PiaaHinter Dir – Spiel mit der Unwissenheit

 

Hinter dir  –

Spiel mit der Unwissenheit

 

 

 

<< Fluch und Segen – Unwissenheit kann beides zugleich sein.>>

 

Der Axtmörder in seinem Kopf schien immer näher zu kommen.

 

Bald, in wenigen Sekunden, würde es soweit sein und er freute sich darauf wie auf nichts anderes in seinem Leben. Der geliebte Axtmörder. Der mir die schönen Seiten des Lebens zeigt.

 

Er war nur noch sieben Schritte und einen Schluck entfernt.

 

 Matthias spürte, wie Schweiß aus seinen Händen trat, während er mit der 1-Euro-Münze auf den metallenen Untergrund klopfte, die rechte Hand dabei unruhig an seiner hinteren Hosentasche. Bitte vibriere nicht. Bitte.

Der Gedanke daran, dass es jederzeit soweit sein konnte, schien bereits damit begonnen zu haben, Stück für Stück seinen Verstand zu zersetzen. Eine noch so leichte Regung seines Handys könnte das Schlimmste verheißen und wenn der stämmige Südländer sein Telefonat nicht bald beenden würde, wuchs die Chance, dass er in den nächsten Minuten wie ein Verrückter aus dem Laden stürmte auf einen Prozentsatz, den er sich lieber nicht zu genau vorstellen wollte.

 

03:07 Uhr.

 

Die leuchtend-roten Ziffern der digitalen Wanduhr blinkten im Sekundentakt auf und ab, darunter erstreckte sich im Graffiti Style direkt an der Wand der Schriftzug: ,,It’s never too late“

 

Zynisch lachte Matthias auf, um kurz darauf zu hoffen, dass der breitbeinige Angestellte, der für ein lautstarkes Telefonat in den Hinterraum verschwunden war, ihn nicht gehört hatte. Wie jemand, der um drei Uhr morgens noch ,,Spaß verstand“, sah er nicht aus.

 

Ein Spruch wie dieser war jedoch das letzte, was Matthias an jenem Abend noch gefehlt hatte.

 

Während er die englischen Worte augenrollend mit den Lippen nachformte, warf er erneut unruhige Blicke durch das dreckige Schaufenster.

 

Sofern ihm die unordentlich übereinandergestapelten Chipstüten und die riesigen Kübel voller Süßigkeiten nicht den Blick auf etwas Relevantes verwehrten, schien alles in Ordnung. Noch.

 

Denn während sich wenigstens der glatzköpfige Kassierer durch den roten, löchrigen Vorhang schob, um daraufhin einen misstrauischen Blick auf seinen späten Kunden zu werfen, wurde Matthias einmal mehr klar, wie schnell sich alles ändern konnte.

 

,,Alles?“, schnaufte der offensichtlich kaum erfreute Mann, während er die 1-Liter-Wasserflasche vor dem Scanner auf- und abschob, bis endlich das erwartete Piep ertönte.

 

Nein, ich denke, ich nehme dann noch einige Flaschen Vodka, zehn XXL- Packungen Chips und vielleicht noch ein paar von ihren wasserdichten Uhren, die bereits im Regen zu Schrott werden.

 

Obwohl jene Sarkasmus-getränkte Reaktion Matthias bereits auf den Lippen lag, musste er sich, seinem Leben zuliebe, für ein gewöhnliches ,,Ja“ entscheiden.

 

Ehe sein Gegenüber ihm den Preis entgegenspucken konnte, hatte Matthias ihm bereits die 1-Euro-Münze zugeschoben und mit ungewollt zittrigen Fingern nach der kühlen Flasche gegriffen.

 

Das ,,Auf Wiedersehen“ kam ihm gerade noch über die Lippen, ehe er aufatmend den kleinen Tankstellenladen verließ und sich nun nur noch auf den Axtmörder freute.

 

 

 

 

 

Schneller als ihm lieb war, war die ersehnte Erlösung jedoch in den Hintergrund gerückt. Denn Matthias‘ Blick fiel auf etwas, das neben seinem linken Vorderrad eigentlich nichts zu suchen hatte.

 

Mit gemischten Gefühlen griff er nach dem kleinen schwarzen Gegenstand, dessen glatte Oberfläche durch das Licht der Tankstelle mystisch funkelte.

 

Die Wärme, die von dem Fundstück ausging, überraschte und schockierte Matthias zugleich – denn er wusste von der ersten Sekunde an, um was es sich bei dem, was er nun in den Händen hielt, handelte.

