MichelleMarpleHänsel und Gretel

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In der Dunkelheit leuchtet etwas auf. Ich kneife die Augen zusammen, will einfach nur schlafen. Wieder durchbricht ein helles Leuchten die Dunkelheit in meinem Schlafzimmer. Dazu kommt jetzt noch ein Vibrieren. Ich halte mir die Ohren zu, aber es hilft nichts. Mit dem Schlaf ist es vorbei.

Ich taste nach der Nachttischlampe, schalte sie ein. Das gleißende Licht blendet mich. Stöhnend vergrabe ich meinen Kopf in den Händen. Warte, bis ich die Augen wieder öffne. Nur langsam stellt sich das Bild vor mir scharf. Die braunen Wände, die wir erst vor Kurzem gestrichen haben. Der hohe Kleiderschrank, der rechts von mir wie ein Ungetüm steht. Die drei Fenster, die den Blick auf das nächtliche Bloomington, Illinois freigeben. Und die leere Bettseite links von mir. Irritiert ziehe ich die Augenbrauen zusammen. Wo ist Ben? Doch dann kommen die Erinnerungen zurück. Die Erinnerung an unseren Streit gestern Abend. Die Erinnerung, wie er wütend aus der Wohnung stürmt. Die Erinnerung, wie ich mich allein schlafen lege.

Während ich meinen Gedanken an gestern Abend nachhänge, durchbricht wieder ein Vibrieren die nächtliche Stille. Mein Blick huscht durch das Zimmer. Wo kommt das bloß her?

Da, endlich, entdecke ich es. Halb unter dem Bett guckt etwas hervor. Mittlerweile hat das Vibrieren wieder aufgehört, dafür blinkt der Gegenstand auf.

Ich schwinge meine Beine aus dem Bett und knie mich hin. Vorsichtig greife ich nach dem Ding, das mich so unsanft aus dem Schlaf gerissen hat. Es ist ein Handy.

Überrascht drehe ich es hin und her. Es gehört weder mir noch Ben. Zumindest habe ich es noch nie gesehen. Also wie kommt es in unser Schlafzimmer?

In dem Moment blinkt es wieder auf. Ich erstarre. Denn was dort auf dem Display erscheint, lässt das Blut in meinen Adern gefrieren. Es ist ein Foto. Heimlich aufgenommen, dem Winkel nach zu urteilen. Ein Foto, das jemanden zeigt, der mir nur zu bekannt ist.

Plötzlich greift jemand von hinten an meine Schulter. Und ich schreie. Schreie und schreie.

„Ssshhht, Isla. Ich bin es nur! Deine beste Freundin Olivia! Hattest du wieder diesen Albtraum?“

Ihre Worte dringen nur langsam zu mir durch. Ich schlage die Augen auf. Mein Herz wummert in meiner Brust. Langsam erkenne ich, wo ich bin. In dem Gästezimmer in Olivias Wohnung, das ich seit mittlerweile einem Jahr bewohne.

Dem Himmel sei Dank. Es war nur ein Traum.

„Guten Morgen, Olivia.“ Ich drehe mich zu ihr um.

Sie lächelt mir mitfühlend entgegen. „Wieder eine schlechte Nacht, hm?“

Ich nicke kurz. Zu mehr bin ich nicht in der Lage.

Sie streichelt mir über meinen Arm. Leise flüsternd sagt sie – eher zu sich selbst als zu mir: „Kein Wunder, wenn man bedenkt, was für ein Tag heute ist.“

Mit einem Räuspern schüttelt sie kurz den Kopf und blickt mich dann wieder mit ihrem typischen Alles wird gut-Lächeln an. „Werd ganz in Ruhe wach. Danach machen wir uns dann auf den Weg zu unserem Ausflug. Ich warte in der Küche auf dich.“

Mit diesen Worten lässt sie mich zurück. Ich drehe mich auf den Rücken und starre an die Decke.

Olivia hat recht. Ich weiß genau, wieso dieser Traum mich genau heute Nacht wieder heimgesucht hat.

Heute vor einem Jahr ist mein Verlobter Ben verschwunden. Niemand weiß, was mit ihm passiert ist. Die Polizei hat keine Spur.

