatte begonnen und setzte Ben mit einer enormen Kraft in weitere Aufruhr. Alles in ihm begann zu schreien, als er sich selbst erkannte und seinen Namen in der Kombination mit den Worten: geschändete Kinder, abgetaucht und Großfahndung hörte.

Er biss die Zähne so hart aufeinander, bis er das Gefühl hatte, sein Kiefergelenk wurde explodieren. Der Schmerz zog sich seine Zahnreihe entlang, hoch zu den Schläfen, seinen Nacken hinunter, die gesamte Wirbelsäule entlang, wo er in jedem Segment seiner Wirbel ein erneutes Schmerzensfeuer entfachte, das bis in seine Extremitäten schoss. Von den innerlichen Qualen fast zerfressen, nahm Ben im Augenwinkel eine Bewegung wahr. Ein Schatten, der über den Boden tanzte. Die abartige Präsentation schien, während er mit sich selbst gekämpft hatte, zu einem Ende gekommen zu sein, denn die Leinwand lag im Dunkeln und das Licht über Ben schien wieder auf ihn hinab.

„Jaja, so schnell kann‘s gehen, oder Ben? Von jetzt auf gleich bricht die eigene Welt zusammen und da ist nichts, was man dem entgegenstellen könnte… Es freut mich zu sehen, dass du dich bereits mit deiner neuen Umgebung vertraut gemacht hast. Du wirst in diesem Leben auch keine andere mehr zu Gesicht bekommen, fürchte ich.“, gab eine männliche Stimme von sich.

Ein Mann? Er war die ganze Zeit davon ausgegangen, dass es hier mit einer Frau zu tun hatte. Waren sie zu zweit? Schlagartig hatte Ben die Hoffnung, dass er jemals wieder etwas anderes als diesen Raum sehen würde, verlassen. Es war, als wäre seine ohnehin schon aussichtslose Lage noch aussichtsloser geworden.

 „Ich hoffe, dir hat unsere kleine Präsentation gefallen. Um deine Nachbarin tut es mir irgendwie leid. So ein süßes Ding! Naja, um manche Sachen kommt man halt nicht herum. Der Doc war da irgendwie ein bisschen zäher gewesen. Aber auch diese Komponente, deines armseligen Lebens ließ sich schließlich doch gut eliminieren.“, fuhr der Verrückte fort.

„Waaas? Was haben Sie mit ihnen gemacht?“

„Das hast du doch gerade gesehen, oder schlägt Egoismus jetzt auch auf die Augen? Das wäre mir neu, um ehrlich zu sein.“, sagte die Stimme mit übertriebenem Zynismus.

Ben fletschte die Zähne. Brachte aber kein Ton heraus. Wieder liefen Tränen sein Gesicht hinab. Sie stürzte mehr, als das sie liefen.

Den Tod der Menschen, mit denen er in der letzten Zeit am meisten Kontakt gehabt hatte, noch nicht ganz realisierend, probierte Ben sich zu konzentrieren. Kannte er die Stimme? Sie musste zu jemandem gehören, der in etwa in seinem Alter war. Er war sich relativ sicher, ihr noch nie vorher begegnet zu sein. Aber man konnte sich schließlich auch irren. Besonders in so einer Situation.

Er sah das Bein eines Holzstuhls in einer Ecke des Raumes und, dass darauf jemand sitzen musste. Den Rest der dazugehörigen Person, lag allerdings im Schatten, sodass Ben keine Chance hatte zu erkennen, mit wem es hier genau zu tun hatte.

