h.weinbergerFürchte dich

Kurzgeschichte

 

Das Leben ist ein fragiles Konstrukt. In dem einen Moment ist es da und im nächsten ist es auch schon wieder verschwunden. Wir wissen nie, wann der Tod seinen Blick auf uns richtet.  Aber wir wissen alle, wie es sich anfühlt, wenn er kurze Zeit an unserer Seite geht. Und wir fürchten ihn. Wir können ihn nicht ertragen, seine Unberechenbarkeit und seine Endgültigkeit. Vielleicht versuchen wir deshalb, ihm zu entkommen, wenn er uns von der anderen Straßenseite aus zuwinkt. Aber wenn er nun da ist, wenn er sich gewaltsam Gehör verschafft und dabei so rücksichtslos vorgeht, dass alles zerbricht, wird uns klar, dass wir nicht den Tod fürchten. Sondern das Verlassen.
Und falls wir jemanden durch die Hand eines anderen Menschen verlieren, dann bleibt uns nur der Hass und die Trauer. Wir leben in einer Welt, die genauso gerecht wie ungerecht ist. Doch wenn das Gesetz versagt, dann bleibt uns oft nur eines: Rache.

 

Es ist ein Morgen wie jeder andere, als Georg Bauer an diesem Tag das Haus verlässt. Gut gelaunt lässt er die Tür hinter sich zu fallen und atmet tief ein. Die kühle Morgenluft umhüllt ihn und einige schwache Sonnenstrahlen versuchen ihr Bestes, die Straßen und Wege Deutschlands zu erhellen. Die Menschen hasten den Gehsteig entlang, während die Zeit, die Arbeit und das Leben sie unerbittlich vorwärts drängen.
Es gleicht einer Routine, sich einzugliedern und mit dem Strom zu fließen. Beinahe hört man das Ticken der Uhr, die jeden hier beherrscht und die Kreise der Überlegungen, die jeden einzelnen in einen Kokon hüllen.
Niemand neben ihm hört die leisen Vögel. Niemand hinter ihm denkt an etwas anderes als sich selbst. Niemand vor ihm kennt jemanden von den täglichen Wegbegleitern. Georg lächelt entspannt. Er liebt die Einfachheit und die Berechenbarkeit dieses durchgetakteten Lebens. Er ist in die Stadt gekommen, um nach Glück zu suchen und inmitten des Autolärms und der Menschenmassen glaubt er, es gefunden zu haben.
Als sein Klingelton ertönt, holt er überrascht sein Handy heraus. Niemand ruft ihn um diese Zeit an. Genauer gesagt, beinahe niemand ruft ihn jemals an. „Bauer?“, meldet er sich und freut sich, als er die Stimme eines alten Freundes erkennt. Ein wenig erstaunt hört Georg der ausgelassenen Begrüßung zu und weicht dabei einem lesenden Jungen aus, der kaum auf die Straße achtet.
„Hör zu, ich muss dich um einen riesigen Gefallen bitten.“
Verwirrt runzelt er die Stirn. Er weiß, dass sein Freund manchmal in Schwierigkeiten steckt, doch dieser hält sich stets an seine goldene Regel, seine Freunde und Familie davon fernzuhalten. Wenn er also um Hilfe bittet, muss es etwas Ernstes sein. Georg kann nicht verhindern, dass er erschaudert. Er hat diese Welt hinter sich gelassen. Er hat alles versucht, damit er nicht das Leben seiner Eltern führen muss.
„Meine Frau will meine Freunde kennenlernen.“, verkündet sein früherer Schulkollege. Georg atmet erleichtert auf, nur um im nächsten Moment wieder inne zu halten.
„Aber deine Freunde sind keine sehr freundlichen Menschen.“, sagt er schließlich. Sein alter Kumpel lacht laut auf. „Es freut mich, dass du immer noch so höflich bist wie früher, aber du musst den Mist nicht beschönigen. Sie sind Versager. Kriminelle.“
Georg hört, wie sein Freund das letzte Wort ausspuckt und er weiß, wie schwer es ihm fällt das zu auszusprechen. Nach einer kurzen Stille, in der keiner weiß, was er sagen soll, räuspert sich sein Kumpel schließlich.
„Deshalb brauche ich deine Hilfe. Du bist der Einzige von uns, der es raus geschafft hat. Du hast ein schönes Leben. Eines, das ich meiner Frau zeigen kann. Bitte. Komm zurück, nur für einen Abend.“
Georg seufzt. Er hasst den Gedanken, wieder in seine Heimat zurückzukehren. Er hat damit abgeschlossen. Doch er weiß, dass er seinem alten Kameraden diesen Gefallen nicht abschlagen kann, egal wie sehr sich alles in ihm dagegen sträubt.
Georg erreicht den Bus und lässt sich erschöpft auf einen der Sitze fallen. Er fühlt sich ausgelaugt, gestresst. „Okay.“
„Wirklich?“, fragt sein alter Freund überrascht und Georg kann sich vorstellen, dass er gerade mit einem breiten Grinsen in die Luft starrt. „Du wirst es nicht bereuen.“
„Vermutlich schon.“ Wieder entsteht eine Pause, in der jeder seinen eigenen Gedanken nachhängt.
„Wann soll ich da sein?“, fragt Georg schließlich und steht auf, um einer alten Dame den Sitz freizumachen.
„Ich rufe dich noch einmal an.“, meint sein Freund und klingt mit einem Mal abwesend. Bevor Georg nachfragen kann, legt sein Kumpel mit einer hastigen Verabschiedung auf. Mit gerunzelter Stirn blickt Georg eine Weile auf sein Handy. Er ist es gewohnt merkwürdige Dinge von ihm zu hören, trotzdem kann er nicht verhindern, dass ein Teil von ihm besorgt ist.
Mit einer Vollbremsung kommt der Bus zum Stehen und Georg stolpert etwas tollpatschig heraus.
Vor ihm liegt das große Lager des Konzerns, für den er arbeitet.
„Guten Morgen!“, ruft er dem Wachmann zu, während er das Gebäude betritt. Ein paar Gänge weiter und einige Minuten später befindet er sich endlich in seinem persönlichen Himmel. Er mag die große Lagerhalle, die hohen Regale und die Stille.
Als Georg gerade seine Inventur wiederaufnimmt und sich bemüht, ordentliche Häkchen hinter jede Zeile zu setzen, ertönt ein Knall. Das dumpfe Geräusch hallt in seinem Kopf wieder und auf seine Armen bildet sich eine Gänsehaut.
Er zuckt zusammen und aus reiner Gewohnheit blickt er zuerst über seine Schulter. Nichts. Ein mulmiges Gefühl macht sich in seinem Bauch breit. Er müsste alleine hier sein.
Georg verlässt den Gang und umrundet einen Stapel Kartons. Als er die nächste Regalreihe entlang sieht, kann er nicht verhindern, dass er erleichtert grinst. Ein paar Meter von ihm entfernt liegt eine Schachtel, die wohl aus dem Regal gefallen ist. Kurz runzelt er die Stirn. Normalerweise achtet er genau darauf, dass die Waren gut verstaut sind und sich nicht bewegen können.
Als er die Schachtel aufhebt, fallen ein paar Dinge heraus. Seine geliebte Liste gleitet aus seinen Fingern und schwebt zu Boden, aber Georg nimmt nichts davon wahr. Die Welt um ihn herum verblasst ein wenig. Denn in dem Karton liegt noch etwas anderes. Etwas, das dort ganz und gar nicht hingehört.
Vorsichtig holt er das fremde Handy heraus und streicht darüber. Als das Display plötzlich aufleuchtet, taumelt er zurück und rudert mit den Händen, um das Gleichgewicht wieder zu erlangen. Und auch als er sich mit einer Hand am Regal festhalten kann, fühlt es sich trotzdem so an, als würde er fallen. Die Welt um ihn herum steht still.
Er merkt, dass er erschrocken aufgeschrien hat und presst sich eine Hand auf den Mund. Mit einem Mal ist Georg kalt. Das ist kein Zufall. Man hat gewollt, dass er es findet. Mit bebenden Fingern streicht er über das Telefon, als es dunkel wird.
Es ist das Hintergrundbild des Handys, das ihm die Luft zum Atmen nimmt und ihn auf die Knie zwingt. Erst als er auf dem Boden kauert und dass Handy hektisch in seiner Tasche verschwinden lässt, breitet sich die Angst in ihm aus. Und ihm ist klar, dass dieses Bild alles verändert.