Olivia war in den letzten zwölf Monaten immer an meiner Seite. Dabei hat sie die ganze Sache auch sehr mitgenommen. Schließlich war Ben ihr Bruder. Trotzdem durfte ich bei ihr einziehen. In der Wohnung, in der Ben und ich zusammengewohnt haben, habe ich es nach seinem Verschwinden nicht mehr ausgehalten. Und so wurden Olivia und ich beste Freundinnen. Verbunden durch ein gemeinsames Schicksal, wie sie immer sagt. Durch die gemeinsame Hoffnung, Ben wiederzufinden.

Sie hat sich nach diesem einen speziellen Tag sofort voller Tatendrang in die Suche nach ihm gestürzt. Hat jeden Stein zwei Mal umgedreht und auch nicht aufgegeben, als die Polizei keinerlei Hinweise finden konnte. Immer noch wird sie jede Woche im Polizeirevier vorstellig und hakt nach, ob es etwas Neues zu ihrem Bruder gibt.

Am Anfang habe ich noch versucht, sie zu unterstützen. Aber irgendwann konnte ich nicht mehr. Sie hat es mir nicht übelgenommen. Hat gesagt, sie könnte verstehen, wenn mir das alles zu sehr wehtut. Dabei habe ich es belassen.

Von der Nacht noch gerädert, schlage ich schließlich die Decke zurück und schlurfe ins Bad. Ich hoffe darauf, dass eine kalte Dusche meine Lebensgeister weckt. Gerade heute kann ich es mir nicht erlauben, unaufmerksam zu sein.

Eine halbe Stunde später geselle ich mich zu Olivia in die Küche. Sie stellt mir eine Kaffeetasse vor die Nase, die ich dankbar annehme. Der herrlich bittere Duft nach meinem lebensnotwendigen Gebräu erfüllt die gesamte Küche. Ich atme tief ein und setze mir die Tasse an die Lippen. Nach dem ersten Schluck fühle ich mich endlich wieder halbwegs wie ein Mensch.

Olivia und ich frühstücken schweigend. Was ungewöhnlich ist. Denn normalerweise plappert meine beste Freundin immer. Beunruhigt betrachte ich sie etwas genauer. Irgendetwas ist heute anders. Ihre Pupillen sind leicht geweitet. Auch ihr Atem geht schneller als sonst. Sie ist doch nicht etwa…nervös?

Wobei – dieser Tag geht bestimmt auch an ihr nicht spurlos vorüber.

Trotzdem ist mir ihr Schweigen unangenehm. Es stellt richtiggehend die Härchen in meinem Nacken auf. Also beschließe ich, sie mit einer unverfänglichen Frage aus der Reserve zu locken.

„Wie kommt es, dass du heute schon so früh wach warst? Normalerweise bist du doch die Langschläferin von uns beiden.“

Mein kläglicher Versuch einer witzigen Bemerkung bleibt von ihr völlig unbemerkt. Sie scheint tief in Gedanken versunken zu sein. Mein Unbehagen verstärkt sich.

„Olivia?“

Erst jetzt scheine ich sie aus ihren Überlegungen zu reißen.

„Ja?“

„Ist alles okay? Du wirkst ein bisschen durcheinander heute.“

„Was? Nein. Es ist alles okay. Kein Grund zur Sorge.“

Schnell steht sie auf, räumt ihr Geschirr in die Spüle und fängt damit an, Wasser einzulassen. Dabei sieht sie mich keinen Moment lang an.

Mit hochgezogenen Augenbrauen beobachte ich sie dabei, sage aber nichts.

Olivia hasst Geschirrspülen. Normalerweise übernehme ich das immer für uns beide.

Sie ist heute definitiv durch den Wind. Aber wenn sie nicht darüber reden will, dann ist das so. Ich werde heute einfach noch vorsichtiger sein als ohnehin schon.

Ich beschließe, das Thema zu wechseln.

„Also: Was für einen Ausflug hast du für heute geplant?“

Olivia überlegt schon ewig, was wir heute unternehmen sollen. Sie meint, dass wir beide dringend Ablenkung brauchen. Um heute nicht noch mehr an das erinnert zu werden, was uns schon das gesamte letzte Jahr beschäftigt hat. Ich bezweifle ehrlich gesagt, dass uns das helfen wird. Aber trotzdem habe ich sie machen lassen. Ich bin gut darin, mich zu fügen. Wenn es ihr Wunsch ist, heute etwas zu unternehmen, dann machen wir das eben.