 

Er hielt tatsächlich ein sichtlich ziemlich neues Handy in den Händen, dessen glänzender und makelloser Bildschirm es beinahe wirken ließ, als wäre es gerade erst aus seinem Karton ausgepackt worden. Dafür sprach auch, dass weder eine Hülle noch Panzerglas vorhanden waren.

 

Viel lauter als es ihm bewusst war, atmete Matthias auf.

 

Wenn ein Handy warm ist, dann heißt das doch, dass es…

 

Erst nach einem kräftigen, gequälten Schlucken konnte er seinen Gedanken zu Ende bringen.

 

…, dass es gerade erst benutzt wurde.

 

Während er das Gerät unsicher mit den verschwitzten Fingern abtastete, wurde ihm klar, dass es im Grunde nur zwei Möglichkeiten geben konnte.

 

Entweder, jemand hatte das Handy bereits vor einiger Zeit hier verloren und dabei das Glück gehabt, dass noch kein tonnenschwerer PKW darüber gewalzt war. Doch wieso wäre es dann so warm, fast glühend?

 

Oder, und das war es, was Matthias schlagartig Herzklopfen bereitete, jemand war erst vor kurzem hier gewesen. Und das wäre schlecht.

 

Fest stand dennoch, dass dieses Problem sich nicht dadurch lösen würde, den Fundgegenstand wieder fallen zu lassen und mit dem linken Hinterrad darüber zu rollen, als wäre nichts gewesen.

 

Das Hintergrundbild!

 

Unvermittelt kam Matthias der naheliegende Gedanke, über den eventuellen Sperrbildschirm Näheres zu erfahren – Näheres über die Person, die möglicherweise erst vor kurzer Zeit hier war.

 

Vor ZU kurzer Zeit, verdammt.

 

Mit bebendem Finger brachte er schneller, als er ein letztes Mal nervös blinzeln konnte, tatsächlich den Bildschirm zum Leuchten.

 

Und Matthias hatte mit allem gerechnet. Mit einem verliebten Pärchen, einer Drohung, strahlenden Kindern, einem flauschigen Pudel – nur nicht mit dem.

 

Der Mann, dessen leicht abwesendes Lächeln ihm entgegensprang, griff mit zynischem Lachen nach seinem letzten Verstand. Seine braunen Augen schienen durch das Display hindurch zu dringen. Zwar nicht direkt in die Kamera gerichtet, doch viel lebendiger, als ein Foto es sein durfte.

 

Matthias hatte plötzlich das Gefühl, dass eine eiskalte Bergquelle in seinem Hinterkopf entsprang und von dort aus bis zu seinem Steißbein ihren Verlauf nahm. Sein Mund wollte zu einem Schrei ansetzen, welcher sich jedoch lediglich als hysterisches Aufatmen äußerte.

 

Er konnte seine Augen nicht von diesem Mann lassen, so sehr er es auch wollte. Dieser Mann, Mitte 40, der sagen zu schien: ,,Na sowas aber auch, so sieht man sich wieder! Das letzte Mal ist ja schon eine Weile her… war das nicht heute Morgen im Spiegel?“

 

Matthias starrte auf ein Foto von sich selbst. Eine offensichtlich aktuelle Fotografie, die ihm noch nie untergekommen war. Von der er mit Sicherheit nichts mitbekommen haben konnte.

 

Matthias vernahm einen Schrei, der jedoch lediglich in seinem Inneren existierte und einmal mehr den Weg nach draußen nicht fand.

 

WER um alles in der Welt hat ein Foto von mir als Hintergrundbild? Ich kenne niemanden. Und niemand kennt mich. So hätte es immer bleiben sollen.

 

Matthias spürte, wie sich die ersten Tränen hinter seinen Augen sammelten, wie in seinem Hals ein Knoten heranwuchs, den er noch nicht einmal durch Schlucken lösen konnte, denn er hatte keine Spucke mehr.

 

Während der Bildschirm sich von selbst wieder abschaltete, wusste Matthias, dass nur noch eine Sache sicher war: Er musste hier weg.

 

Und er hätte wissen müssen, dass er einen folgenschweren Fehler machte, als er das Handy in seine Jackentasche fallen ließ, bevor er sich, von unbeschreiblicher Panik getrieben, hinter das Steuer setzte und innerlich brüllend die schlafende Stadt verließ.

 

 

 

 

 

 

 

Ich könnte tot sein. Und ich hätte nichts dagegen.

 

Getränkt von Wut, Trauer, Verzweiflung und Hass warf Matthias einen tränenerfüllten Blick auf die weißen Packungen, die abstrakt übereinandergestapelt auf dem Beifahrersitz lagen. Der matte Vollmond, umgeben von flaumartigen Wolken, warf sanftes Licht auf die aufgedruckten Schriftzüge.