Georg hastet nach draußen. Er lässt die Firma hinter sich und springt in den nächsten Bus, den er entdecken kann. Er muss weg von hier. Sobald der Motor aufheult und der Bus sich in Bewegung setzt, bereut er seine Entscheidung. Schweißperlen bilden sich auf seiner Stirn. Er fühlt sich eingeengt, als säße er in einem Käfig.
„Halten Sie an!“, brüllt er, während sein Blick zwischen den vorbeiziehenden Häusern und dem Fahrer hin und her springt. Letzterer sieht ihn ein wenig verängstigt an und lenkt den Bus schließlich zum Straßenrand. Sobald die Türen sich ein Stück weit geöffnet haben, quetscht Georg sich hindurch. Verzweifelt ringt er nach Luft und sein Brustkorb fühlt sich an, als würden Steine darauf liegen. Georg merkt, dass der Boden unter seinen Füßen erneut nachgibt. Beruhigen. Er muss sich beruhigen. Er muss in die Panik abschütteln, die ihn so plötzlich überfallen und seinen Verstand gefangen genommen hat. Er muss einen kühlen Kopf bewahren, er braucht einen Plan. Er muss …
Seine Gedanken werden unterbrochen, als sich ihm ein Junge nähert, der mehrere Zeitungen trägt und mit einer davon in der Luft herum wedelt.
„Nur in dieser Ausgabe!“, ruft der Junge und dreht sich einmal im Kreis. „Lesen Sie alles über den Raub, der sich heute zum fünften Mal jährt.“
Einige Passanten bleiben stehen und manche scheinen sich begierig auf die Geschichte zu stürzen, aber Georg scheint es, als würden sie alle ihn dabei ansehen. Für einen winzigen Augenblick hält alles um ihn herum inne, nur um sich im nächsten Moment mit einer solchen Geschwindigkeit weiter zu bewegen, dass er rückwärts stolpert.
„Verzeihen Sie.“, entschuldigt er sich und seine Augen wandern ziellos umher. Er weiß nicht, ob er überhaupt jemanden anrempelt. Trotzdem murmelt er Entschuldigungen, als wäre dies das Einzige, an das sich sein Gehirn erinnert.
Er blinzelt. Sein Kopf ist wie leergefegt. Er weiß, dass er nachdenken muss und er weiß, dass ein Plan irgendwo in den Winkeln seiner Vernunft darauf wartet, gefunden zu werden. Doch Georg hat die Suche danach schon längst aufgegeben.
Also tut er das Einzige, was ihm in den Sinn kommt. Er dreht sich auf dem Absatz um und hastet nach Hause.

„Kommissar, Sie müssen etwas essen.“, versuchte der junge Mann es erneut. Er setzte seine sanfte Stimme ein und sah ihn mit einem verständnisvollen Blick an. Pah, um ihn zu ködern würden sie schon ein bisschen mehr brauchen als einen Kerl, der ihn bemutterte.
Kommissar Wieland senkte den Aktenbogen, hinter dem er während der Rede des jungen Mannes so oft die Augen verdreht hatte, dass es einem Rekord glich. „Verschwinden Sie.“, knurrte er und griff nach den Fotos, die verstreut über dem Schreibtisch lagen. Dabei stieß er seine Kaffeetasse um und die braune Flüssigkeit verteilte sich über den ausgebreiteten Akten. „Sehen Sie, was Sie getan haben? Und jetzt hauen Sie ab und suchen Sie jemanden, bei dem die Muttermasche zieht.“
Der Mann zuckte zwar zusammen, seine Miene veränderte sich jedoch nicht. „Der Chef hat mich geschickt. Er sagt…“
„Mir egal, was er gesagt hat.“, bellte Wieland und schlug mit der Faust auf den Tisch. Die umgefallene Tasse begann zu rollen und zersprang mit einem lauten Klirren auf dem Boden. „Sagen Sie ihm, mir geht es gut. Ich brauche keine Hilfe von jemandem. Ich habe einen Fall zu lösen und genau das tue ich auch.“
„Kommissar“, fing der junge Polizist erneut an, brach aber ab, als Wieland ihm einen tödlichen Blick zuwarf. Mit einem Schlucken und wackligeren Knien, als er jemals zugegeben hätte, verließ der Mann das Büro.
Als er weg war, hob Wieland die kaputte Tasse auf. Und hätte sie am liebsten noch einmal auf den Boden gepfeffert. Alle glaubten, ihn bemuttern zu müssen. Auch seine Frau. Ständig hatte sie ihm mit ihren nervigen Forderungen in den Ohren gelegen. Er sollte weniger arbeiten, mehr an die Familie denken. Es wäre doch nur irgendein Fall. Nein. Genau das war es, was keiner verstand. Es war nicht irgendein Fall. Er war wichtig, der Fall verdiente oberste Priorität.
„Wieland. Wir müssen reden.“, kündigte sein Boss an, der in diesem Moment das Büro betrat. Sein Blick glitt über die verstreuten Akten, die kaputte Tasse und die Kaffeepfütze. Er hob eine Augenbraue. Auch wenn er es nicht aussprach, lag sein Vorwurf in der Luft. Schließlich seufzte er.
„Sie sind dem Jungen ganz schön unfreundlich begegnet.“, stellte der Chef fest und faltete die Hände vor seinem Körper.
Wieland konnte nicht anders, als zu schnauben. „Dann soll er sich um seinen eigenen Kram kümmern und seine Schnauze nicht in Angelegenheiten stecken, die ihn nichts angehen.“
Die Miene seines Chefs verhärtete sich. „Sie wissen, dass ich immer große Stücke auf sie gehalten habe. Sie waren stets ein wichtiges Mitglied unseres Teams und Ihre Meinung hatte immer einen hohen Stellenwert. Aber seit Sie diesen Fall bearbeiten, haben Sie sich verändert. Sie sind keine Hilfe mehr, sondern eine Plage.“
Wieland ballte die Fäuste. „Ich versuche, den Fall zu lösen.“
Der Chef seufzte und rieb sich über die Stirn als sei er erschöpft. „Ich weiß. Aber es läuft aus dem Ruder. Sehen Sie sich doch um! Sie übernachten im Büro, weil Ihr Vermieter sie rausgeworfen hat und Ihre Frau hat Sie verlassen. Und wann haben sie zuletzt etwas gegessen? Oder geduscht?“
„Ich muss zuerst den Fall lösen.“, brummte der Kommissar und fuhr sich durch die zerzausten Haare. „Alles andere kann warten.“
„Nein, kann es eben nicht. Sie haben einen Täter gefunden und ihn vor Gericht gebracht. Und es war der Falsche. Seitdem ist ein Monat vergangen und Sie haben nichts gefunden. Ich habe Sie mehrmals verwarnt und Sie gebeten, die Hilfe von Kollegen anzunehmen. Aber Sie haben nicht auf mich gehört. Diese Besessenheit muss ein Ende haben.“
Wieland lachte rau auf. Als er sein eigenes Lachen hörte, zuckte er kurz zusammen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann er zuletzt gelacht hatte.
„Besessen? Ich bin doch nicht besessen. Das nennt man Einsatzbereitschaft. Ich gebe eben alles. Und Hilfe brauche ich nicht.“
Sein Chef atmete gepresst ein und aus und versuchte ruhig zu bleiben. Er wusste, dass Wieland es nicht so meinte. Die beiden waren seit Jahren Kollegen und er hatte ihm in letzter Zeit freie Hand gelassen, weil er ihm vertraute. Aber er konnte nicht mehr zusehen, wie Wieland sich veränderte. Er musste dieser unaufhörlichen Abwärtsspirale ein Ende setzen.
„Der Fall kommt zu den Akten. Ich setze Sie auf etwas anderes an.“, sagte er langsam, aber bestimmt.
Die halbe Kaffeetasse glitt aus Kommissar Wielands Fingern. „Das können Sie nicht tun! Ich bin so knapp davor, ihn zu lösen.“
„Das sagen Sie mir schon so lange!“, rief sein Boss aus und merkte, dass er langsam die Beherrschung verlor. Er hob die Hände und vollführte eine hilflose Geste. „Seit Wochen stehen Sie angeblich knapp vor einem Durchbruch. Ich kann und werde das nicht mehr glauben. Sehen Sie sich doch an! Der Fall hat bereits zu viel von Ihnen gefordert. Es wird Zeit, dass sie ihn abgeben.“
„Nein. Das werde ich nicht tun.“
„Dann werden Sie ab diesem Moment nicht mehr für uns arbeiten.“
Wieland erstarrte kurz. Die Polizeiarbeit war sein größter Traum gewesen. Er war gut darin, er hatte geholfen, das Böse zu bekämpfen. Er hatte hier so viel gelernt, über sich selbst und über die Welt. Und es brach ihm das Herz, fortzugehen. Aber er musste den Fall aufklären. Er musste den Täter seiner gerechten Strafe zuführen. Ansonsten konnte er niemandem je wieder in die Augen blicken. Er würde allein arbeiten und er würde es schaffen.
„Also gut.“, hörte er sich sagen, ehe er sich bückte und begann die Scherben der Tasse aufzusammeln.

