Aurora CarlVergessen

Mein Name ist Hanna. 

Zumindest dachte ich das bis vor drei Wochen… 

Denn da begann sich mein Leben von Grund her zu ändern.

Als ich vor fünf Jahren im Krankenhaus aufwachte wusste ich nicht wer ich bin oder wo ich her komme. 

Um mich herum nur fremde Gesichter von besorgten Ärzten und Schwestern. 

Das monotone Piepen meines eigenen Herzschlages im Ohr.

Jenes Piepen halt heute des Nachts noch in meinen Inneren nach, wenn ich schweißgebadet aus einem unruhigen Schlaf hochschrecke und versuche meine Orientierung wieder zu gewinnen und das Gefühl des Verlustes abzuschütteln.

Auch wenn dies mittlerweile mein Leben ist, so weiß ich dennoch, dass in den hintersten Winkeln meines Bewusstseins ein dunkles Geheimnis lauert, welches nur drauf wartet auf mich nieder zu prasseln, wie der Monsun auf den Amazonas und mich in den Abgrund zu ziehen.

So war es regelrecht eine Erleichterung als ich das Handy auf meiner Fußmatte fand. Der Stillstand meines Lebens schien sich endlich aufzulösen.

Es war an einem Sonntagmorgen. Ich wollte gerade meinen Kater hereinlassen als mir der kleine silberne glänzende Apparat auf der Schwelle zu meiner Wohnungstür auffiel.

Zunächst dachte ich, dass einer meiner Nachbarn versehentlich sein Mobiltelefon verloren und mein Kater, ganz der Jäger, dieses als Trophäe an sich genommen hätte.

Ich mache mich gerade dazu bereit ihm eine Standpauke zu erteilen als in diesem Moment der kleine silberne Kasten zu vibrieren beginnt und den Eingang einer SMS ankündigt.

Ich bückte mich um das Gerät genauer zu inspizieren. Als ich das Handy in die Hand nahm öffnete sich die Nachricht in welcher stand nur ein einziges Wort stand „Gefunden“. Über dem Text war ein Bild von mir zu sehen, wie ich am letzten Freitag vollgepackt mit meinen Einkäufen die Straße zu meiner Wohnung entlang laufe. Ich blickte mich in meinem Treppenhaus um. Doch außer mir befand sich niemand in diesem tristen grauen Aufgang. Über mir knackte die Neoleuchte und begann zu flackern. 

Sogleich lief der kalte Schweiß meinen Rücken herab und mein Herz begann zu rasen. Mich überkam ein mulmiges Gefühl.

Hatte ich mir das Gefühl des Beobachtet werdens doch nicht eingebildet?

Das Bild scheint der Beweis zu sein. Doch was wollte mir der Absender damit sagen? 

Hat es vielleicht etwas mit den Ereignissen von vor fünf Jahren zu tun?

Ich scheuchte meinen Kater in die Wohnung und drücke das Telefon an meine Brust. Ich hatte das Gefühl, dass ich mich und dieses Geheimnis um alles in der Welt schützen muss.

Zurück in der Wohnung setzte ich mich an meinen abgewetzten Küchentisch. Das Linoleum auf dem Boden quietscht als ich den Stuhl hervorzog.

Ich ließ mich auf den Stuhl fallen und begann den seltsamen Kasten in meiner Hand genauer zu untersuchen.

Es war ein einfaches Telefon. Keines von den hochmodernen Geräten mit Internetverbindung oder E-Mail-Account. Man konnte Fotos mit dem Telefon schießen und diese per SMS versenden.

Aber außer dieser Nachricht war nichts weiter zu finden. Das Telefonbuch war leer. Keine Nummern eingetragen, welche hätten Aufschluss über den Absender liefern können.

Auch die Nummer des Absenders der Nachricht war nicht zu erkennen.

Ich blieb also völlig ahnungslos zurück.

Mein Kater schlich um eine Füße. Er schien zu bemerken, dass mich etwas sehr aufwühlte.

Was wollte mir der anonyme Absender der Nachricht damit sagen?

Als ob er meine Gedanken lesen könnte, erreichte mich in diesem Moment die nächste Nachricht.

Auch in dieser stand nur ein Wort „Vergessen“. Dazu erhielt ich wiederum ein Bild. Es zeigte mich wesentlich jünger. Das Bild muss vor meinem Erwachen vor fünf Jahren entstanden sein. Denn auf diesem ziert keine riesige Narbe meine rechte Wange.

Neben mir auf dem Bild sehe ich einen jungen Mann. Er ist sehr attraktiv und wir schienen uns zu kennen. Der Umgang zwischen uns scheint sehr vertraut. Wir lachen und er hat seinen Arm um mich gelegt. Die Sonne scheint und alles erscheint so friedlich.

Wer ist nur dieser Mann? Ich weiß, dass ich ihn kennen muss. Wir sehen so glücklich auf diesem Bild aus. Doch mein innerstes schreit mir dennoch zu, dass ich fliehen muss. Ich konzentrierte mich auf das Bild und versuchte eine Verbindung zu einem Namen herzustellen. Doch nichts. In meinem Kopf herrschte nur leere.

Mein Adrenalinspiegel stieg ohne ersichtlichen Grund und mein Herz begann zu rasen um so mehr ich mich auf das Bild konzentrierte. Ich fühlte, wie sich meine Luftwege zuschnürten und ich begann um meinen Atem zu ringen.