 

Sulpirid stieß ihm als erstes in die Augen, während er nach einem geeigneten Ort suchte. Der Waldrand sollte laut Navi nicht mehr weit entfernt sein.

 

,,Sulpirird“, murmelte Matthias und dachte unwillkürlich an seinen letzten großen Einkauf. 290 Euro, inklusive 50 Euro Versand aus einem Land in Mittelamerika, dessen Namen Matthias sich nicht merken konnte und im Grunde auch nicht wollte. So sehr er es inzwischen gewöhnt hatte, auf dem Schwarzmarkt Medikamente zu erwerben, es würde nie Normalität werden. Und allem voran würde es immer ein Verbrechen bleiben; ein für ihn in jenem Moment unscheinbar ,,kleines Verbrechen“.

 

Er hätte es sich einfacher machen können, doch seine Entscheidung für den Axtmörder, von dem er nun seit über zwei Jahren nicht loskam, war folgenschwer gewesen. Der Axtmörder, der seine Gedanken abzuschlachten schien, zumindest  für einige Stunden, und der der einzige Lichtblick in seinem Leben war.

 

Zumindest in DIESEM Leben. Dieses Leben, das nur noch wenige Minuten dauern wird.

 

Die Wirkung psychologischer Medikamente mit den grausamen Taten eines Axtmörders zu vergleichen, erleichterte Matthias seinen Weg um ein Vielfaches – er war das Opfer, das den sündteuren, illegal beschafften Pillen nicht entkommen konnte. Sie hatten ihn gefunden, ihm gezeigt, wie wunderschön es sein kann, sich so zu fühlen, als besäße man keinen Verstand mehr und lebte in einer bunten Welt, in der niemand auch nur irgendetwas verstand oder erstrebte; in der es lediglich galt zu leben, ohne dafür etwas tun zu müssen.

 

Würde diese Welt nun wie ein Spielzeug in Miniaturform vor ihm liegen, auf dem bröckligen, staubigen Boden, der geradeaus zu einer Waldlichtung und rechts zu einem leeren Hafen führte, dann fühlte Matthias sich nun wie der Axtmörder, der nicht zögern würde, diese Welt zu zerschlagen um herauszufinden, ob dahinter auch etwas steckte, das nicht von Kriminellen aus Lateinamerika geliefert wurde.

 

Aber Schritt für Schritt.

 

Inzwischen war es knapp vier Uhr morgens und Matthias war sich bewusst, dass er sich nicht ewig Zeit lassen konnte, doch genauso war ihm klar, dass er nicht einmal fähig gewesen wäre, die hintere Tür seines Kastenwagens auch nur zu öffnen, bevor er nicht endlich Klarheit hatte.

 

 

 

Mit einem Herzschlag, der kaum noch ein ,,Schlagen“ sondern viel mehr ein Vibrieren war, bremste er entschlossen neben einem gut sieben Meter hohen Schotterhaufen. Das Ungetüm, welches durch das Licht des Mondes jeden einzelnen seiner millimeterkleinen Steinchen präsentieren zu schien, schirmte den kleinen Ort ideal von der nahegelegenen Landstraße ab. Der Weg in den stockdunklen Wald, der nur wenige Schritte entfernt lag, war etwas von Sträuchern und abgefallenen Ästen versperrt.

 

Wenigstens ein Zeichen, dass hier lange schon niemand mehr war.

 

Dafür sprach auch der verwahrloste Hafen, zu dem eine schmale, steinerne Treppe nach unten führte. Abgesehen von einer verfallenen Hütte und einem verrosteten Schiff, das nutzlos am Kieselsteinstrand lag, erinnerte nichts mehr an einen Hafen.

 

Mit bleischweren Beinen hievte Matthias sich aus dem Wagen und sah den aufgewirbelten Staub im Mondlicht durch die Luft tänzeln.

 

Es war nicht sein Plan gewesen, doch anstelle der Schaufel griff er nun nach dem Handy in seiner Jackentasche und stellte unter Schweißausbrüchen fest, dass es tatsächlich noch da war.

 

Das fremde Handy. Mit MEINEM Foto.

 

Seine Hoffnung, plötzlich in die Leere zu greifen und festzustellen, dass er einmal mehr einem zu realistischen Tagtraum – wobei von ,,Tag“ nicht die Rede sein konnte – verfallen war, sollte nicht erfüllt werden.

 

Während der kühle Wind ihm den Nacken gefror, schloss Matthias, jedoch ohne viel Zuversicht, ein letztes Mal die Augen, in der Hoffnung, dadurch endlich schweißgebadet in seinem Bett aufzuwachen und festzustellen, dass die letzten Stunden, am besten Jahre, bloß ein Albtraum gewesen waren.