 

Die Hand, die Georg zurückreißt, rettet ihm das Leben. Mit einem Hupen donnert der LKW an ihm vorbei. „Passen Sie doch auf, Mann.“, motzt der Typ, der ihn zurückgezogen hat. Georg nickt etwas gedankenverloren und zwingt sich, tief durchzuatmen. In den letzten Minuten hat er sich wieder etwas gefangen. Wer auch immer ihm dieses Bild zugespielt hat, will vermutlich Geld und davon hat Georg in den letzten Jahren einiges angespart. Trotzdem wird sich das Bild immer dort draußen befinden, es wird immer existieren. Und auch wenn es tatsächlich eine Erpressung ist und er bezahlt – irgendjemand wird immer Bescheid wissen.
Er geht weiter und atmet erleichtert auf, als er in die vertraute Straße einbiegt. Gleich ist er zu Hause. Dort ist erst einmal sicher. Georg hat in den letzten Jahren akribisch darauf geachtet, keine Spuren zu hinterlassen. Sein Name scheint nirgendwo auf, wo es nicht unbedingt nötig ist. Das verschafft ihm ein Gefühl von Sicherheit, so als besäße er eine uneinnehmbare Festung.
Tief in Gedanken versunken nähert sich Georg seinem Haus und blickt dabei kaum auf. Daher bemerkt er auch nicht den Mann, der auf den Stufen vor seine Haustür sitzt und ihn von weitem kommen sieht. Als Georg schließlich nach dem Schlüssel kramt und dabei aufschaut, setzt sein Herz einen Schlag aus. Der fremde Mann lächelt ihn an und seine Augen scheinen zu funkeln, als er sich vertrauensvoll vorbeugt.
„Fürchtest du dich?“, fragt er so leise, dass Georg ihn beinahe nicht verstanden hätte. Als er die Bedeutung der Worte erkennt, erstarrt er. Ein Schauer kriecht seinen Nacken hinauf und schlagartig erkennt er, dass dieser Mann … es weiß. Georg stolpert zurück, worauf der Fremde sich immer noch lächelnd erhebt. Nur, dass er gar kein Fremder ist. Es ist der Polizist, der ihn vor Jahren verhaftet hat. Georg hat ihn wegen der langen Haare und der alten Kleidung zuerst nicht erkannt, doch nun kommt jede Erinnerung zurück. Das Blut weicht aus Georgs Gesicht. „N…nein.“, stottert er. „Nein.“
Ausgerechnet jener Mann, der vor Jahren eine Hetzjagd auf ihn veranstaltet hat, steht nun vor seiner Tür.
„Solltest du aber.“, antwortet der Mann und sein Lächeln nimmt einen grausamen Zug an. Es sind seine nächsten Worte, die Georg dazu bringen wegzulaufen, als wäre der Teufel hinter ihm her. „Fürchte dich.“, flüstert der Mann.

 

Alles um Georg herum wirkt mit einem Schlag bedrohlich. Er nimmt leise Gespräche anderer wahr, die früher einfach an ihm vorbeigezogen sind. Das stetige Geräusch des Verkehrs ist ohrenbetäubend laut. Es ist, als sei die schützende Schale seiner heilen Welt zerbrochen. Georg hastet den Weg, den er eben gekommen ist, entlang.
Er weiß nicht, wohin er soll. Er denkt auch gar nicht darüber nach. Alles in ihm will nur so weit weg wie möglich. Auch wenn er weiß, dass es Irrsinn ist. Der Polizist hat ihn vermutlich nur einschüchtern wollen, aber es hat gereicht, um seinen Fluchtinstinkt zu wecken. Kann man es ihm verübeln?
Nach allem, was er durchgemacht hat, nach allem, was er überstanden hat. Wie hat sein Freund heute Morgen gesagt? Er sei der einzige, der es raus geschafft hat. Aber um welchen Preis?
Als Georg die bekannte Stimme hört, kann er sie zuerst nicht zuordnen.
„Nur in der heutigen Ausgabe.“, hört er einen Jungen rufen. Erst als er direkt vor ihm steht, erkennt Georg den kleinen Zeitungsjungen. Dieser wirft ihm einen kurzen Blick zu und hebt dann einen Stapel Zeitungen. „Alles über den Raub, der mit einem tragischen Mord endete!“
Nur wenige schenken dem Kleinen ihre Aufmerksamkeit, aber Georg kann nicht anders, als ihn anzustarren. Er versucht die Worte, mit denen der Zeitungsjunge seine Waren anpreist, zu verarbeiten. Der Raub, der mit einem tragischen Mord geendet hat.
Vor fünf Jahren sind die Zeitungen voll davon gewesen. Zuerst haben sie den Fall auseinandergenommen und dann haben sie Georg in der Luft zerfetzt, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen ist. Erst nach dem Gerichtsurteil haben sie ihn in Frieden gelassen. Aber seinen Frieden hat er nie mehr gefunden.

 

 

„Guten Morgen, Linda!“, rief der junge Bankfilialleiter Paul Lindig seiner Kollegin zu. Die Angesprochene nickte ihm etwas steif zu und widmete sich wieder ihrem Computer. Paul kümmerte sich nicht um ihre Reaktion. Er konnte es verstehen, dass sie ihn nicht mochte. Immerhin war sie bei der Beförderung übergangen worden und statt ihr war er als Filialleiter eingestellt worden. Den Traumjob an jemanden zu verlieren, der halb so alt war, wie man selbst, war hart. Und auch wenn er sich um Höflichkeit bemühte, wusste er, dass es noch Jahre dauern würde, bis sie sich anfreunden könnten.
Deshalb staunte er nicht schlecht, als sie ungefähr zwei Stunden später an seiner Tür klopfte. Mit blassem Gesicht und vor Schreck geweiteten Augen trat sie ein.
„Herr Lindig?“, fragte sie mit nervöser Stimme. „Soeben wurde die Polizei informiert. Ein Mann hat sich gewaltsam Zugang verschafft.“
Paul blinzelte. „Wie bitte?“, hakte er nach, obwohl er sie sehr wohl verstanden hatte. Er hatte nur keine Ahnung, wie er reagieren sollte. Keiner hatte ihn auf diese Situation vorbereitet, als man ihn vor einem Monat eingestellt hatte.
„Ein Überfall, Herr Lindig. Genaueres wissen wir noch nicht wirklich. Er ist wohl durch den unbenutzten Kellerraum gekommen und so auch wieder verschwunden“
„Wie ist das möglich?“, flüsterte Paul, während er langsam aufstand.
„Ein Kollege erzählt von einer unversiegelten Luke. Wir werden auf die Polizei warten müssen, um mehr zu erfahren. Keiner weiß so genau, wie er es gemacht hat und es ging auch alles so furchtbar schnell. Soweit wir wissen ist niemand verletzt. Allerdings…“ Linda zögerte und knetete nervös ihre Finger. „Es wurden Schüsse gehört.“, beendete sie schließlich leise ihren Satz.
Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, verließ er das Büro. Später würden alle glauben, es hätte sich um eine Art Intuition gehandelt. Aber es hatte viel mehr damit zu tun, dass manche Angestellten gerne ihre Pause in einem unbenutzten Raum im Keller verbrachten. Genauer gesagt, eine Angestellte. Paul wusste nicht, wieso sie das tat, aber sie schien sich dort von der Welt zurückzuziehen. Und sein erster Gedanke hatte ihr gegolten.
Mehrere Angestellte kamen ihm entgegen. Alle, die in den unteren Stockwerken arbeiteten, hatten den Überfall mitbekommen und standen nun in kleinen Gruppen zusammen. Paul konnte hören, wie sie aufregt herauszufinden versuchten, was geschehen war.
Mit großen Schritten lief er die Stufen hinunter. Eine Gänsehaut legte sich über seine Arme. Auch davon würden die Zeitungen später berichten. Der Nachhall von Tod hätte in der Luft gelegen, würden sie schreiben. Etwas, was Paul zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnte. Seine Gedanken kreisten um die hübsche Blondine. Er musste sichergehen, dass sie nicht in dem Raum war. Es war ihm klar, dass es gefährlich war, allein hinunter zu gehen. Aber er konnte nicht anders. Sie war ihm wichtig und in seiner Sorge vergaß er alle Vorsicht. Insgeheim hoffte er auch, dass sie vielleicht dann endlich zustimmte, sich mit ihm zu verabreden. Und wer weiß, vielleicht hätte sie das auch getan, wenn dieser Tag nicht alles verändert hätte.
Mit Schwung öffnete Paul die alte Tür. Er stolperte ein wenig und wegen des fahlen Lichtes dauerte es einige Sekunden, bis er sich zurecht fand. Und in dem Moment, in dem er endlich sehen konnte, verblasste seine gesamte Welt. Alle Töne wurden leiser und alle Farben blasser. Eisige Kälte nahm seinen Körper in Besitz. Am liebsten hätte er die Arme um sich geschlungen und hätte sich abgewandt, aber dazu hätte er sich bewegen müssen. Und das konnte er nicht. Nicht bei dem abscheulichen Bild, dass sich ihm bot.
Als er schließlich wie ein Ertrinkender nach Luft rang und seine Beine unter ihm nachzugeben drohten, taumelte er vorwärts. Er fiel auf die Knie.
Das war das Bild, das die Polizei nur wenige Minuten später vorfinden würde. Paul, der in der Mitte des kleinen Raumes kauerte und über und über mit Blut beschmiert war. Die Arme um einen leblosen Körper geschlungen, den er so verzweifelt zu retten versucht hatte. Seine einst so strahlend blauen Augen, in denen kein Zeichen des Lebens mehr zu finden war. Sie würden versuchen, ihn fortzuziehen. Er würde sich weigern, würde die Tote umklammern, weil er immer noch betete, dass sie ihre Augen wieder aufschlug.
Das war das Bild, das sich in Pauls Gehirn einbrannte und ihn nie wieder loslassen würde. Die Leiche in seinen Armen und die Unfähigkeit zu helfen.