Sowieso ist mir gerade alles egal. Ich spüre schon wieder, wie eine bleierne Müdigkeit von mir Besitz ergreift. Die Nacht sitzt mir doch stärker in den Knochen, als ich dachte.

Olivia lächelt abwesend. Meidet aber weiter meinen Blick.

„Das ist eine Überraschung.“

Mir fällt es schwer, die Augen offen zu halten. Sogar meine Zunge fühlt sich schwer an.

„Ü-über-rasch-sch…“

Ich bekomme das Wort kaum über meine Lippen. Mein Kopf fühlt sich auf einmal an wie in Watte gepackt. Auch alle Geräusche kommen plötzlich nur noch gedämpft bei mir an.

Ich kneife die Augen zusammen. Was ist denn auf einmal los? Als ich die Lider wieder aufschlage, sind alle Umrisse verschwommen. Ich schwanke auf meinem Stuhl. Verzweifelt greife ich nach der Tischkante, um mich festzuhalten.

In meinem Hinterkopf läuten alle Alarmglocken. Irgendetwas stimmt nicht.

Meine Zunge fühlt sich fremd in meinem Mund an. Ich kann sie kaum bewegen. Trotzdem versuche ich es.

„O-o-li-i-i-vi-aaa…“

„Shhhhh… Ganz ruhig…“

Wie aus dem Nichts taucht Olivias Gesicht vor mir auf. Ich erschrecke. Es ist völlig verzerrt. Sieht aus wie eine Fratze.

Mein Atem beschleunigt sich. Mit letzter Kraft versuche ich, sie von mir weg zu schieben. Aber meine Muskeln erschlaffen. Ich sacke in mir zusammen. Mein Sichtfeld verschwimmt. Da spüre ich ihren heißen Atem an meinem Ohr. Höre ihre säuselnde Stimme.

„Lass dich einfach fallen, Isla. Hör auf, dich dagegen zu wehren. Schlaf ein. Schlaf ein. Schlaf ein.“ 

Immer und immer wieder dringen diese beiden Worte an mein Ohr.

„Schlaf ein. Schlaf ein. Schlaf ein.“

Ich nehme nichts anderes mehr war als ihre Stimme.

„Schlaf ein. Schlaf ein. Schlaf ein.“

Ich habe das Gefühl, in ein Meer aus Dunkelheit zu tauchen. Eine Schwärze, die mich vollends verschluckt.

Und ich falle. Falle, bis nichts mehr existiert.

Außer einem dumpfen Pochen. Einem Pochen, das immer stärker wird. Bis es irgendwann ein Hämmern ist.

Kopfschmerzen. Ich habe Kopfschmerzen.

Ich will meine Hand heben, um mir damit über die Stirn zu reiben. Werde aber jäh gestoppt. Irgendetwas hält mich fest. Ich versuche es noch ein mal. Wieder mit dem gleichen Ergebnis. Was ist denn das?

Ich reiße die Augen auf. Und kneife sie sofort wieder stöhnend zusammen. Jetzt fühlt mein Kopf sich an, als wäre er in der Mitte gespalten.

Ich warte ein paar Sekunden ab. Der Schmerz verebbt nur langsam. Wird wieder zu einem Pochen.

Vorsichtig – dieses Mal nur blinzelnd – starte ich einen neuen Versuch, die Augen zu öffnen. Und sehe mich um.

Der Raum, in dem ich mich befinde, ist abgedunkelt. Nur ein schmaler Lichtstreif fällt durch die zugezogenen Gardinen. Soweit ich das erkennen kann, ist der Raum so gut wie leer. Rechts von mir, neben der Tür, steht ein Stuhl. Darauf liegt irgendetwas. Ansonsten ist hier drin nichts.

Da dringt ein leises Flattern an mein Ohr. Ich wende meinen Kopf in die Richtung. Und halte inne.

Das Geräusch kam von der Wand mir gegenüber. Erst jetzt erkenne ich, dass da etwas hängt. Ich kneife die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Es sieht aus wie…Papierfetzen. Nein, Fotos. Fotos und jede Menge Zeitungsausschnitte. Zwischendurch ein paar handschriftlich beschriebene Zettel, die aussehen, als wären sie aus einem Notizbuch herausgerissen worden.

Ich will näher ran, um lesen zu können, was da alles steht. Doch wieder hält mich etwas zurück.

Ich lasse den Blick an mir herunterwandern. Und schnappe nach Luft.