„Du brauchst dich nicht bemühen, einen Blick auf mich zu werfen. Wir wollen doch nicht, dass du dir noch weitere Wunden zufügst, oder?“ Der Typ sprach ruhig, langsam, mit einem süffisanten Lächeln in der Stimme. „Ich bin mir sicher, dass dir mein Gesicht mehr als bekannt ist. Schieben wir also das Geglotze auf einen passenderen Zeitpunkt, ja?“, fuhr er fort. „Nun erstmal zu deinen Fragen. Dir werden doch bestimmt tausende Fragen auf der Zunge brennen. Komm spuck sie aus! Jetzt ist die Chance mich auszufragen, bevor wir beide für immer verschwinden.“

Ben räusperte sich. Sein Mund hätte mehr als nur eine Analogie mit einer Wüste überstanden. Er hatte Durst. So starken Durst, dass es weh tat. Den Fakt versuchend zur Seite zu schieben, brachte er heraus: „Warum bin ich hier?“ Ben hatte die ganze Zeit schon überlegt, was er seinem Entführer als erstes an den Kopf werfen würde. Statt eine wutschnaubende Tirade von sich zu lassen, hatte er sich für Option B entschieden. Eine konstruktive Frage, dessen Antwort er schon die ganze Zeit hatte herausfinden wollen.

 „Tja, das ist eine essentielle Frage, Ben. Aber, ich denke, die könntest du dir auch selber beantworten. Du bist jetzt eigentlich am Ende des kleinen Spiels angekommen. Du hast alle Hinweise gesammelt, alle Stationen durchlaufen. Du wärst jetzt dran alle Puzzleteile zusammen zufügen…“ Die Stimme schien zu überlegen. Seufzte dann und fügte hinzu: „Aber ich will mal nicht so sein. Viel Spaß bei der Geschichte…,liebe Kinder.“ Er wollte eigentlich ansetzten die Geschichte zu erzählen. Anstatt dessen aber hörte es sich zunächst so an, als würde er in schallendes Gelächter ausbrechen und sich zugleich verschlucken. „Hahaha. Weißt du das ist ziemlich lustig, weil…“ Er prustete los: „…du jetzt in der Öffentlichkeit dazu verschrien bist kleinen Kindern in den Schritt zu greifen.“

Ben konnte es nicht fassen. Was für ein krankes Schwein! Ihm stieg erneut die Galle hoch.

„Ok Spaß beiseite.“, fuhr er fort, nachdem er sich einigermaßen wieder beruhigt hatte. Es geht los.“

Ben versuchte den Kerl nicht anzuschreien. Seine Impulse zu unterdrücken, zählte normaler Weise nicht gerade zu seinen Stärken. Doch diesmal klappte es.

„Alles begann vor 19 Jahren, als ein damals 18-Jähriger in einer nordrhein-westfälischen Kleinstadt eine damals 21-Jährige über den Haufen fuhr.“

Ben schluckte heftig. Auch wenn, er keinen Speichel dafür mehr produzieren konnte. Es konnte nicht wahr sein. Er hatte die ganze Zeit noch irgendwie gehofft, die ganze Handy Geschichte mit den Fotos von damals hätten nichts mit der ganzen Sache hier zu tun. Dabei hatte er es die ganze Zeit schon gewusst. Er hatte es nur nicht wahrhaben wollen.

„Sie war damals nur für einen kurzen Besuch in ihrer Heimatstadt bei ihren Eltern und ihrem kleinen Bruder, Theo, gewesen. Ein Wochenende mal die Familie wieder besuchen, bevor sie wieder für ihr Ethnologie Studium nach Köln zurückgemusst hätte. Aber statt eines Wochenendtrips wurde es zu ihrem Todesurteil.“

Ben hatte das Mädchen damals nicht getötet. Das wusste er. Alma war ihr Name gewesen. Diesen Namen würde er nie wieder vergessen können. Sie hatte schwere Hirnschädigungen davongetragen und hatte ins künstliche Koma versetzt werden müssen. Aber er hatte sie nicht umgebracht! Vielleicht war doch nicht er gemeint, das mit dem Handy und den Fotos nur ein dummer Zufall, aber er konnte seine Hoffnungen selbst nicht glauben.