 

Mit großen Schritten lässt Georg den Zeitungsjungen hinter sich. Er versucht, die Schlagzeile aus seinem Kopf zu bekommen. Fürchterliches geschieht eben, versucht er sich zu sagen. Das ist schon immer so gewesen und es wird auch immer so sein. Wer das leugnet, ist blind.
Es ist ein großer Mann, der plötzlich vor Georg erscheint und ihn damit zum Stehen bringt. Georg kennt den Fremden, dass weiß er. Er kann sich nur nicht erinnern. Der Fremde scheint allerdings genau zu wissen, wer Georg ist. Mit kalten Augen starrt der Mann auf ihn herunter und seine strähnigen Haare hängen ihm ins Gesicht. „Fürchtest du dich?“, fragt er. Seine Stimme klingt so hell, als gehöre sie einem unbeschwerten Jungen. Nicht diesem Mann, der so abgekämpft und erschöpft wirkt, als sei er es leid, am Leben zu sein. Seine blauen Augen schwirren fieberhaft umher und fangen alles ein, was passiert. Es scheint dem Fremden schwer zu fallen, sich auf Georg zu konzentrieren, denn sein Blick wandert immer wieder über die Umgebung.
„Ich … nein!“, ruft Georg, kann das Zittern in seiner Stimme allerdings nicht verbergen. Er hat Angst, seit er heute Morgen das Foto gesehen hat. Seitdem wächst sie ununterbrochen und verwandelt sich langsam in helle Panik.
Der Fremde sieht Georg fest an, dabei zucken seine Augen, als sei es unerträglich, auf einen Punkt zu sehen. Oder ihn anzusehen.
Schließlich entlässt er Georg aus seinem Blick und legt den Kopf kurz in den Nacken. „Solltest du aber.“, flüsterte er dabei. Dann, so unvermittelt, dass Georg ins Wanken gerät, wendet der Fremde ihm wieder sein Gesicht zu. Seine Lippen sind zu einem boshaften Grinsen verzogen und in seinen Augen funkelt der Wahnsinn.
„Fürchte dich!“, haucht er und sein Blick schweift wieder ab. Als Georg sich wieder umdreht, glaubt er, ihn lachen zu hören. Dieses Mal geht er mit langsamen, unsicheren Schritten davon, weil er mit einem Mal wie gelähmt ist.
Sein Herz pocht viel zu heftig. Es ist so laut, dass sein Schlagen in seinen Ohren und seinem gesamten Körper widerhallt. Seine Beine sind bleischwer und er muss sich für jeden Schritt abmühen. Dumpf nimmt er die Alltagsgeräusche der Stadt wahr und hört die aufgebrachten Stimmen jener, die er anrempelt. Sonst ist dort nichts.
Georg fühlt sich leer. Da sind weder Gedanken noch Gefühle. Er konzentriert sich auf seine Schritte, zwingt sich, Fuß vor Fuß zu setzen. Er ist sich nicht einmal sicher, ob er sich überhaupt noch fürchtet. Eine Taubheit hat ihn erfasst und es scheint ihm wie das Paradies, einmal nichts fühlen zu müssen.
Es ist wieder der junge Zeitungsverkäufer, der ihn zurück in die wirkliche Welt bringt. Dieser starrt den Mann an, der heute schon so oft an ihm vorbei gegangen ist. Und mit jedem Mal, dass sich ihre Wege kreuzen, scheint der Mann noch ein wenig ängstlicher und verrückter auszusehen. „In der Zeitung von heute: Der Kindesmord der Leben zerstörte.“, ruft der Junge und beobachtet, wie Georg ihn mit weit aufgerissenen Augen ansieht.
Mit einem Mal dröhnt das Schlagen seines Herzens nicht mehr in seinen Ohren und Georg befürchtet kurz, dass es stehen geblieben ist. Seine rationale Seite schaltet sich wieder ein. Endlich. Jemand bedroht ihn mit seiner Vergangenheit. Sie haben das Foto als Beweis und sie sind zu zweit. Nach Hause kann er nicht, auch nicht in sein Heimatdorf. Zum Glück hat er all seine Ausweise und etwas Geld dabei. Wobei das weniger mit Glück, als mit seiner ständigen Paranoia zu tun hat.
Georg will aus der Stadt hinaus. Wenn er erst einmal weg ist, hat er genug Zeit, sich seine nächsten Schritte zu überlegen. Zuerst muss er zum Bahnhof. Zum ersten Mal schaut er sich um und erkennt, dass er gar nicht lange bis zur nächsten Busstation braucht. Erleichterung durchflutet ihn. Gleich wird er weg sein. Georg will sich nie wieder fürchten.

Die Sonne ging gerade unter. Genauso wie gestern. Genauso wie sie es morgen tun würde. Nina konnte nicht erkennen, wieso sie sich einst über jeden einzelnen Sonnenuntergang gefreut hatte. Die Erde drehte sich eben. Mit einem Seufzen wandte sie sich vom Fenster ab. In den letzten Jahren hatte sie erkannt, wie unglaublich verträumt und naiv sie früher doch gewesen war. Die Sonne ging immer auf.
Das war ihr Motto gewesen. Wie hatte sie nicht erkennen können, wie schwachsinnig das war? Die Erde drehte sich eben. Auch wenn Nina sich wünschte, die Sonne würde nicht mehr aufgehen. Dann wäre es dunkel auf der Welt. So dunkel wie die Finsternis, die sich in ihrem Herzen eingenistet hatte. Trocken lachte sie auf. Finsternis im Herzen? Manchmal war sie noch genauso albern wie früher. Nina war aufgewacht. Sie hatte erkannt, wie grausam das Leben wirklich war und seitdem hatte sie damit abgeschlossen.
Sie griff nach ihrem Weinglas und ließ sich auf das Sofa fallen. Stöhnend kniff Nina die Augen zusammen. Alles um sie herum drehte sich. Aber noch nicht schnell genug. Sie tauschte das Glas mit der Flasche und trank einen großen Schluck daraus.
Ihre Welt stand seit fünf Jahren still. Gerade eben hatte sie noch die Annährungsversuche ihres Kollegen abgewehrt und im nächsten Moment hatte sie alles verloren. Nur der billige Wein, der ihren Hals hinunter rann, konnte diese verdammte Stille beenden. Ihr Blick glitt über die Flaschen, die sich in ihrer Wohnung stapelten. Sie konnte sie nicht entsorgen, weil sie die Wohnung nicht verlassen konnte. Sie konnte niemand einladen, weil der die Flaschen sehen würde. Das einzige, wozu sie sich im Stande sah, war das Bestellen und Trinken von Wein.
Nina prostete ihrem Schatten zu. Oder hatte sie mit sich selbst angestoßen? Mittlerweile gab es da ja kaum noch einen Unterschied. Der Gedanke kam so plötzlich, dass sie ihn nicht aufhalten konnte. Nina seufzte. Noch etwas, wogegen der Alkohol half.
Sie starrte in den immer dunkler werdenden Raum und summte leise vor sich hin. Es war eine sanfte, ruhige Melodie, eine, die sie nicht mehr loswurde. Seit die Polizei vor Jahren in ihr Büro gestürmt war, klammerte sich ihr Kopf an dieses Lied.
Als sie merkte, dass sich kein Wein mehr in ihrer Flasche befand, verdrehte sie genervt die Augen. Jetzt würde sie wieder Neuen bestellen müssen. Es würde Stunden dauern, bis er ankäme und Nina wusste nicht, ob sie solange durchhalten konnte. Ihre Gedanken ohne den betäubenden Alkohol auszuhalten, war schlicht und einfach nicht möglich.
Denn dann würden sie ohne Umschweife zu dem einen Tag vor fünf Jahren wandern. Damals war ihre Babysitterin krank geworden und ihre Mutter war verreist. Seit ihr Mann sie verlassen hatte, hatte Nina ihr Bestes versucht, ihre Tochter alleine aufzuziehen. Was gar nicht einfach gewesen war. Sie erinnerte sich an die Abende, an denen sie erschöpft von der Arbeit gekommen war und kaum noch hatte stehen können. Doch dann hatte ihr Tag noch lange kein Ende gehabt. Sie hatte sich um ihre Tochter und die Wohnung kümmern müssen. Wenn Nina jede Nacht ins Bett gefallen war, hatte sie sofort geschlafen. Sie hatte ihren Alltag verflucht, weil er ihr so viel Zeit und Energie raubte. Aber sie hatte das Geld gebraucht. Jetzt verdrehte Nina die Augen. So oft hatte ihre Mutter sie gebeten, etwas kürzer zu treten. Aber Nina hatte nicht auf sie gehört, hatte sie noch nie. Sie hatte ein perfektes Leben für ihr geliebtes Kind gewollt, auch wenn sie sich selbst dadurch mehr und mehr verlor. An jenem Morgen hatte Nina eine sehr verzweifelte Entscheidung getroffen. Eine, die sie ihr Leben lang bereuen würde.
Sie hatte nur einen Ausweg gesehen und hatte ihn ohne Bedenken genommen. Sie war egoistisch gewesen. Dass war das erste, das ihr durch den Kopf geschossen war, als der uniformierte Mann ihr Büro betreten hatte. Als sie das Blut an seinen Händen gesehen hatte.
Nina erinnerte sich vage daran, wie sie aufgestanden und zu ihm gegangen war. Seine Worte hatten sie damals nicht erreicht. Nur ihre Bedeutung. Sie hatte ihn beiseite gestoßen, war voller Furcht in den Keller gehastet. Die Tränen waren ihr ohne Unterlass über die Wangen gelaufen und sie hatte nur Platz für einen Gedanken: Was, wenn es wahr war?
Dass es wahr war, erkannte sie spätestens, als sie die Männer vor ihrem geliebten kleinen Pausenraum stehen sah. Den Raum, in den sie ihr Kind geschmuggelt hatte.
Der Raum, aus dem ihr Kollege Lindig geführt wurde. Seine Augen waren leer und sie weiteten sich nicht wie sonst, wenn er Nina sah. Lindig sah aus, als hätte er sein Leben verloren.
Nina war in den Raum gestürmt. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber garantiert nicht das viele Blut. Blut, das sich mit ihren Tränen vermischte, nachdem sie zu ihrer Tochter gestürzt war und sie in ihre Arme gezogen hatte. Nina hatte das Mädchen an sich gepresst und hatte sie angefleht wieder aufzuwachen. Immer wenn sie glaubte eine Bewegung zu spüren und voller Hoffnung zu ihrem Kind gesehen hatte, war ihr bewusst geworden, dass es ihre eigenen Schluchzer waren, die sie beide schüttelten. Nina hatte die kleine Hand gehalten, sie hatte die kalte Wange geküsst und sie hatte ein Schlaflied gesungen, das Einzige, das ihr in den Sinn gekommen war. Und die ganze Zeit war sie von dem Gedanken beherrscht worden, dass es ihre Schuld war. Sie hatte ihren Job nicht aufgeben wollen. Sie war egoistisch gewesen. Und ihre kleine Tochter hatte dafür bezahlt.