 

Das Rauschen des Flusses jedoch war gnadenloser als alles andere, was Matthias bisher zugestoßen war. Es wollte einfach nicht aufhören und schien sogar noch lauter zu werden, je fester Matthias die Augen zudrückte. War ja klar.

 

 

 

Was will er von mir?

 

Matthias atmete einmal tief durch, bevor er mit verschwitztem Finger den Bildschirm zum Leuchten brachte.

 

Es war noch da. Das Bild. Das es niemals geben durfte.

 

Das helle Licht des Bildschirm verursachte einen kurzen, krampfartigen Schmerz in Matthias‘ Augen, die eindeutig zu lange kein richtiges Licht mehr gesehen hatten. Ganz anders schien es mit den Augen seines Ebenbildes auszusehen, die leuchtend himmelwärts blickten.

 

Matthias hielt das Bild so nah wie möglich vor sein Gesicht. Die Wellen des Flusses, an dessen Ufer er sich niedergelassen hatte, schwappten träge durch die Nacht.

 

Es war der Hintergrund des scharfen Bildes, der Matthias Anlass dazu gab, sich die Aufnahme etwas genauer anzusehen. Dieses Haus.

 

Er musste nicht lange überlegen, was das für ein Haus war – das rotbraune Haus mit der abbröckelnden Mauer und der Nummer 39.

 

Verdammt. Was hat er vor meinem Haus gemacht?

 

Das Rascheln eines Vogels im Gebüsch zwang Matthias dazu, gebrochen aufzuschreien. Außer einer aufflatternden Amsel war jedoch niemand zu sehen.

 

Also schön, ich habe ein fremdes Foto gefunden und das in einer der schlimmsten Nächte meines Lebens. Und wem auch immer dieses Handy gehörte, er oder sie weiß von mir. Und noch schlimmer: weiß, wo ich wohne. Und warum um alles in der Welt fotografiert dieses Monster mich heimlich und nimmt dieses Bild auch noch als Hintergrund? Und warum…

 

Matthias spürte einen seltsamen Stich im Herzen. Sein Kopf erhitzte sich, als würde man ihm von oben kochendes Wasser hineinschütten.

 

14:10 Uhr gab ihm das Handy Auskunft über die Uhrzeit. Doch nicht über die von dem Ort, an dem er gerade in sich zusammenzubrechen drohte.

 

Auckland stand in zarten, weißen Lettern unter der Zeitangabe.

 

Es schien beinahe, als würde dieses Handy immer mehr mit sich tragen, das gnadenlos auf Matthias‘ Verstand einschlug.

 

Und womöglich war genau das der Grund, weshalb er, ohne einen Code eingeben zu müssen, das Handy entsperrte.

 

 

 

Es hätte ihn alles erwarten können, das war ihm bewusst.

 

Umso skurriler wirkte auf ihn das Foto eines Neugeborenen, das höchstens einige Stunden alt sein konnte. Es war in einen türkisfarbenen Body eingekleidet, an den Füßchen steckten weiße Socken. Der rötliche kleine Kopf wurde von einer zarten Frauenhand mit einigen Ringen und… dunkelbraunen Nägeln gehalten. Dunkelbraune, lange Nägel; vorne etwas abgeflacht.

 

Matthias wusste, an wen diese Nägel ihn erinnerten, doch er wusste genauso, dass es unmöglich das sein konnte, was er in diesem Moment dachte.

 

Doch welcher Stalker hat ein Babyfoto als Hintergrundbild? Und welcher Stalker hat überhaupt ein Baby?

 

Es standen ihm unzählige Türen offen – die Kontakte durchgehen, die letzten Chats lesen, nach etwaigen Apps suchen.

 

Das Spektrum an Möglichkeiten verkleinerte sich jedoch enorm, nachdem Matthias feststellen musste, dass auf dem Handy nicht ein Kontakt gespeichert, nicht ein einziger Chat zu finden und keine App installiert war. Nichts.

 

Es schien, als hätte der Besitzer noch nie Gebrauch davon gemacht.

 

Keine Updates, keine Wlan-Netzwerke, keine Screenshots – nichts war verzeichnet. Matthias durchsuchte den Taschenrechner, die Notizen und den Kalender nach eventuellen Einträgen oder Andeutungen zu vorherigen Nutzungen, doch nichts schien dafür zu sprechen, dass dieses Handy jemals in Gebrauch war.

 

Noch nicht einmal Nachrichten vom Kundendienst oder sowas.

 

Matthias stand kurz davor, das Gerät mit aller Wucht in den Fluss zu werfen, sich selbst am besten noch hinterher.