Mittlerweile sprach der Kerl mit mehr Wut in der Stimme, aber trotzdem irgendwie ruhig weiter: „Sie war ein Herz von einem Menschen, konnte keiner Fliege etwas zu leide tun und dennoch musste sie wegen eines egozentrischen Vollidioten ihr Leben verlassen und sich in sich selbst zurückziehen. Ihr Körper hatte zu viel einstecken müssen. Die hunderten Knochenbrüche und Schädigungen der inneren Organe, waren zu viel für ihr Bewusstsein.“ Er räusperte sich. Hatte er Tränen in der Stimme? Ben war sich nicht sicher.

Er hatte einen Kloß im Hals, als der Typ weitersprach: „Die Jahre vergingen und sie blieb in sich selbst verschwunden. Bis an einem Tag im Juli vor 4 Jahren. Da war dann auch ihr Selbst völlig verschwunden. Die Ärzte konnten keine Hirnströme mehr feststellen und so entschloss sich der Rest der zerstörten Familie nach 15 Jahren, 3 Monaten und 27 Tagen die Geräte abschalten zulassen und ihre Hoffnungen mit ihrer Tochter, ihrer Schwester zu begraben. Es war das erste Mal nach vielen Jahren, dass die Familie an einem Tisch saß und dann noch einer Meinung war. Der Verlust der Tochter, der Schwester hatte sie vor vielen Jahren entzweit. Der Tod von ihr sie dann für eine Millisekunde wieder vereint, bevor alle wieder in ihre armseligen Leben zurückkehrten und in sich starben. Die Mutter hatte ihren Kummer fortwährend im Alkohol ertränkt. Der Vater hatte sich eine neue Familie besorgt. Doch als er merkte, dass diese das Loch nicht füllen würde, das seine alte hinterlassen hatte, fing er an gegenüber seiner neuen Frau und den Kindern gewalttätig zu werden. Der Sohn, ja der Sohn, der 4 Jahre jünger als seine Schwester war, stürzte sich in die Drogen. In jede. Jedes Pulver. Jede Pille. Aber keine konnte seinen Schmerz stillen.

Er war hauptberuflich drogenabhängig, nebenberuflich Hacker. Er hackte sich in unterschiedliche Betriebssysteme verschiedener Firmen und Länder ein. Hatte sich einen Namen in der Szene gemacht, hatte viele Kunden, die ihm viel Geld zahlten. Aber dies konnte auch seine Wunde, die der Verlust der Schwester gebracht hatte, nicht heilen. Er versuchte sich immer wieder das Leben zu nehmen, aber scheiterte jedes Mal an seiner Feigheit…“

Eine Pause, dann: „Gefällt dir die Geschichte soweit, Ben?“

Ben wollte etwas entgegnen, konnte es aber nicht. Seine Augen brannten. Er hätte so gerne etwas gesagt, was diesen Irren nochmal davon abgebracht hätte, weiter mit seinem Plan zu verfahren.

„Aber bevor ich weitererzähle und das Wichtigste fast ganz vergesse: ich muss dich ja noch mit unserer kleinen Maschinerie hier vertraut machen. Damit es für dich nicht so langweilig wird, während ich weitererzähle, wird alle paar Minuten ein bisschen Schlamm, Asche, Erde und die sich darin befindenden Insekten über deinen Kopf durch die Schlitze des Glaskastens ergießen.  Die Mischung hat eine ganz besondere Bedeutung, aber das wirst du erst später erfahren. Du wirst über die Zeit, Stück für Stück lebendig begraben. Und damit ich es dir nicht zu leicht mache, aus der Welt zu scheiden, werde ich dir nach unserer kleinen Konversation noch eine Infusion legen. Diese wird vor allem erstmal Wasser, aber auch die wichtigsten Nähstoffe beinhalten, um es ein paar Tage noch live mitzubekommen, wie du immer mehr und mehr dem Totenreich näherkommst. Faszinierend, nicht?“

Der Typ war echt komplett geistesgestört. Und mit jeder Sekunde, Minute mehr in der sich Ben in dessen Gefangenschaft befand, verringerten sich die Chancen für ihn das Ganze lebendig zu überstehen.