 

Die kleine Frau taucht mit einem plötzlichen Schritt vor ihm auf und schlägt ihm mit voller Wucht ins Gesicht. Der Schlag ist nicht sonderlich stark gewesen, trotzdem gerät Georg ins Wanken. Er muss blinzeln, um wieder klar sehen zu können. Mit bebender Hand tastet er sein Auge ab und weicht dabei etwas vor der Frau zurück. Auch sie erkennt er. Er kennt sie aus dem Gericht, in dem sein Fall verhandelt worden ist. Er hat sich allerdings nicht die Mühe gemacht, sie oder ihre Geschichte kennenzulernen.
„Du kennst mich nicht, richtig?“, fragt sie tödlich leise und bedenkt ihn mit einem wilden Blick. Georg schüttelt den Kopf, worauf die Frau die Fäuste ballt. Georg hebt die Hände, für den Fall, dass sie wieder zuschlägt.
„Du Mistkerl.“, faucht die Frau. „Du kennst nicht einmal die Mutter des Kindes, das du getötet hast.“
Einige Passanten drehen sich um. Manche wirken neugierig, andere verstört. „Ich habe nichts mit dem Mord zu tun.“
Die Frau lacht auf. „Ach ja?“
Stur nickt Georg und merkt, dass nun er es ist, dessen Hände sich verkrampfen. „Ja.“, erwidert er und unterdrückt das Bedürfnis, ihren stechenden Augen auszuweichen.
„Ach ja?“, wiederholt die Frau und kommt näher, bis sie dicht vor ihm steht. Jetzt kann Georg den Geruch von Alkohol und Schweiß wahrnehmen, der schwer in der Luft liegt. Er erinnert sich an die Frau, die vor Jahren mit elegantem Outfit den Gerichtssaal betreten hat. Sie hatte zerrüttet und völlig fertig ausgesehen, trotzdem hatte sie ihre Haare ordentlich hochgesteckt und sich um ihr Auftreten gekümmert. Die Frau aus seiner Erinnerung hat nichts mehr mit der gemeinsam, die vor ihm steht. Sie fährt sich aufgebracht durch die kurzen Haare, die wirken, als hätte sie sie selbst geschnitten. Hinter den beiden heult ein Motor auf und Georg bemerkt, dass sie kurz zusammen zuckt. Sie scheint sich unwohl auf öffentlichen Plätzen zu fühlen und gerade als Georg beginnen will, diese offensichtliche Schwäche für sich zu nutzen, macht sie einen Schritt zurück.
„Ich habe das Foto.“, sagt sie unbewegt, doch als Georg nach Luft schnappt, sieht er den Triumph in ihren Augen aufblitzen. Sie beugt sich ein wenig vor. „Und wir haben die Waffe gefunden. Genau dort, wo du sie laut dem Foto versteckt hast.“
Georg spürt, dass seine Beine plötzlich schwach werden und stolpert einige Schritte zurück. Die Frau lächelt. „Es war leicht, so leicht.“
Nein, das kann nicht wahr sein. Wenn es das ist, wieso steht sie hier vor ihm und ist nicht bei der Polizei? Der nächste Gedanke trifft ihn wie ein Schlag. Der Polizist hat heute vor seiner Haustür auf ihn gewartet. Ist er hier auch irgendwo? Fieberhaft sucht Georg seine Umgebung ab und sein ganzer Körper spannt sich an, als rechne er, dass jederzeit eine Horde Polizisten unter den Passanten auftaucht. Die Frau vor ihm lacht leise und ihre Augen verlieren etwas an Leblosigkeit.
„Fürchtest du dich?“, fragt sie ihn und tritt einen weiteren Schritt zurück. Und noch einen. Georg reagiert nicht, weil er genau weiß, was nun kommt.
„Fürchte dich.“, ruft sie laut und taucht dann in der Menschenmasse unter. Georg steht wie vom Donner gerührt an derselben Stelle und wagt es nicht, sich zu bewegen. Erst jetzt erkennt das Ausmaß seiner Situation. Drei Personen sind hinter ihm her. Und wenn sie ihn zur Polizei bringen, ist das wohl noch das Beste für ihn.

Neben ihm bleibt der junge Zeitungsverkäufer stehen. „Alles okay mit Ihnen?“, erkundigt er sich vorsichtig. Georg erwidert nichts. Was soll er dem Kleinen auch sagen? Er kann ihm schlecht erzählen, dass das Verbrechen, mit dem dieser seine Zeitungen verkaufen will, sein eigenes ist.
Da Georg nicht reagiert, geht der Zeitungsverkäufer weiter und beginnt wieder mit seiner Arbeit. „Lesen Sie alles über den ungesühnten Mord!“
Und Georg kneift die Augen zusammen.