 

Zumindest bis ihm ein Symbol am unteren Display-Rand ins Auge stach.

 

Die Galerie!

 

Der Besitzer hatte ein Sperr- und Hintergrundbild, weshalb es nun praktisch unmöglich schien, dass auch hier nichts zu finden war. Genauso bestand allerdings die Möglichkeit, dass dort Dinge zu finden waren, die Matthias nicht finden wollte.

 

Sollte es sich tatsächlich um einen Stalker handeln, könnten sich hinter dem kleinem Symbol Aufnahmen verstecken, die ihn umbrachten oder zumindest bis an sein trauriges Lebensende verstörten.

 

Jedoch sah sich Matthias nicht mehr in der Lage, einen Konflikt mit sich selbst zu führen, weshalb er  nicht einmal mehr dazu kam, einen klaren Gedanken zu fassen, bevor er die gelbe Blüte berührte – und von Kälte und Hitze zugleich ergriffen zusammenzuckte.

 

Es war etwas zu finden. Wie bereits vermutet, mehr als ihm lieb war. Viel mehr.

 

Die ersten Reihen, die ihm ins Auge sprangen, glichen dem Material für eine polizeiliche Dokumentation.

 

Unzählige Bilder von bester Qualität, aufgenommen vor seinem eigenen Haus. Matthias sah sich selbst; hunderte Male in ähnlichen Positionen mit gleicher Kleidung. Der schwarze Pullover, die grauen Jeans, die Kapuze über den Kopf gezogen. Und das nicht ohne Grund.

 

Es schien, als wäre jede einzelne seiner Bewegungen dokumentiert worden. Matthias sah sich aus der hölzernen Haustür kommen, sich an die Hosentaschen greifen um sicherzustellen, dass er nicht einmal mehr den Schlüssel vergessen hatte, die Autotür öffnen, sich umdrehen und den Nachbarn grüßen und schließlich ahnungslos davonfahren.

 

Und er wusste auch, wann genau diese Bilder aufgenommen worden waren, denn er verließ das Haus sonst niemals tagsüber – niemals, außer gestern.

 

Kurz vor dem Ausbruch stehend, überprüfte Matthias das Aufnahmedatum und bekam dadurch Gewissheit – er oder sie war bei ihm. Gestern, von 16:02 bis 16:07. Nach dem letzten Bild, welches nicht mehr als seinen um die Kurve fahrenden Kastenwagen zu bieten hatte, war die schreckliche Bilderreihe zu Ende.

 

Und es folgte die nächste.

 

Matthias begann zu zittern, nachdem er die wohl schlimmsten Bilder überhaupt entdeckt hatte. Die Bilder, die ihm noch mehr Gewissheit gaben, als er nicht ohnehin bereits hatte.

 

Ich werde auch gestalkt.

 

Mit rauchender Zigarre sah er sich am offenen Fenster stehen, den Blick verträumt himmelwärts gerichtet. Gekleidet in den roten Pullover, den er nur trug, wenn der Rest seiner Kleidung sich in der Wäsche befand.

 

Das war der Moment, in dem etwas in Matthias einzustürzen schien, seinen letzten Verstand darunter begrabend.

 

Anstatt sich die Bilder genauer anzusehen, nach eventuellen Beweisen zu durchsuchen, konnte er plötzlich nicht mehr damit aufhören, die gesamte Galerie zu durchscrollen; in einem Tempo, das es ihm unmöglich machte, mehr als vereinzelte Farbflecken zu erkennen. Wie ein wild gewordenes Tier ließ er schnaufend seinen rechten Zeigefinger über den Bildschirm fliegen.

 

Das müssen tausende Fotos sein! Es hört nicht auf. Es wird nie aufhören!

 

Abrupter als vermutet verharrte der Bildschirm jedoch in seiner Position und reagierte auch nicht mehr auf Matthias‘ Versuche, ihn weiter in Bewegung zu halten.

 

Das letzte – oder besser gesagt erste  – Bild lag vor seinen geröteten Augen. Und es war jenes Bild, das alles zu verändern zu schien. Alles, was Matthias bisher gefühlt und gefürchtet hatte.

 

Das junge Paar, das einander selig in dem Armen hielt, schien der Schrei, den er in jener Sekunde ungehalten ausstieß, nicht zu kümmern.

 

Was will SIE von mir? Wie kommt sie an meine Adresse? Und wieso hat sie es nicht verhindert?

 

Seine Gedanken erschlugen ihn förmlich, während er das schlimmste aller Fotos anstarrte.