Ich sitze auf einem Stuhl. Gefesselt. Meine Beine sind mit mehreren Kabelbindern an den Stuhlbeinen fixiert. Auch in meine Handgelenke schneidet das harte Plastik von Kabelbindern. Zumindest vermute ich, dass es sich hierbei auch um Kabelbinder handelt. Sie sind nämlich hinter meinen Rücken gebunden.

Ich versuche, mich zu befreien. Aber ich kann mich keinen Zentimeter bewegen. In meinem Kopf beginnt es zu arbeiten. Was zur Hölle passiert hier?

Plötzlich öffnet sich die Tür rechts von mir. Ich reiße den Kopf herum und starre die Person an, die im Türrahmen erscheint.

„Olivia?“

Sie betrachtet mich. Ihre Miene ist schwer zu deuten.

„Du bist endlich wach. Sehr gut. Dann können wir ja beginnen.“

Sie tritt in den Raum und schließt die Tür hinter sich. Das Klacken des Türschlosses hallt in meinem Kopf wider.

Mit weit aufgerissenen Augen starre ich sie an. „Olivia – was ist hier los? Mach mich ab. Ich habe keine Ahnung, was das alles soll.“

Wieder zerre ich an den Fesseln, sorge so aber nur dafür, dass sie sich noch mehr in mein Fleisch schneiden.

„Oh, keine Angst, Isla. Du wirst gleich wissen, was hier los ist.“

Ihre Stimme klingt gefährlich. Wieder sehe ich ruckartig zu ihr hin.

Olivias Augen glitzern in der Dunkelheit. Sie sieht beinahe wahnsinnig aus.

„Ich warte schon so lange auf diesen Tag. Endlich kann ich dich für alles büßen lassen.“

Alle meine Alarmglocken schrillen.

„Olivia, was redest du denn da? Büßen lassen? Wofür?“

„SEI STILL!“

Ihr Kreischen zerreißt mir beinahe das Trommelfell. Sofort ist das Hämmern in meinem Kopf wieder da.

„Du glaubst wohl, du könntest dein krankes Spiel weiterspielen, was, Isla? Ooooh nein. Nicht mit mir. Ich habe dich durchschaut.“

Olivia läuft vor mir auf und ab. Dabei landet ihr Blick immer wieder auf der Wand mit den Zeitungsartikeln und Notizen.

Ich folge ihr mit den Augen. Ihre Bewegungen wirken fahrig. Ein Teil ihres Zopfes hat sich gelöst, die Strähnen stehen in alle Richtungen ab. Das scheint sie aber nicht zu interessieren. Sie ist gerade in ihrem ganz eigenen Film.

„Ein Jahr lang habe ich recherchiert. Habe jede seiner Bewegungen an diesem einen Tag nachverfolgt. Habe mit all seinen Bekannten, Freunden und Kollegen gesprochen. Mehr als ein Mal stand ich kurz davor, aufzugeben. Aber dann…“ Sie lacht auf. Das Geräusch lässt mir die Haare zu Berge stehen.

„Dann, endlich, habe ich es erkannt. Eigentlich bin ich immer und immer wieder mit der Nase drauf gestoßen worden. Aber ich wollte es einfach nicht sehen, schätze ich.“

Sie zuckt mit den Schultern, den Blick unverwandt auf die Wand gerichtet.

Dann dreht sie sich zu mir um. Langsam. Als würde sie diesen Moment voll auskosten. Ihre irren Augen legen sich auf mich.

„Du. Der einzige Zusammenhang bei allem bist du.“

Sie kommt auf mich zu. Instinktiv versuche ich, vor ihr zurück zu weichen. Aber da ist sie auch schon bei mir.

„Du hast wohl geglaubt, ich wäre ein naives Dummchen, dem du alles erzählen kannst. Aber welche Frau hört denn auf, nach ihrem Verlobten zu suchen, es sei denn… Sie weiß bereits, dass es völlig umsonst ist?“

Mittlerweile ist sie mir so nah, dass mir ihre Spucke ins Auge fliegt. Ich kann sogar ihren Herzschlag hören, der viel zu schnell pocht.

„DU bist für sein Verschwinden verantwortlich!“

Triumphierend grinst sie mir mitten ins Gesicht.

Ich hingegen starre sie mit offenem Mund an.

„Was?“

Schnaubend stößt sie sich von meinem Stuhl ab und stellt sich mit verschränkten Armen vor mich hin.