Blitzlicht folgte Nina Sattler nach draußen. Hunderte Journalisten belagerten sie und noch nie hatte Amelia Reporter so sehr gehasst, wie in diesem Moment. Diese Frau hatte alles verloren. Sie verdiente Ruhe. Aufgebracht sah Amelia zu, wie sich die Frau durch die Masse kämpfte und zu ihrem Auto floh. Sie erschauderte unwillkürlich. Amelia nahm einen tiefen Zug ihrer Zigarette und stieß den Rauch aus. Dabei schloss sie die Augen. Sofort sah sie wieder die Tatortfotos des toten Mädchens vor sich.
Der Mann, Georg Bauer, der dafür verhaftet worden war, war nur wegen eines Strafzettels gefunden worden. Es war nur ein winziger Hinweis und trotzdem hatte Kommissar Wieland daraus einen Tathergang gebastelt. Für ihn bestand kein Zweifel, dass Bauer die Bank überfallen und anschließend das Mädchen getötet hatte. Amelia warf ihre Zigarette auf den Boden und trat sie aus.
„Frau Stratanovic?“, fragte eine nur allzu bekannte Stimme hinter ihr. Als Amelia sich umdrehte, stand Georg Bauer vor ihr, die Hände in den Hosentaschen vergraben und mit einem triumphierenden Grinsen im Gesicht. Seit seinem Freispruch konnte er gar nicht mehr aufhören zu lächeln.
„Ja?“ Amelia konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme hart klang. Sie schob sich eine Strähne, die sich aus ihrer straffen Frisur gelöst hatte, hinter ihr Ohr.
„Ich wollte nur…“, fing er an, hielt aber dann inne.
„Hören Sie, ich muss jetzt wirklich los.“, versuchte Amelia ihn abzuwimmeln und wollte an ihm vorbei gehen, woraufhin er sie am Arm festhielt.
„Sie haben vorhin ihren ersten Fall verloren und wirkten ganz bestürzt, dass ihr Gefühl für Schuld und Unschuld sie verlassen hat.“, meinte er und Amelia empfand sein Lächeln dabei als unglaubliche Dreistigkeit. Sie entzog ihm ihren Arm und sah ihn unbewegt an. Er hatte recht. Amelia hatte stets ein gutes Gespür dafür besessen, wer schuldig und wer unschuldig war. Das Urteil hatte aber etwas anderes gezeigt und es schien, als sei ihre Intuition doch nicht unfehlbar. Da sie nicht antwortete, fuhr Bauer fort.
„Nun, ich dachte als vorbildlicher Bürger ist es meine Pflicht, Ihnen nicht den Glauben zu nehmen.“, verkündete er. „Auf Ihr Gefühl ist Verlass.“
Amelia brauchte nur Sekunden, bis sie die Bedeutung seiner Worte verstand. „Sie geben den Mord zu?“
Bauer zuckte mit den Schultern und zwinkerte ihr verschwörerisch zu, als wären sie Vertraute. „Ich wollte das Kind nicht töten. Geplant war nur der Raub und der hat super funktioniert, bis zu dem Augenblick, an dem das kleine Gör aufgetaucht ist. Ich hatte die Wahl: Ich oder sie.“ Wieder zuckte er mit den Schultern und machte eine Handbewegung, als wollte er auf seine offensichtliche Entscheidung hinweisen.
„Nur dass sie einige Jahre im Gefängnis verbracht hätten, falls das Kind sie hätte identifizieren können. Das Mädchen allerdings ist tot.“, flüsterte Amelia entsetzt.
Georg trat einen Schritt zurück. „Jeder hätte sich in dem Moment so entschieden. Sie müssen nicht die Heilige spielen. Außerdem ist die Kleine doch selbst schuld.“
Amelia taumelte benommen zurück. Sie konnte nicht glauben, was gerade passierte. Vor ihr stand ein Kindesmörder, der von seiner Tat erzählte, ohne mit der Wimper zu zucken. Nicht einmal sein Lächeln verrutschte.
Aber das war für Amelia in dem Moment nicht das Schlimmste.
„Außerdem hat das Gericht mich freigesprochen.“, fügte er hinzu. Für Amelia fühlten sich seine Worte an wie ein Schlag ins Gesicht. Der Mann, der den Geschworenen so feierlich erklärt hatte, dass er einem Kind niemals ein Haar krümmen könnte, hatte ein kleines Mädchen mit fünf Schüssen getötet. Und der Gerichtsmediziner hatte bestätigt, dass sie bereits nach dem Ersten tot gewesen war. Ihr wurde schlecht. Der Freispruch… Bauer konnte niemals für seine Tat zur Rechenschaft gezogen werden.
Amelia ließ sich auf die Bank sinken.
„Verschwinden Sie.“, flüsterte sie, ohne den Blick zu heben.
„Aber ich wollte Ihnen gerade noch von der Tat erzählen.“, hörte sie ihn sagen. Sein Tonfall machte es offensichtlich, dass es ihm gefiel, sie so zu sehen.
Schwer atmend sah sie auf. „Sie haben soeben zugegeben, dass sie ein Kind ohne Reue ermordet haben. Sie haben beim Prozess gehört, dass der Mann, der es gefunden hat, unter Angststörungen leidet und vermutlich nie wieder ein normales Leben führen kann. Der Polizist, der sie verhaftet hat, hat alles gegeben, um den Fall zu lösen. Er hat seine Arbeit verloren, seine Familie und sogar seine Liebe zur Polizeiarbeit. Die Mutter des Kindes spricht kaum noch und kapselt sich von der Welt ab. Sie haben Leben zerstört und stehen trotzdem lächelnd vor mir. Sie widern mich an. Sie sind abscheulich und ich wünschte, dass das Gericht anders entschieden hätte.“
Nachdenklich starrte Georg Bauer sie einige Sekunden lang an. Dann beugte er sich vor. „Hat es aber nicht.“
Er zwinkerte ihr ein letztes Mal zu und ließ sie alleine zurück. Amelia war eine starke Person, die einiges wegsteckte. Sie hatte den Fall für wasserdicht gehalten und war sich sicher gewesen, dass er vor Gericht Bestand haben würde. Während der Verhandlungen war ihr nach und nach bewusst geworden, dass Kommissar Wieland zwar einen glaubhaften Tathergang zusammengebaut hatte, aber dass das meiste nur auf Vermutungen beruhte. Sie kniff die Lippen zusammen. Wie hatte sie die paar Beweise für ausreichend halten können? Bauers Anwalt hatte sie alle auseinandergenommen.
Amelia war sich nicht sicher, was sie fühlte. Sie fühlte sich schuldig, weil sie noch hätte warten sollen. Kommissar Wieland hatte ihr gesagt, dass er lieber noch etwas Zeit hätte, aber sie hatte ihm Druck gemacht. Sie lachte hart auf. Der Fall war für sie kaum von Interesse gewesen, er war zwar tragisch, aber nichts, was sie fesselte. Amelia hatte ihn unbedingt hinter sich bringen wollen, damit sie weitermachen konnte mit einer Klage, auf die sie sich schon seit Monaten vorbereitete. Sie sah sich selbst, wie sie vor den Akten von Nina Sattler und Paul Lindig gesessen hatte und sie überflogen hatte. Weil sie so schnell wie möglich zu dem großen, schillernden Fall kommen wollte, der sie weltweit bekannt machen würde.
Hätte sie sich nur einmal Zeit genommen und hätte sich die Beweislage genau angesehen, vielleicht hätte sie erkannt, dass der Fall nicht ganz wasserdicht war. Aber sie war zu arrogant gewesen. Sie hatte schon von den Schlagzeilen geträumt und sich selbst in der Zeitung gesehen.
Amelia erhob sich. Was die Sache noch viel schlimmer machte, war, dass ihr Versagen keinen gewöhnlichen Verbrecher hatte laufen lassen. Sie hatte niemanden auf freien Fuß gesetzt, der seine Tat bereute. Nein, Georg Bauer war ein kaltblütiger Mörder. Und es war ihr Verdienst, dass er nun dort draußen herumspazierte.
Mit einem Schlag erschien ihr alles in einem anderen Licht. Bei Gerechtigkeit sollte es nicht um Ruhm oder Anerkennung gehen. Amelia merkte, dass sie sich plötzlich nicht mehr sicher war, wieso sie Anwältin geworden war.
Als sie an diesem Tag das Gericht verließ, hatte sich etwas verändert. Äußerlich würde man das erst in ein paar Jahren erkennen, wenn sie ihren Beruf aufgeben und einfach dahinleben würde, ohne einen Sinn zu erkennen. Aber innerlich war das der Tag, an dem Amelia sich zum ersten Mal nicht mehr sicher war, wer sie eigentlich war. Es war der Beginn einer Zeit, in der sie langsam, aber stetig den Glauben an sich selbst verlor.

 

Georg reißt die Augen wieder auf. Kurz glaubt er, immer noch in seiner Erinnerung festzustecken. Amelia Stratanovic steht vor ihm und verzieht keine Miene. Erst als er sich selbst in den Arm kneift, erkennt er, dass die Frau vor seinen Augen echt ist. Dass alles, was heute passiert ist, echt gewesen ist.
Er mustert sie. Jetzt erscheint es ihm glasklar, dass sie keine Einbildung ist, denn niemals kann seine Fantasie sich das ausdenken. Vor ihm steht die Frau, die einst für ihre Härte und ihr Geschick gefürchtet worden ist. Amelia Stratanovic ist stets eine elegante Erscheinung gewesen. Sie hat immer schöne Kleidung getragen und nie hat ein Haar an der falschen Stelle gelegen. Georg schluckt. Die Staatsanwältin hat sich verändert. Ihre grauen Haare sind sie zu einem lockeren Zopf hochgebunden, sie trägt Jogginghose und einen alten Mantel. Vor fünf Jahren hat Georg angenommen, dass diese Frau nicht einmal eine Jogginghose besitzt. Nur ihr ernster Gesichtsausdruck ist immer noch gleich.
„Frau Stratanovic.“, nickt Georg ihr zu. Die Staatsanwältin presst den Mund zusammen. Georg merkt, dass die Angst, die ihn seit heute Morgen verfolgt hat, langsam wieder nachlässt. Das alles kann nicht mehr als ein blöder Scherz sein.
Er will sich gerade abwenden, als sie sich räuspert.
„Fürchtest du dich?“, fragt sie unbewegt. Als Georg sie überrascht anstarrt, verziehen sich ihre Lippen zu einem müden Grinsen. „Solltest du auch.“
Georg schüttelt den Kopf. „Lasst mich in Ruhe.“
Die Staatsanwältin lacht leise. „Das würde ich gerne. Aber du hast die letzten Jahre keinen von uns in Ruhe gelassen.“ Plötzlich verklingt ihr Lachen und mit einem Mal durchbohrt sie Georg mit ihrem Blick, der schon viele hat einknicken lassen. „Du wirst deine Strafe bekommen.“
Georg schüttelt erneut den Kopf. Dabei blinzelt er hektisch und versucht angesichts der Zuversicht, die sie ausstrahlt, die Lage zu überblicken. Hat er etwas Entscheidendes übersehen? „Selbst wenn Sie beweisen können, dass ich der Täter bin, wird es nichts nützen. Ich wurde freigesprochen. Niemand kann mir etwas anhaben.“, ereifert sich Georg, in dessen Bauch sich eine böse Vorahnung breit macht.
Die Staatsanwältin tritt einen kleinen Schritt auf ihn zu. „Fürchte dich!“, flüstert sie.