Er spürte plötzlich etwas auf seinem Kopf. Oder war das nur Einbildung? Nein, etwas kroch über sein verschwitztes, strähniges Haar. Sehr langsam zwar, aber es hatte bald die Kante zu seiner Stirn erreicht. Es fiel und landete irgendwo unterhalb von Bens derzeitigem Blickfeld.  

Die erste Ladung der angekündigten Mischung traf Ben hart. Der Druck hätte seinen Körper eigentlich nach unten pressen müssen. Dank der stacheligen Fixierungsringe, tat er das aber nicht. Stattdessen bohrten sich jene tiefer und tiefer in sein Fleisch. Das Blut lief jetzt nur so an ihm herunter. Ben hatte die Orientierung über die Anzahl der Wunden verloren, die sich soeben schlagartig vermehrt hatten. Sein qualvolles Schreien hielt den Wahnsinnigen nicht davon ab, mit seiner Geschichte genüsslich fortzufahren.

„So, das Beste in unserer Geschichte kommt jetzt: Der Typ, der durch seine Rücksichtslosigkeit für den Tod des Mädchens verantwortlich war, wurde vor Gericht nur nach Jugendstrafrecht bestraft. Ein paar Sozialstunden hatte er aufgebrummt bekommen. Ein bisschen Müllsammeln für das Zerstören vierer Leben!“ Die letzten Sätze hatte er voller Verachtung ausgespuckt.

Ben versuchte Luft in seine Lungen zu bekommen, aber das Korsett, dass seinen Brustkorb zusammenschnürte, wurde immer enger. Er hatte die ganze Zeit über den Zusammenhang zwischen ihm und dem Eigentümer des Telefons gerätselt. Nun lag es direkt vor ihm. Nach den Erzählungen klar auf der Hand.

„Warum erst jetzt?“, platzte es plötzlich aus Ben heraus. „Warum die Rache erst jetzt?“

„Ha…ja, das ist wieder einmal eine sehr gute Frage…“, kam es aus der Dunkelheit zurück.

Wieder fiel, in etwa die Menge eines 10 Liter Eimers an Asche, Schlamm und schleimigen Insekten, auf Ben hinab. Er hustete, aber probierte trotz der scheußlichen Umstände, seine Konzentration auf die gesprochenen Worte zu lenken.

„Wie dir sicherlich schon aufgefallen sein dürfte, handelt es sich bei meiner Person um den Bruder in unserer kleinen Geschichte. Ja, ich hätte dich damals zwar am liebsten bei der nächsten Gelegenheit umgebracht, allerdings fehlte mir die dafür nötige Kraft und die nötigen Ressourcen. Ich wollte dich langsam und Stück für Stück auseinandernehmen, bis nichts mehr von deiner Person übriggeblieben wäre.  Des Weiteren hatte es zunächst den Anschein, als würde sich mein Leben in den Jahren nach Almas Tod ändern, was ich nicht direkt aufs Spiel setzten wollte. Ich fing als Softwareingenieur in einem großen Tech-Unternehmen an, welches federführend in der Verbesserung von Künstlichen Intelligenzen sowie der Integration jener in den Arbeitsalltags ist. Du hast ja bereits Bekanntschaft machen dürfen…“

„Wie? Was? Womit Bekanntschaft machen dürfen?“ Ben hatte sich eigentlich auf einen erneuten Monolog gefreut, in dem er wenig antizipieren hätte müssen und war nun um so mehr überrascht, als ihm der Gesprächsball wieder zugeworfen worden war. Alles tat weh. Er konnte einfach nicht mehr.

„Na, du hast doch schon mit ihr gesprochen. Alma, Schwesterherz, bitte erklär du ihm, wer du bist!“

Alma? Flippte der Typ jetzt komplett aus? Bei dem Punkt der Geschichte waren sie doch bereits gewesen. Ben verstand nur Bahnhof. Die Frauenstimme meldete sich mit: „Klar, Bruderherz, alles, was du möchtest. Ich habe dir ja immerhin mein zweites Leben zu verdanken.“

Ben war nun völlig perplex und wusste nicht, was er entgegnen hätte sollen.