„Jetzt tu doch nicht so. Ich bin hinter dein Geheimnis gekommen, du kleines Miststück. Du bist eine Mörderin!“

Alles in mir versteift sich.

Das kann doch nicht wahr sein.

„Olivia, du bist völlig verrückt geworden! Na los, mach mich ab. Dann können wir in Ruhe reden.“

Wieder lacht sie hämisch auf.

„War ja klar, dass du alles abstreitest. Aber ich habe Beweise.“

Sie geht zu ihrer Wand und deutet auf verschiedene Zettel.

„Du wurdest als letztes mit ihm gesehen. Du hast den Aufzeichnungen nach als letztes mit ihm telefoniert. Dein Wagen war nach seinem Verschwinden plötzlich in der Werkstatt.“

Immer hektischer zeigt sie zwischen verschiedenen ihrer Aufzeichnungen hin und her. Ich versuche, mein schnell klopfendes Herz unter Kontrolle zu bekommen.

„Das ist nicht dein Ernst. Natürlich habe ich als Letzte mit ihm telefoniert. Ich war schließlich seine Verlobte!“

Sie ignoriert meinen Einwurf.

„Die Frage ist nur, wieso du es getan hast.“  

Nachdenklich blickt sie auf ihre Wand. Sie scheint völlig vergessen zu haben, dass ich auch hier bin. Gefesselt. Auf einem Stuhl.

„Olivia, ich habe keine Ahnung, was in dich gefahren ist. Aber -“

„Moment!“ Wie von der Tarantel gestochen fährt sie zu mir herum.

Sofort klappe ich meinen Mund zu. Bei ihrem Blick läuft mir ein kalter Schauer den Rücken hinab.

Den Zeigefinger auf mich gerichtet, steht sie da wie eine Statue. Ich kann richtiggehend sehen, wie es in ihrem Kopf rattert.

„Du hast `war` gesagt.“

Mit großen Augen starre ich zurück. „Ich… Was?“

„Du hast gerade `Ich war schließlich seine Verlobte` gesagt. Nicht `Ich bin`. Sondern `Ich war`.“

Plötzlich macht sie mit erhobenen Händen einen Satz auf mich zu.

„Damit hab ich dich!“

Eine Schrecksekunde lang glaube ich, dass sie mir die Hände um den Hals legen und mich umbringen wird. Aber dann fängt sie völlig irre an zu lachen. Dabei taumelt sie ein paar Schritte zurück.

Ich beobachte sie mit Argusaugen. Meinen eigenen wummernden Herzschlag ignorierend. Ich muss sie besänftigen. Irgendwie. Um hier lebend rauszukommen.

Olivia klatscht immer noch völlig euphorisch in die Hände.

„Damit hab ich dich. Ich fass es nicht. Du hast dich selbst verraten. Nach dem ganzen Versteckspiel in den letzten zwölf Monaten. Ein einziges falsches Wort. Und endlich hab ich dich.“

Sie schüttelt den Kopf, ein leichtes Lächeln auf den Lippen.

Ich habe sie völlig falsch eingeschätzt. Diese Frau ist brandgefährlich. Wie habe ich das nicht merken können?

Das ist schon das zweite Mal, dass ich mich in einem Menschen getäuscht habe.

Da richtet sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich. Ihr Lächeln verblasst. Es wird zu einem Zähnefletschen.

„Das heißt, ich werde endlich meinen Bruder rächen können. Ich habe tatsächlich die Richtige.“

Ohne mich aus den Augen zu lassen, bewegt sie sich seitlich Richtung Tür. Nein, sie geht zu dem Stuhl, der danebensteht. Greift nach dem Gegenstand, der darauf liegt.

Ein Messer.

Sie umschließt es fest, während sie sich langsam auf mich zu bewegt. Wie eine Raubkatze, die ihre Beute anvisiert.

Da breche ich in Tränen aus.

„Es war ein Unfall, ich schwöre es!“ Ein Schluchzen dringt aus meiner Kehle. „Ich wollte das nicht tun. Doch nicht bei Ben!“

Da, ein kurzes Aufblitzen in ihren Augen, als ich seinen Namen erwähne. Sie hat sich sofort wieder unter Kontrolle, aber ich habe es trotzdem gesehen. Also rede ich weiter.