Dann tauchen neben ihr drei weitere Personen auf. Georg erkennt die Mutter seines Opfers, die sich neben die Staatsanwältin stellt. Links von ihm befindet sich der Polizist mit verschränkten Armen und einem grimmigen Lächeln. Auf Georgs rechter Seite steht der große Mann mit den panischen Augen. Auch jetzt schwirrt sein Blick unablässig über die Umgebung und mit zitternden Fingern nestelt er an seiner Jacke herum.
Die vier strahlen eine tödliche Entschlossenheit aus und als Georg dieses Mal in die entgegengesetzte Richtung flieht, läuft er nicht vor seiner Vergangenheit davon. Er rennt um sein Leben.

Erst später wird Georg bewusst werden, dass es kein Zufall ist, dass sie ihn in nur eine Richtung haben laufen lassen. Und dass sie ihn verfolgen und dabei immer wieder von der Seite auftauchen, sodass ihm nichts anderes übrigbleibt, als die Richtung zu ändern. Aber während er läuft, denkt er nicht daran, dass hinter all dem ein Plan steckt. Er denkt überhaupt nicht nach. Jede Faser seines Körpers verlangt danach, so viel Abstand wie möglich zu den vieren zu schaffen. Er stürzt in eine schmale Seitengasse und stößt hektisch einige Personen auf die Seite. Hinter ihm nimmt er das unerbittlich näherkommende Geräusch seiner Verfolger wahr. Jeder Kontakt ihrer Schuhe mit dem Pflaster hallt in ihm wider und verhöhnt ihn. Lauf nur weg, scheinen ihre Schritte zu rufen, sie kommen trotzdem und holen dich. Georg schnappt nach Luft, die immer viel zu schnell wieder verbraucht ist und seine Lunge schmerzt. Er atmet viel zu abgehackt, viel zu panisch und er weiß, dass er dieses Tempo nicht mehr lange durchhalten wird. Und je verzweifelter er nach Atem ringt, desto langsamer wird er. „Fürchtest du dich?“, hört er hinter ihm die Staatsanwältin rufen. Georg schluchzt auf und zwingt seinen Körper, noch einmal zu beschleunigen. Mit jedem Schritt spürt er, dass sein Adrenalin einer alles überschattenden Furcht weicht, die ihn lähmt.

Als er das alte Tor bemerkt, das sich nicht unweit von ihm befindet, flimmert ein Hoffnungsschimmer in ihm auf. Vielleicht kann er diese Verrückten in dem Park abhängen. Mit bebender Hand drückt er die verrostete Klinge hinunter und betet, dass er schnell genug ist.
Und das ist er. Er sprintet den Weg entlang und erst, als die Bäume ihm nicht mehr die Sicht versperren, erkennt Georg, wo er sich befindet. Er starrt auf die vielen grauen Steine, die wie ein Teppich den Boden bedecken und die zahlreichen Gräber markieren. Tränen laufen ihm unaufhörlich über die Wangen und als er das Lachen des Polizisten hinter sich wahrnimmt, löst er sich aus seiner Erstarrung. Georg eilt den Kiesweg entlang, so schnell es ihm irgendwie möglich ist. Mehrere Male stürzt er beinahe, doch er schafft es, sich immer wieder zu fangen. Als er eine hohe Mauer vor sich entdeckt, hält er abrupt an. In seiner blinden Flucht hat er nicht gemerkt, dass er geradewegs in etwas stolpert, aus dem er nicht mehr entkommen kann. Kaum, dass er diesen Gedanken zu Ende gebracht hat, hört er seine Verfolger hinter sich. Es wirkt wie der letzte Versuch eines Mannes, der an seinem Ende angekommen ist, als Georg gegen die Mauer tritt. Als er mit seinen Fäusten dagegen trommelt und versucht, daran hinauf zu klettern. Und gewissermaßen ist es auch so. Er wischt sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht und lehnt die Stirn gegen das kühle Gestein. Was hat er nur getan, um das hier zu verdienen? Mit einem Mal verstummen die Schritte seiner Verfolger und Georg scheint es, als streife ihr kalter Atem seinen Nacken. Eine Gänsehaut legt sich über seine Arme, als er erschaudert.
Langsam dreht er sich herum und presst sich feste gegen die Mauer. Als er die Gesichter derer sieht, deren Leben er zerstört hat, gefriert das Blut in seine Adern. In ihren Mienen liegt nicht mehr und nicht weniger als ein Versprechen.