 

Und noch dazu war es nicht nur ein Foto  –  es waren mindestens 50 Aufnahmen, die die blondhaarige junge Frau und den damals stolzesten Mann der Welt Hand in Hand und Arm in Arm zeigten.

 

Während Matthias beim Durchsehen der Bilder unvermittelt die Tränen in die Augen stießen, sah er Kussbilder, wilde Partyfotos und zuletzt alle Ergebnisse des misslungenen Shootings im Park.

 

Es war, als würde vor ihm eine alte Geschichte wieder lebendig werden.

 

Und dann kam der Horror.

 

 Mit einem Schlag wurde Matthias etwas klar. Er hatte eine gefühlte Ewigkeit geglaubt, bereits in der Hölle zu sein und dabei war er noch auf einer bunten Blumenwiese, begleitet von Sonnenschein gewesen. Er hatte gedacht, den Höhepunkt des Grauens erlebt zu haben, als er auf die Bilder von ihm und seiner ehemaligen Freundin Nika gestoßen war  –  und dabei lag das wahre Grauen etliche Meilen weit entfernt.

 

Doch nun war er hier. Etwas schien ihn an den Schultern zu packen und sich dabei in seine Haut und durch seine Knochen zu bohren, während er durchgeschüttelt wurde, als wäre er ein nutzloses Textil in der Waschmaschine.

 

Die drei Worte, die in Schönschrift auf dem Blatt Papier standen, rissen ihm seine Seele aus dem Körper und schienen sie in den Fluss fallen zu lassen, wo sie nun vom eiskalten Wasser davon geschwemmt wurde.

 

,,Warum?“, flüsterte Matthias, wobei er dieses Wort, das wie ein Leuchtschild in Dauerschleife vor seinen Augen lief, am liebsten geschrien hätte.

 

Doch er hatte auf einmal dieses schreckliche Gefühl, nicht allein zu sein und vor allem nie allein gewesen zu sein.

 

Nika + Matthias = Mini-Wunder. Geziert von Blumen-und Herzchen – Ornamenten und, was das allerschlimmste war, einem Ultraschallbild. Was auf den ersten Blick aussah wie ein abstraktes Gemisch aus Schwarz und Weiß, war möglicherweise nun ganz in seiner Nähe.

 

Nicht nur jetzt  –  die letzten 7 Jahre.

 

 

 

Er wollte es in Wahrheit nicht tun, doch es passierte automatisch; Matthias klickte das Bild, das ihn soeben zu einem leblosen Wrack gemacht hatte, an und warf einen Blick, getränkt von schlimmster Gewissheit und auch Vorahnung, auf das Aufnahmedatum.

 

Als er die Zahlen mit eigenen Augen sah, hätte er sich tatsächlich gewünscht, auch sein Hirn und am besten seinen gesamten Kopf verloren zu haben. Denn so hätte er zumindest nicht mit Sicherheit sagen können, dass jenes verdammte Bild zwei Stunden vor dem Ende entstanden war.

 

120 Minuten bevor er selbst den schrecklichsten Stein ins Rollen gebracht hatte, der ihn heute, jetzt, in diesem Moment einzuholen schien.

 

Plötzlich sah Matthias es mit eigenen Augen; Nika, die mit dem hellsten Lächeln der Welt vor seiner Tür stand, wohl wissend, dass sie dies eigentlich nicht gedurft hätte.

 

Laura, seine Frau, die nichts ahnend mit dem Lieferservice gerechnet hatte und statt einer Pizza Salami eine Kussszene bekommen hatte, die alles veränderte.

 

Matthias hörte beide Frauen schreien, sah Lauras Hand, die nach ihm ausholte, und vernahm Nikas Weinen, von welchem begleitet sie für immer aus seinem Leben verschwand.

 

Und nun war er es, der unvermittelt in Tränen ausbrach und versuchte, sich auszureden, dass alles so war, wie er es vermutete.

 

Bis er unter der Flut seiner Tränen einige Reihen über dem schlimmsten Bild ein verschwommenes Lachen erblickte, umgeben von ähnlichen Bildern. Doch dieses eine Lachen war jenes, das seine Augen zu fesseln schien, sodass er unmöglich wegsehen konnte. Denn nachdem er sich mit dem Ärmel provisorisch über das durchnässte Gesicht gewischt hatte, erkannte er es tatsächlich wieder; das Lachen vom Schulhof.

 

Der kleine Junge mit den vollen, brünetten Locken und den strahlenden, großen Augen, der rein von seinem Aussehen her höchstens sechs hätte sein dürfen, doch in jenem Moment bereute Matthias unter innerem Brüllen, ihn nie nach seinem Alter gefragt zu haben.