Die Stimme wandte sich zu ihm: „Liebster Mörder, ich bin Alma. Die Alma, die du umgebracht und am Straßenrand hast liegen lassen.“

„Das ist nicht möglich!“, schrie Ben mit allerletzter Kraft in die Leere des Raumes.

„Oh doch Ben.“, richtete sich nun wieder der Mann ihm zu. „Ist sie nicht toll? Ich habe die Stimme meiner Schwester digital altern lassen und sie so konzipiert, dass sie auch Gefühle, wie Rache oder Wut verspüren kann. Außerdem kann sie selbständig handeln, auf Daten aus Millionen von Datenbanken jederzeit zugreifen. Sie hat eine höchst intelligente Software in sich, die auf dem freien Markt noch nicht verfügbar ist. Selbstverständlich befindet sie sich nicht direkt hier im Raum, sie hat sich nur mit den hier vorhandenen Lautsprechern verbunden. Der riesige Rechner auf dem sie sich befindet, steht an einem geheimen Ort, sodass sie auch nach unser beider Ableben existieren und selbständig agieren kann.“

„Das kann nicht sein, soweit ist die Technik doch noch lange nicht.“, flüsterte Ben kraftlos.

Der Mann lachte schallend. Sie stieg, zu Bens steigender Verblüffung, mit ein.

„Nein, nein! Die Technik ist sogar mehr als weit und sogar noch viel weiter! Ihr Unwissenden verschließt nur schon seit so langer Zeit die Augen, dass ihr langsam glaubt eure Realität ist die Richtige. Ich bin davon überzeugt, dass in Kürze die Künstlichen Intelligenzen dieser Welt die Entscheidungen treffen und uns Menschen letztendlich überflüssig machen werden. Aber das ist ein anderes Thema. Denn unsere Geschichte geht noch weiter!“

Wow, der Typ war krank, sehr krank. Wenn Ben dieser Fakt nicht schon früher aufgefallen wäre, dann spätestens in diesem Moment. Ein Psychopath. Er hatte es hier klar mit einem Psychopaten zu tun. Ben wusste, aufgrund seiner Erfahrungen mit allerhand Kriminalfällen, dass eine solche Begegnung meist weniger gut für deren Opfer endete. Er hatte sich so langsam damit abgefunden. Mit seinem Schicksal.

„Nun lass uns doch wieder zu deiner eigentlichen Frage zurückkommen: Dem warum jetzt?“, holte der Mann Ben wieder aus seinen Gedanken.

„Ich war also erfolgreich in dem was ich tat und wurde nach 1 ½ Jahren zu einer größeren Dependance des Unternehmens nach Berlin versetzt. Dort lernte ich relativ schnell die Liebe meines Lebens kennen. Er war der Chef eines großen Immobilienunternehmens…“

„Klingelt es nun endlich bei dir Ben? Nicht?? Dann lass mich dir noch ein kleines bisschen weiter auf die Sprünge helfen: Sein Name war…“

Er legte eine kurze, dramatische Kunstpause ein, über die sich Ben unter anderen Umständen mehr als nur beschwert hätte.

„…Matthias Vanderhoven!“

Ben schloss die Augen. Atmete aus. Das Zittern seiner Hände hatte mit einer unfassbaren Wucht eingesetzt. So stark war es bisher noch nie gewesen. Mit jeder einzelnen Bewegung bohrten sich die kleinen Dornen der Fixierungsringe an seinen Gelenken mehr in das Fleisch. Er schrie, deutete dabei eine Kopfbewegung nach hinten an, die er direkt bereute, da sich die Zacken sowohl an Hals, als auch an Stirn längs durch die feinen Kapillaren der ersten Hautschichten schnitten. Die Bewegung wieder rückgängig machen hätte bedeutet, dass jene dasselbe Muster auf ihm, nur in der entgegengesetzten Richtung hinterlassen würden. Das warme Blut rann von seiner Stirn hinab in seine Augen, was seine Sicht mehr als minderte. Seine Schläfen pulsierten im Takt seines abnormen Herzschlages. Am Hals, da war er sich sicher, mussten die Dornen ein ähnliches, fast noch schlimmeres Bild hinterlassen haben. Ihm wurde schwindelig. Er war sich sicher, dass er das hier nicht überleben würde. Nicht sein Körper, nicht seine Reputation als respektierter Journalist, nicht seine Würde.