 „Ich wollte ihm nicht wehtun. Wirklich nicht! Aber an dem Abend – da ist alles außer Kontrolle geraten.“

Mir laufen weiter Tränen über die Wangen. Olivia ist stehen geblieben, das Messer immer noch angriffsbereit in ihrer rechten Hand. Sie zögert.

Das ist alles, was ich brauche.

Zitternd hole ich Luft. „Wir haben uns gestritten. Mal wieder. Aber dieses Mal war es schlimm. Richtig schlimm. Weil ich was herausgefunden habe. Ben… Er hat mich verfolgt.“

Olivias Kopf macht einen Ruck. „Was?“

„Ich habe ein Handy gefunden. Er hat es in unserem Schlafzimmer fallen lassen, ohne es zu merken. Darauf waren Bilder. Von mir. Heimlich aufgenommen. Immer von Tagen, an denen ich nicht mit ihm zusammen war. Er hat mich gestalkt. Weil er mir nicht vertraut hat.“

Olivias Augen sind zu Schlitzen verengt. Ihre Schultern heben und senken sich gefährlich schnell.

„Du lügst.“

Ihre Stimme ist nur ein Zischen. Trotzdem kann ich einen Hauch Zweifel in ihr wahrnehmen. Daran klammere ich mich.

„Ich wollte es am Anfang auch nicht glauben. Aber ich habe es gesehen. Mit eigenen Augen. Der Albtraum, den ich ständig habe?“

Ich schließe kurz die Augen, auch wenn alles in mir danach schreit, Olivia keine Sekunde unbeobachtet zu lassen.

„Es ist immer derselbe. Immer der Moment, wo ich das Handy finde. Wo ich die Bilder das erste Mal sehe. Wo ich spüre, das etwas unwiderruflich in mir kaputt geht.“

Wieder dringt ein Schluchzen aus meiner Kehle.

„Ben war krankhaft eifersüchtig. Als ich ihn auf das Handy angesprochen habe, ist er an die Decke gegangen. Er hat mich bedroht. Mich geschlagen. Mich eine dreckige Hure genannt.“

Bei meinen Worten zuckt sie zusammen.

„Dann hat er mich gegen die Wand gedrückt. So hart, dass mir schwarz vor Augen wurde. Ich habe keine Luft mehr bekommen.“

Bei der Erinnerung daran wird mein Hals eng. Trotzdem zwinge ich mich, weiterzusprechen. „Irgendwann hat er mich wieder losgelassen. Und ich habe nach dem Erstbesten gegriffen, das ich zu fassen bekam. Eine Vase. Die habe ich dann… Die habe ich…“

Ich spreche die Worte nicht aus. Ich sehe Olivia an, dass sie auch so weiß, was ich sagen will.

„Als er danach auf dem Boden lag, reglos, da habe ich Panik bekommen.“

„Warum hast du nicht die Polizei gerufen?“

„Ich konnte einfach nicht klar denken. Ich hatte gerade meinen Verlobten umgebracht!“

Olivias Lippen öffnen sich, als meine Worte zu ihr durchdringen.

„Mörderin!“, zischt sie. Wieder umklammert sie das Messer fester.

„Du hast alles kaputt gemacht. Und hattest dann nicht mal den Mut, zu deiner Tat zu stehen. Ich hab dich ein ganzes Jahr bei mir wohnen lassen, verdammt! Weil ich dachte, du vermisst ihn genau so wie ich! Dafür wirst du büßen!“

Sie hebt den Arm. In ihren Augen ist ein Sturm aus Wut, Trauer und Wahnsinn gepaart mit Tränen zu erkennen.

„Nein, warte! Ich kann dich zu ihm hinführen!“

Mitten in der Bewegung hält Olivia inne. Ein paar Sekunden, die sich wie eine Ewigkeit anfühlen, starrt sie mich nur an.

„Was soll das heißen?“

„Ich kann dich zu ihm bringen. Dorthin, wo ich ihn begraben habe.“

Sie überlegt. Weiß nicht, ob sie mir trauen kann. Aber das hier ist meine letzte Chance.

„Woher weiß ich, dass das kein Trick ist?“

Ich hole tief Luft. „Du hast mich in der Hand. Ich habe vor dir gerade ein Geständnis abgelegt. Wenn wir bei ihm sind, kannst du mich immer noch töten.“ Ich muss schlucken. „Aber ohne mich wirst du nie erfahren, wo Ben abgeblieben ist.“

Damit habe ich sie. Das spüre ich. Sie sieht mich zwar noch einige Augenblicke lang misstrauisch an. Aber schließlich nickt sie.