 

Dann wäre das nie passiert.  Himmel, dann hätte ich niemals… verdammt, es ist aber passiert!

 

Und in jenem Moment machte es Klick.

 

Es war die schmerzhafteste Form jenes Geräusches, die Matthias je erlebt hatte. Sein gesamter Kopf schien zu beben, als wolle man ihm die endgültige Erkenntnis direkt in sein Gehirn gravieren.

 

Die Abende und Nächte vor ihrem Fenster, die Verfolgungen bis in den Supermarkt, die Drohbriefe, die Schreie eines wehrlosen Kindes und schließlich die Leiche.

 

All dies sammelte sich binnen Millisekunden hinter seiner Stirn und brach plötzlich in Form von ohrenbetäubendem Brüllen aus Matthias heraus.

 

Alles was er nun noch wollte war, zu seinem Auto zu rennen, die hintere Tür aufzuschieben und endlose Entschuldigungen in die braune Holztruhe hineinzuschreien und schließlich sich selbst mitsamt seiner geistigen Blindheit die letzten Jahre über zu begraben.

 

Wie stolz er mal gewesen war, für wie genial er sich gehalten hatte. Er hatte nichts ausgelassen, das seine Tat noch professioneller umkleidete.

 

Nicht einmal einen verdammten Bewegungsmelder an meinem Auto, den ich mit meinem verdammten Handy verbunden habe, damit nur ja niemand dem zu nahekommt, was sich darin befand und was ich nicht einmal selbst je wieder ansehen wollte. Und dann hab ich Idiot noch ständig gewartet, dass mein Handy mir durch ein Vibrieren potenzielle Gefahren meldet, wo die größte Gefahr doch gerade einmal 15 cm lang ist und auf dem Boden gelegen hat.  Plötzlich schien Matthias eine heldenhafte Keramikfigur zu sein, die in diesem Moment zerschlagen wurde.

 

,,Du willst dein Kind zurück? Ganz einfach: Zeig mir, dass du es liebst und bring dich für deinen Sohn um. Du musst das Schauspiel bloß filmen und dafür sorgen, dass ich die Aufnahme erhalte. Mehr nicht“

 

,,Solltest du vorhaben, der Polizei einen Besuch abzustatten, dann denk lieber mal an die schönen Bilder von dir unter der Dusche. Die wären was für die Öffentlichkeit. Und, ach ja, dein Kind wäre dann übrigens TOT, sollte das nicht reichen“

 

Matthias hätte sich selbst erschlagen können für die Worte, die plötzlich der hintersten Ecke seines Gehirns entsprangen. Er sah sich nachts vor dem Computer sitzen, zynisch lachend E-mails verfassen mit dem schönsten aller Gedanken, die Frau zu quälen, die sein Leben ruiniert hatte und sich als Zeichen der Reue einen neuen Mann gesucht hatte, mit dem sie nun ein Kind hatte – das was er immer wollte. Ein Kind.

 

Als hätte man seinen Kopf so eingeklemmt, dass er den Bildern nicht entkommen konnte, sah er nun, wie er den kleinen Jungen, den er für einen Erstklässler gehalten hatte, freundlich an der Hand nahm, sich als Freund seiner Mutter vorstellte, der ihn nach Hause bringen würde.

 

Natürlich hatte er erfolgreich Vertrauen geweckt, nachdem er Nikas Namen, sowie die Adresse genannt hatte.

 

Sie war umgezogen, doch ihre Arbeit hatte sie nicht gewechselt, weshalb es kein großer Aufwand war, ihr unbemerkt mit ausreichendem Abstand nach Hause zu folgen.

 

Und verdammt, hätte ich sie nicht auf Facebook gefunden und von dem Kind erfahren, das in Wahrheit viel älter war… ich hätte sie nie gestalkt. Und der Junge wäre nie gestorben. Unter meinen Qualen. Meinem monsterartigen Verhalten. Und ich hätte ihn nie heute an diesem Ort…

 

Es war eine Bewegung auf dem Display, die Matthias plötzlich wieder hellwach machte, nachdem er bereits vermutet hatte, an Ort und Stelle einzugehen.

 

Sie haben 1 neue Nachricht.

 

,,Nein“, flüsterte Matthias. Die hatte er ganz bestimmt nicht. Das hier war ein Trick. Das Handy war gar nicht echt; wie sollte also eine SMS eingehen können?

 

Vorerst nur um zu testen, ob er nicht bereits an Wahrnehmungsstörungen litt, öffnete Matthias mit nahezu gelähmten Fingern die Nachrichten, in der festen Annahme, dort nichts vorzufinden.

 

Doch da war eine Nummer. Eine fremde Nummer und darunter standen Worte.