Der Typ schien über den Anblick, den Ben bot, sehr zufrieden zu sein. „Es freut mich, dass dir das Hören des Namens mindestens genauso viel Schmerz bereitet, wie mir. Wenn du so weiter machst, ist mein Plan dich langsam und qualvoll sterben zu lassen, fast überflüssig.“, schmunzelte er.

 „Zu deiner weiteren Information, Matthias und ich hatten uns, kurz bevor du mit deiner scheiß Enthüllungsstory kommen musstest, verlobt. Fürs heiraten war uns keine Zeit mehr geblieben, bevor er seine Haftstrafe im geschlossenen Vollzug antreten musste. Und danach war auch keine Zeit mehr dafür geblieben.“

Auf einmal brach ein tosender Lärm auf sie ein. Es prasselte laut aufs Dach. Regen, dachte Ben kurz abgelenkt.

„Und nun kommen wir zum Schlussakkord in unserem kleinen Intermezzo.“, stieg der Psychopath wieder ein.

„Matthias hat Höllenqualen wegen dir gelitten, du Sau!“, schrie er Ben, wie aus dem Nichts an. „Er wurde von den anderen Mithäftlingen regelmäßig fertig gemacht, verprügelt, misshandelt. Er konnte so nicht weiterleben. Er brachte sich nach 3 Monaten seiner Haftstrafe um.“

Ben war erstarrt. Wagte nicht zu atmen. Diese Information war neu für Ihn. Um ehrlich zu sein, hatte es ihn aber auch nicht weiter interessiert, was auf diesem Schwein geworden war, den er zurecht hinter Gitter gebracht hatte.

Ein hysterisches Lachen brachte Ben dazu, seine verklebten Augen zu öffnen, allerdings nur leicht, zu schmalen Schlitzen. Das Blut von seiner Stirn begann langsam zu trocknen. Weniger frisches lief nach.

Er war aus dem Schatten herausgetreten und zeigte sich Ben, indem er auf den Glaskasten langsam zuschritt und einen halben Meter vor diesem stehen blieb. Entweder, um Ben einen Blick durch seine blutverschmierten Augen auf ihn zu erlauben oder, um sein sich selbstzerstörendes Kunstwerk aus der Nähe zu bestaunen. Ben tippte auf Letzteres.

Erst dachte er, durch den Schleier der tosenden Schmerzen, seinen Augen nicht mehr trauen zu können. Dann kam kurz die Möglichkeit einer Spiegelung für ihn in Betracht, um die ihm nicht erklärbare Erscheinung rechtfertigen zu können.

Er sah sein Gesicht auf dem etwas größeren, aber auch schmaleren Körper eines anderen sitzen. Gegen seine eigentliche Intention, nicht wieder den Fehler zu machen und sein Kopf zu bewegen, riss Ben sein Gesicht voller Fassungslosigkeit nach vorne. Die Schmerzen waren unerträglich. Aber noch viel unerträglicher in dem Moment war für Ben, nicht verstehen zu können, was vor sich ging. Er blickte fassungslos in sein Gesicht auf dem Hals des anderen Menschen.

Er brachte nicht mehr, als ein gluckerndes „Waaaa..?“ heraus. Sein Mund war voller Blut gelaufen. Er hatte keine Idee, von wo es diesmal kam.

„Haha du solltest dich grade sehen, Ben. Du siehst echt grad so unfassbar scheiße aus!“

„Wi…?“, entgegnete Ben mit schmerzverzerrter Miene.