„Also: Wo müssen wir hin?“

Mit meinem Kopf deute ich auf die Kabelbinder, die mich an den Stuhl fesseln. „Dafür müssen wir Auto fahren.“

Mit geschürzten Lippen betrachtet sie meine Fußgelenke. Dann schneidet sie mich mit dem Messer los.

Aufatmend strecke ich die Beine ein Mal aus und stehe auf. Dabei verliere ich beinahe das Gleichgewicht. Ich will mich mit meinen Händen abstützen, kann es aber nicht. Sie sind immer noch hinter meinen Rücken gebunden.

Mit verweinten Augen schaue ich Olivia an. Sie sieht unschlüssig auf das Messer in ihren Händen.

„Ich werde nicht weglaufen. Glaub mir: Ich verdiene, was auch immer du mit mir vorhast. Das weiß ich.“

Sie reagiert mit einem knappen Nicken. Wenig später sind auch meine Hände frei.

Ich reibe mir über meine schmerzenden Handgelenke. „Danke.“

Ungeduld flackert in ihrem Blick auf. Das Messer hebend bedeutet sie mir, vorzugehen.

„Also los. Und keine Spielchen!“

Ich drehe ihr den Rücken zu und gehe vor. Draußen im Flur bemerke ich, in was für einem Raum wir die ganze Zeit über waren. Olivias Büro. Das sie jeden Tag sorgfältig abgeschlossen hat.

Ich greife nach ihrem Autoschlüssel, der auf der Kommode im Flur liegt. Doch sie entreißt ihn mir sofort.

„Ich fahre. Dass das klar ist.“

Wortlos nicke ich.

Draußen ist es mittlerweile dunkel geworden. Ich muss lange bewusstlos gewesen sein, bevor Olivia mich ins Kreuzverhör genommen hat.

Ich dirigiere Olivia durch das nächtliche Bloomington. Raus aus der Stadt. Hinein in den Wald, der ein paar Meilen entfernt liegt.

Obwohl ich diesen Weg nur ein einziges Mal gefahren bin, hat sich alles davon in mein Gedächtnis eingebrannt. Jede Kurve. Jeder Baum. Jeder Grashalm.

„Da vorne rechts“, sage ich. Olivia setzt den Blinker. Der Wagen rollt über den weichen Waldboden.

„Und jetzt hier anhalten.“

Sofort kommt das Auto zum Stehen.

Olivia hält mir wieder drohend das Messer entgegen. Sie hat es während der gesamten Fahrt nicht aus der Hand genommen.

„Wo lang?“

Ich deute in die Dunkelheit.

„Ab hier müssen wir zu Fuß weiter. Nur ein paar Schritte.“

Sie bedeutet mir, im Wagen sitzen zu bleiben, und steigt aus. Dann läuft sie um das Auto herum und öffnet meine Tür.

„Na los!“

Mit erhobenen Händen steige ich aus. Sie nimmt meinen Arm in einen Klammergriff und presst mir das Messer in den Rücken.

Ich beiße die Zähne zusammen. So stolpern wir los.

Ich führe sie in die dichte Baumgruppe, die vor uns liegt. Der Geruch nach Holz, modriger Erde und Kiefernadeln steigt mir in die Nase. Als wir uns durch das Dickicht gekämpft haben, treten wir auf eine kleine Lichtung. Mit dem Kopf deute ich auf eine Stelle direkt am Rand.

„Da. Da liegt er.“

Olivia folgt meinem Blick. An dieser Stelle ist die Erde höher als auf dem Rest der Lichtung.

Sie lässt mich los und eilt zu dem Grab ihres Bruders. Sofort beginnt sie, die Erde mit den Händen aufzuwühlen. Dabei lässt sie das Messer fallen.

Und begeht damit den größten Fehler ihres Lebens.

Leise trete ich an sie heran und nehme das Messer. Sie bemerkt nichts, ist vollkommen damit beschäftigt, nach den Überresten von Ben zu suchen.

„Olivia, Olivia.“

Bei meinem tadelnden Tonfall hält sie inne. Sie hebt den Kopf. Und sieht geradewegs in mein Gesicht, das ein diabolisches Grinsen ziert.