 

Ohne jegliches Wissen, worauf er sich einließ, öffnete Matthias die Nachricht.

 

Zu lang. Das war der erste Gedanke, der ihm kam, als er den gelb unterlegten Text sah.

 

,,Matthias, du dachtest du spielst gut. Schade, dass du die Regeln nicht kanntest.

 

Du wunderst dich vielleicht, wieso du nun dieses Handy in der Hand hältst. Und ja, richtig, es ist kein Zufall. Dafür wäre all der Aufwand die letzten Jahre zu schade gewesen.

 

Ich will nicht viele Worte verschwenden, denn ich weiß doch, dass du es eilig hast. Du wolltest deinen Sohn begraben, schon vergessen? Ja, wie du wohl schon bemerkt hast, ist der Junge, mit dem du dachtest, mit mir zu spielen, als wäre ich eine Marionette, nicht nur mein Sohn. Er ist DEIN Sohn.

 

Wo das nun geklärt ist, fragst du dich vielleicht, weshalb Auckland? Nun ja, denke doch mal an die Dokumentation zurück, die du vor 7 Tagen um 20:15 gesehen hast. Weißt du nicht mehr? Auf der Erde, ungefähr gegenüber von Deutschland liegt Neuseeland. Tja, und ungefähr gegenüber von dem, was du gedacht hast, liegt die Wahrheit. Sieh es als Warnung, die du jedoch nicht erkannt hast.

 

Ach Matthias, du willst sicher wissen, wieso ich meinen Sohn nicht gerettet habe, wo ich doch wusste, wo du bist, mit deinem Kind? Das vorletzte Wort sagt es ja eigentlich schon: deinem Kind.

 

Das Kind, mit dem ich allein war, wobei das nun nebensächlich ist.

 

Wichtig ist, dass du nun die Erkenntnis hast, die du verdienst, egal für wie krank du mich nun hältst. Ich wollte dir die Unwissenheit nehmen und das ging nur, indem du überhaupt mit ihr in Berührung kommst.

 

Also habe ich dich mich stalken lassen, dein Kind gefangen halten lassen, dich mich bedrohen lassen, während ich dafür im Gegenzug vor DEINEM Fenster stand. Doch das reicht mir nicht.

 

Befolge diese Anweisungen jetzt deshalb ganz genau und behalte dabei im Kopf, wie weit dich dein vermeintliches Wissen gebracht hat:

 

Schalte die Innenkamera ein. Und versuche nicht wegzulaufen, denn ich kann dir garantieren, dass du nicht wissen willst, was dann passiert.

 

Beginne, ein Video aufzunehmen. Vergiss nicht zu lächeln und darauf zu achten, dass alles im Bild ist. Das kann nicht schwer sein. Denk daran: Ich sollte schließlich sterben für dein Kind.

 

Und dann warte einfach und erfahre die Bedeutung von Wissen und Unwissen.“

 

So gerne Matthias noch einen bedeutsamen Gedanken gefasst hätte, um nicht in Dummheit zu sterben; es schien zu spät.

 

Der Haufen verstandsloses Elend, der unter seinem Namen übrig geblieben war, schien in einer Art Trance, getragen von Unwissenheit, zu schweben, während dumpfe Schritte, gefolgt von leisem Rascheln, durch den nächtlichen Wind zu seinen Ohren getragen wurden.

 

Es gab in diesem Moment nichts, das ihn weniger überraschte.

 

Während die Schritte lauter wurde, befolgte er wie ferngesteuert die Anweisungen; öffnete wie selbstverständlich die Kamera, stellte die Innenkamera ein, wobei er lediglich seine kläglichen Umrisse sehen konnte und startete ein Video.

 

Aus den Schritten wurde ein Atmen, schließlich ein Schnaufen  –  beides kümmerte Matthias nicht mehr. Er spielte bloß noch das leblose Stativ.

 

Das Schnaufen näherte sich immer mehr, bis er die erste Wärme an seinem rechten Ohr spürte, das Handy dabei noch fester umklammerte und gerade noch sah, wie neben seinem Kopf ein zweiter Umriss auftauchte.

 

Er hatte sich mehr erwartet, als schließlich eintraf, doch vermutlich hatte er es in seiner Unwissenheit nicht anders verdient.

 

Beinahe hörte er den Knall, das Krachen, bevor er den Schmerz spürte. Den Schmerz, der in Wahrheit kein Schmerz war, sondern die erwartete Erlösung in die ewige Schwärze. Der Axtmörder war doch noch gekommen. Um ihn zu befreien. Nur nicht aus dem, was er gedacht hatte.

Sondern aus der Erkenntnis.

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