„Und wie fühlst du dich jetzt? In deinen letzten Minuten.“ Georg weiß nicht, wer ihm diese Frage gestellt hat und es ist ihm auch egal. Er antwortet nicht.
„Jetzt weißt du, wie meine kleine Tochter sich gefühlt hat.“, stößt die Mutter hervor und ihn ihren Augen liegt so viel Hass, dass Georg schlecht wird.
Er schüttelt den Kopf. „Nein!  Deine Tochter hat nichts mitbekommen! Es ging ganz schnell, ich habe…“
„Meinst du, dass macht irgendetwas besser? Du hast sie getötet.“, unterbricht ihn die Mutter mit bebender Stimme.
„Und du hast noch vier Mal auf sie geschossen, als sie schon längst tot war.“, flüstert der junge Mann in die Stille hinein, die sie plötzlich umfängt.
Georg richtet seinen Blick auf ihn. „Wer bist du überhaupt?“ Er kann nicht verhindern, dass seine Stimme barsch klingt. Der Mann, dessen Augen ihn mit einem Mal ruhig fixieren, anstatt nervös die Gegend abzusuchen, tritt einen Schritt nach vorne.
„Ich habe sie gefunden.“, erklärt er heiser. „Ich habe versucht, sie zu retten.“
Der Schmerz, der dabei in seinem Gesicht aufflackert, lässt Georg wieder etwas Selbstvertrauen gewinnen. „Es tut mir leid, was ich getan habe. Wirklich! Es vergeht kein Tag, an dem ich es nicht bereue.“ Während er spricht, presst er eine Hand auf sein Herz und bemüht sich um einen leidenden Gesichtsausdruck. Die Mutter lacht hysterisch auf. „Es tut dir leid?“, kreischt sie. „Wenn du es wirklich so sehr bereust, was du getan hast, dann sag mir ihren Namen!“
Georg erstarrt. Ein grimmiges Lächeln umspielt ihre Mund, als sie ebenfalls einen Schritt nach vorne tritt. Die Staatsanwältin und der Polizist folgen ihr.
„Na los!“, verlangte sie. „Sag mir ihren Namen.“ Die folgende Stille klingt in Georgs Ohren so laut, dass er sie kaum erträgt.
„Er kann es nicht.“, ergreift die Staatsanwältin das Wort. „Er kann es nicht. Er hat sich während dem Prozess nicht dafür interessiert, wem er das angetan hat und es interessiert ihn auch jetzt nicht. Seit er das Gericht damals verlassen hat, hat er nie wieder darüber nachgedacht.“ Sie scheint kurz auf seine Bestätigung zu warten, wendet sich dann jedoch den anderen zu. „Wir wissen, was wir zu tun haben. Warum wir hier sind.“
Die Mutter blickt noch einmal zu ihm und mit einem Schlag verschwindet jedes Gefühl aus ihren Augen. „Für Mona.“, sagt sie und holt eine Pistole aus ihrer Tasche. „Für meine kleine Tochter.“
„Für Mona.“, wiederholen die anderen und ziehen ebenfalls eine Waffe hervor. Jegliche Hoffnung verlässt Georg und er sinkt ein wenig in sich zusammen. Er hat keine Kraft mehr. Er ist nicht dazu in der Lage, den Schein noch länger aufrecht zu halten. Er kann nicht mehr. Als er das nächste Mal den Kopf hebt, hat sein Lächeln nichts Freundliches mehr. „Ihr habt Recht. Ich wusste ihren Namen nicht.“, gibt er zu und reibt sich über die Stirn. „Seit ich freigesprochen wurde, habe ich nicht mehr an euch gedacht. Ich habe überlebt, sie nicht.“
Die Mutter schnappt entsetzt nach Luft und auch den anderen weicht die Farbe aus dem Gesicht. Georg richtet sich ein wenig auf. „Obwohl das genau gesehen falsch ist. Schon während des Prozesses seid ihr mir egal gewesen. Jeder einzelne von euch.“
Der Polizist ballt seine Fäuste und seine Haltung drückt den blanken Zorn aus, der sein gesamtes Inneres eingenommen hat. Die Anwältin legt ihm eine Hand auf den Arm und sieht ihn beschwörend an, woraufhin er tief durchatmet.
Georg kann sich ein Lachen kaum verkneifen. Sie stehen alle bewaffnet vor ihm und haben sich alle darauf vorbereitet, ihn heute zu töten. Aber sie werden es nicht tun. Sie haben nicht das Zeug dazu, jemanden umzulegen.
„Wisst ihr, ich war ganz schön überrascht, als ich plötzlich auf dieses kleine Mädchen stieß.“, fährt Georg im Plauderton fort. „Der Keller war mein Ein- und Ausgang. Ob ich sie übersehen hatte, als ich dort aus der Luke stieg, weiß ich nicht. Aber als ich wieder da durch wollte, war sie auf einmal da. Sie saß da und fragte mich, ob ich ihr nicht etwas vorlesen möchte.“
Die Mutter ringt schluchzend nach Luft. Sie weiß nicht, wie lange sie das noch ertragen kann. Der junge Mann, der das Mädchen damals gefunden hatte, legt einen Arm um ihre Schulter und zieht sie an sich.
„Ich weiß noch, dass ich sie angestarrt habe, als sei sie eine Einbildung. Und dann habe ich den Kopf geschüttelt und sie hat mich nach der Narbe an meinem Kinn gefragt.“, erzählt Georg und fährt sich dabei gedankenverloren über das Kinn. „Genau das war der Moment, in dem ich erkannte, dass ich ein mächtiges Problem hatte. Ich hatte ja noch nicht einmal viel geklaut. Und dafür hätte ich ins Gefängnis gehen sollen? Ich fand das nicht fair und als ich das Kind so anschaute, wusste ich, dass ich keine Wahl hatte. Ich erschoss sie, als sie gerade nach dem Buch griff.“
Die Mutter presst sich an den jungen Mann, als wäre es zu viel für sie. Sogar die taffe Anwältin krallt ihre Finger in den Arm des Polizisten.
„Und dann schoss ich noch mal. Ich weiß gar nicht, wieso ich noch vier Mal geschossen habe. Ich glaube es war die Art, wie ihr Körper zuckte und ihr Blut sich verteilte. Wie kleine Farbspritzer.“, erklärt Georg und schüttelt dann den Kopf. „Das klingt, als wäre ich verrückt. Ich habe es nicht gern getan und definitiv nicht geplant, aber es war eben nötig.“
Mit einem Schrei löst sich die Mutter von dem jungen Mann und richtet entschlossen eine Waffe auf ihn. Ihr Blick ist voller Trauer und Verzweiflung. Georg breitet die Arme aus. „Erschieß mich doch.“ Er weiß genau, dass sie es nicht tun wird.
„Nein.“, greift die Anwältin ein und dreht sich zu der Mutter. „Halt dich an den Plan, Nina.“
Georg blinzelt überrascht. Sie haben einen Plan? Als der Polizist eine fünfte Pistole aus seiner Jacke holt, weiten sich seine Augen. Und als er sie vor Georgs Füße wirft, beginnt dieser zu lachen. Es ist ein hysterisches Lachen und sein Blick wandert von einem zum anderen, um die Lage einzuschätzen.
„Erkennst du die Waffe?“, fragt der junge Mann. „Es ist dieselbe, mit der du Mona getötet hast. Wir haben sie gefunden.“
Georg hebt die Waffe auf. Er erinnert sich daran und auch an das Gefühl, damit zu schießen. Dann, ohne weiter zu überlegen, hebt er die Waffe und zielt auf die Mutter.
„Das würde ich nicht tun.“, meint die Anwältin kühl und weist mit einem Kopfnicken auf den Polizisten. Als Georg zu diesem blickt, bemerkt er erst, dass auch auf ihn gezielt wird.
„Er erschießt dich, wenn du abdrückst.“, fügte sie hinzu.
Georg stößt seinen gehaltenen Atem aus. „Das tut er sowieso. Und wenn ich gehen muss, dann nehme ich noch jemanden mit.“
Plötzlich lacht der junge Mann leise. „Das glaube ich nicht.“
Dann, als hätten sie es einstudiert, heben die anderen drei ihre Waffen. Ruhig stehen sie da.
„Ihr bringt mich sowieso nicht um.“, ruft Georg und schluckt. Er ist sich schon lange nicht mehr sicher.
„Das stimmt.“, bestätigt die Staatsanwältin und als er sie verwirrt ansieht, lächelt sie leicht. „Sieh mal neben dich.“
Zuerst weiß Georg nicht, was sie meint, doch als er sich umsieht, erkennt er einen Grabstein in seiner Nähe. Er muss die Inschrift nicht lesen können, um zu wissen, wem diese Ruhestätte gehört.
„Wir dachten, in der Nähe ihres Grabes sein ein perfekter Ort für dich zum Sterben.“
Georg bemerkt, dass die Waffe in seiner Hand zu zittern beginnt. Da räuspert sich der Polizist, der bislang geschwiegen hat.
„Ich bin ein guter Schütze.“, meint er und lässt Georg nicht aus den Augen. „Ich würde deinen Fuß genau treffen, wenn ich abdrücke.“
Verwirrt starrt Georg ihn an. „Ich finde eher, wir sollten einen Arm nehmen.“, schlägt die Mutter vor. Daraufhin schüttelt der junge Mann den Kopf. „Ich bin für ein Knie. Oder zwei Arme.“
„Tja, wo dauert das Sterben wohl am längsten? Wo ist es am schmerzhaftesten? Ich bin dafür, dass wir es herausfinden.“, ruft die Staatsanwältin.
Georg blickt auf die Waffe in seiner Hand. „Ihr wollt mich leiden lassen.“
Die Mutter lacht, als sei das eine dumme Feststellung und der Polizist entsichert seine Waffe. „Es gibt einen Weg, wie du den Schmerzen entgehst.“, sagt er.
Dabei weist er mit einer Kopfbewegung auf Georg und blickt zu seiner Waffe. Das ist der Moment in dem Georg begreift, wie er sterben soll.

„Ihr wollt, dass ich mich selbst umbringe.“, haucht er entsetzt.
Panisch schüttelt Georg den Kopf und senkt seine Waffe. „Das werde ich nicht tun. Niemals.“
Der junge Mann entsichert seine Waffe. „Dann stell dich auf höllische Schmerzen ein und einen langsamen Tod. Du wirst leiden und alles bereuen. Aber dann wird es zu spät sein.“
„Ich bereue nichts.“, stößt Georg hervor und richtet seinen Blick auf die Anwältin. „Außer, dass ich dir damals die Wahrheit gesagt habe. Das war mein größter Fehler. Nein Verzeihung. Mein einziger Fehler.“
Die Anwältin entsichert ihre Waffe. Sie sieht nicht mehr gefasst und gleichgültig aus. Doch obwohl man ihr ansehen kann, wie aufgewühlt sie ist, zielt sie entschlossen auf ihn.
„Lasst es uns tun. Es wird Zeit, dass dieser Mörder seine gerechte Strafe erhält.“ Die Stimme der Mutter klingt ein wenig schwach, doch auch sie hält weiterhin die Waffe auf ihn gerichtet. Als sie entsichert, presst Georg verzweifelt seine Waffe gegen seine Stirn. Er hofft, die vier damit aufhalten zu können.
„Wir tun es gleichzeitig.“, meint der junge Mann und holt tief Luft. „Zielt auf die Füße.“
Georg weiß, dass bestimmt nicht alle treffen werden. Doch das wird sie nicht aufhalten. Seine Augen suchen fieberhaft nach einem Ausweg. Aber es gibt keinen. Hat es auch noch nie gegeben.
„Eins.“, ruft der Polizist. Seine Hand ist ruhig und genauso fühlt auch er sich.
Georg spürt das kühle Metall auf seiner Stirn. Er bemerkt seine Tränen und sein viel zu schnell pochendes Herz. Und er fragt sich, wie lange er dieses stetige Schlagen noch hören wird.
„Zwei.“, ruft der junge Mann. Seine Augen liegen fest auf Georg und zum ersten Mal seit langem hat er keine Angst mehr.
Georgs Verstand weigert sich, all das zu akzeptieren. Immer wieder versucht er, eine Lösung zu finden. Aber tief drinnen erkennt Georg, dass es schon längst entschieden ist, wie der Tag heute endet.
„Drei.“, ruft die Mutter. Ihre Gedanken sind klar und sie konzentriert sich auf den Mörder ihrer Tochter. Sie tut das für Mona und für ihren eigenen Frieden.
Georg versteift sich, bis ihm bewusst wird, dass sie noch weiter zählen werden. Er presst die Augen zusammen und spürt die schwache Sonne auf seinem Gesicht. Ein kalter Luftzug hüllt ihn ein. Eine Träne läuft über seine Wange.
„Vier.“, ruft die Staatsanwältin. Ihre Haltung ist gerade, ihre Stimme fest. Sie nimmt ihr Leben wieder selbst in die Hand.
Und Georg drückt ab.

 

 

 

One thought on “Fürchte dich

  1. Nice! Das hat wirklich Spaß gemacht zu lesen. Hab dabei total die Zeit vergessen können. Dein Einstieg hat mir besonders gut gefallen & das immer wiederkehrende „fürchte dich“ hat auch wirklich seinen Reiz. Dran bleiben! 🙂
    Herzlich, die Lia 💚🌿

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