„Kein Problem, ich weihe dich in den Plan des Ben Stachkamps ein. Ich werde als du ins Gefängnis gehen. Ich werde einiges erleiden müssen. Aber das ist mir egal. Was habe ich schon zu verlieren? Es ist meine Art zu sterben, langsam, qualvoll, so wie Matthias sterben musste. Und schließlich, wenn es gar nicht mehr geht, werde ich hängen. Ich werde von der Decke baumeln, wie ein Schwein am Haken.“

Er lächelte mit leicht glasigen Augen, seinen leeren Blick in die Ferne gerichtet.

Stellte sich der Typ jetzt ernsthaft noch als ein Märtyrer dar? Ben konnte es nicht fassen und hätte am liebsten seine Gedanken kundgetan. Aber da spielte sein angeschlagener Körper nicht mehr mit. Es war, als hätte je mehr sein Körper an Kraft verloren, sein Bewusstsein umso mehr an Raum und Sensitivität gewonnen. Aber es war so gut wie vorbei, seine Chancen bei null.

„Und du wirst dann vermutlich immer noch hier sein. In deinem gläsernen Käfig. Grade so am Leben gehalten, aber dennoch langsam erstickend. An den Gebeinen und der Asche derer, die du getötet hast. Die Maden und Würmer, die sich bereits durch die Gedärme meiner Schwester und meines Verlobten gefressen haben, werden auch bald ihren Spaß an deinem verrottenden Fleisch haben. Wieder lachte er. Man, was für ein pathetischer Tod!“

Ben konnte nicht anders, als sich den erneuten Würgegeräuschen hinzugeben, die seine Kehle in Kombination mit seinem Magen machte.

„Während deine Wohnung bestimmt schon längst durchsucht wurde, um im Zuge der Fahndungsaktion dich aufzuspüren, konnte man sicherlich nur noch die armseligen Überreste des Hundes deiner toten Nachbarin finden. Um ihn tat‘s mir irgendwie auch leid. Aber er musste nicht lange leiden. Ich habe die Schlaftabletten aus deinem Bad unter sein Futter gemischt.“

Ben hatte Alfonso völlig vergessen. Seine geschlossenen Augenlieder flatterten. Seine Augäpfel rollten unruhig unter ihnen hin und her.

„Deine Leiche wird man hingegen hier oben niemals finden. Wer untersucht schon den Dachboden desselben Hauses, nach dem Vermissten?“ Ben konnte es kaum glauben, er befand sich also die ganze Zeit einfach nur 3 Stockwerke über seiner eignen Wohnung und wartete auf den langsamen Tod.

Es wäre fast komisch gewesen, wenn die Situation nicht so ernst gewesen wäre.

„Der Verwesungsprozess“, setzte Theo wieder ein, “…wird durch die Wärme und die vielen kleinen Helferlein schnell vonstatten gehen. An den Geruch habe ich auch gedacht. Der Raum hier ist besonders gut isoliert.“

Er bewegte sich, dem Klang seiner Stimme zu urteilen, an die eine Seite der Glasbox.

Ben spürte, wie sich eine Kälte von seinem linken Handrücken aus, auf in seinen Körper machte und sich dort verteilte. Der Psycho musste die Infusion angehängt haben.

„Ich werde Matthias nun folgen. Auf seine, auf unsere Art. Damit wir dasselbe erlebt haben, bevor wir von der Bühne dieser Welt abgetreten sind. Fröhliches Sterben, wünsche ich dir, Ben!“

Ben war auf einmal allein. Allein in einer kaputten Hülle. Wo am Anfang noch Überlebenswille gewesen war, herrschte nun gähnende Leere. Er wusste, dass sie beide es mehr als verdienten zu sterben. Deshalb unterschrieb er in aller Stille den Pakt mit dem Teufel und damit begann seine Fahrt ins Ungewisse.

One thought on “Gesichtsverlust

Schreibe einen Kommentar