„Ich muss zugeben: Ich habe dich unterschätzt. Genau wie deinen Nichtsnutz von Bruder.“

Gemächlich drehe ich das Messer in meiner Hand hin und her.

Olivia ist ganz starr geworden. Ihre Augen bleiben an dem Messer hängen.

„Wieso musstet ihr beide zu tief bohren? Es hätte so schön mit uns werden können. Eine große, glückliche Familie. Die perfekte Tarnung für jemanden wie mich.“

Seufzend schüttele ich den Kopf.

„Weißt du: Ich wollte Ben wirklich nicht töten. Und wir hatten wirklich einen Streit, der eskaliert ist. Aber über die Fotos habe ich dir nicht die ganze Wahrheit gesagt.“

Olivias Blick zuckt zwischen dem Messer und meinem Gesicht immer wieder hin und her.

„Ben war krankhaft eifersüchtig. Ja. Das habe ich zu spät erkannt. Dumm von mir. Er hat nämlich Fotos von mir gemacht, wie ich mich mit anderen Männern treffe. Er dachte wirklich, ich würde ihn betrügen.“ Ein Schnauben kommt über meine Lippen. „Dabei war ich an einer Affäre überhaupt nicht interessiert. Was Ben da auf seinen Bildern hatte, war ich mit meinen Opfern.“

„Deinen…was?“

Ich beuge mich zu Olivia nach unten. Ihre Hände sind voller Dreck.

„Na, du wirst mich doch nicht etwa unterbrechen?“ Ich hebe ihr Kinn mit dem Messer an. Starr vor Angst blickt sie mich an.

„Geht doch“, murmele ich zufrieden, ehe ich das Messer wieder sinken lasse.

„Ben hatte natürlich keine Ahnung, was er da tatsächlich abgelichtet hatte. Aber ich konnte auf keinen Fall zulassen, dass jemand diese Bilder sieht. Oder, dass er jemandem davon erzählt. Also musste ich ihn auch umbringen.“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Ein Kollateralschaden. Was ärgerlich war. Ich habe immer penibel darauf geachtet, mit meinen anderen Opfern nie eine Verbindung zu haben. Damit niemand darauf kam, dass ich sie getötet hatte. Da musste ich mir für Ben eine hübsche Geschichte überlegen. Das mit dem Verschwinden war gut. Die Polizei war so dumm wie immer. Nur du…“ Wieder beuge ich mich zu ihr herunter, lasse das Messer sanft an ihrer Kehle lang fahren. „Nur du konntest einfach nicht aufhören, nachzuforschen. Ich dachte wirklich, ich wäre vorsichtig. Bin extra bei dir eingezogen, um immer auf dem neuesten Stand zu sein, was deine Ermittlungen angeht. Tja, doch auch du warst mir einen Schritt voraus. Auch wenn du, genau wie dein Bruder, keine Ahnung hattest, was genau du da auf der Spur warst.“

Ich kann an ihrer Kehle sehen, dass sie schluckt.

„Ja? Du möchtest etwas sagen?“

Olivias Pupillen sind geweitet. Das erkenne ich trotz der Dunkelheit um uns herum.

„S-soll das heißen, du bist…eine Serienmörderin?“

Ich lache schallend. Es hallt über die gesamte Lichtung.

„Der Kandidat bekommt 100 Punkte!“

Mein Lachen wird zu einem Kichern. Ah, wie ich dieses Hochgefühl vor einem Mord liebe. Ich habe es viel zu lange nicht mehr gespürt.

„Dein Bruder und du – ihr seid meinen Spuren wie Brotkrumen gefolgt. Und damit geradewegs in die Falle gelaufen. Wie ironisch, dass du ausgerechnet an seinem ersten Todestag sterben wirst.“

Olivias Atem beschleunigt sich. Die Angst in ihren Augen macht mich richtiggehend an.

Oh. Das ist interessant.

„Weißt du, normalerweise töte ich immer nur Männer. Aber ich glaube, du machst mir gerade Geschmack auf Frauen.“

Hektisch sucht sie mit den Augen nach einem Fluchtweg. Nur, dass sie keine Chance hat, wegzulaufen. Dieses Mal bin ich das Raubtier. Und sie die Beute.

„Aber keine Angst, Süße“, gurre ich. „Du wirst immer meine Erste bleiben.“

Mit diesen Worten stürze ich mich auf sie.

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