Ich versuchte mich selbst zu beruhigen. Tief ein- und langsam ausatmen. So wie sie es dir in der Therapie beigebracht haben. Es gibt keinen Grund zur Panik.

Das sollte bestimmt nur ein böser Streich sein. So versuchte ich mir die Situation klein zu reden und meine Selbstkontrolle wieder zu gewinnen.

Das beharrliche Streichen um meine Füße sowie das gute Zureden meiner selbst beruhigte mich langsam. Nach ein paar Minuten hat sich mein Herzschlag wieder soweit normalisiert, dass ich wieder freier atmen konnte.

Nun gut dachte ich mir. Es scheint dich jemand aus deiner Vergangenheit gefunden zu haben.

Vielleicht will er dich ja gar nicht erschrecken sondern nur sein kommen ankündigen. Vermutlich weiß er, wie es um dich steht und möchte mich nur so darauf vorbereiten.

So muss es sein.

Mit diesen hohlen Floskeln wandte ich mich von dem Telefon ab und verstaute es in der Schublade meiner Küche.

Ich nahm mir meine Tasse, mit dem mittlerweile lauwarmen Tee, und begab mich in mein Wohnzimmer.

Als ich mir vor fünf Jahren eine Wohnung suchen musste konnte ich nicht wählerisch sein. Ich hatte zu nehmen, was mir angeboten wurde. Die ersten Monate hat eine Stiftung meine Miete übernommen, sodass ich dankbar war überhaupt ein Dach über dem Kopf zu haben.

Mittlerweile arbeite ich als Kellnerin und könnte mir eine schönere Wohnung leisten. Doch hier hatte ich einen Zufluchtshafen gefunden und es kam mir falsch vor hier weg zu gehen. Die knarzenden Dielen versprachen Geborgenheit und Sicherheit in den Engen dieser anonymen Stadt.

Ich weiß nicht, warum ich hier geblieben war. Vermutlich hatte ich schon immer das Gefühl mich verstecken zu müssen.

Und wo ging das besser als in mitten einer Großstadt mit mehreren Millionen Einwohnern.

Ich setzte mich auf mein durchgesessenes Sofa, ein Geschenk der Stiftung, und blickte aus dem Fenster. Durch die verschmierten Scheiben, welche durch den Dreck einer Großstadt und Jahren von Vernachlässigung teilweise matt und fast blind geworden waren, kann ich auf einen kleinen Hinterpark schauen. 

Im Sommer tobten dort die Kinder während die Mütter in Gruppen beieinander standen und sich unterhielten.

Immer wenn ich diese Szene betrachtete überkam mich eine Welle von Wehmut. In meinem Bauch zog sich was zusammen und ich legte Instinktiv eine Hand auf meinen Bauch. Als ob ich etwas verloren hätte, von dem ich noch nicht einmal wusste, was genau ich haben wollte oder verloren hätte. Mein inneres Gefühl sagt mir, dass in meinem Leben kein Platz für ein Kind gab und ich hatte mich damit abgefunden. Das Gefühl des Verlustes verlässt mich dennoch nie.

Heute war das Wetter trist und grau. Ein dunkler feuchter Schleier überzog die ganze Stadt. Wer nicht vor die Tür musste blieb zu Hause. Zum Glück hatte ich frei, sodass mich nichts nach draußen zog.

In dem kleinen Park schwang traurig eine Schaukel vor sich hin. Dieses Bild spiegelte meinen Gemütszustand gut wieder. Verlassen, kalt und verloren.

Ich hing meinen Gedanken nach als ich eine Bewegung am Rande des Parks wahr nahm. Es schien so, als ob sich ein Schatten aus dem Gestrüpp löste und sich in meine Richtung drehte. 

Aber das kann nicht sein. Das waren bestimmt nur die Nachwirkungen des Morgens, versuche ich meine Gedanken wieder in den Griff zu bekommen und eine erneute Panikwelle wie sie mich zuvor erfasste zu unterdrücken. 

In diesem Moment erklang ein Piepen aus der Küche.

Mit einem Satz war ich auf den Beinen und auf dem Weg in meine Küche. Meine Hände und Knie zitterten, sodass ich mich an der Wand meines Flur abstützen musste um mein Gleichgewicht nicht zu verlieren.

Mein Kater protestierte über die Störung seiner Fellpflege, welcher er gewissenhaft unter meinem Küchentisch nachkam.

Mit zitternden Händen nahm ich das Handy aus der Schublade. Ich war so nervös, dass sich diese zunächst verkeilt, sodass ich kräftig ziehen musste um diese zu lösen und an das Mobiltelefon zu gelangen.

Es war eine neue SMS.

Zu sehen war das Bild der traurigen Schaukel in dem kleinen Park auf welche ich noch vor wenigen Augenblicken starrte. Dazu war das Wort „Verloren“ zu lesen.

Damit war es um meine Beherrschung geschehen. Ich begann zu hyperventilieren. Meine Hände waren schweißnass. Ich hörte nur noch ein Dröhnen in meinen Ohren und meine Sicht begann zu verschwimmen.

Ich umklammerte die Arbeitsplatte und versuchte irgendwie das Bewusstsein zu behalten und die aufsteigende Panikattacke zurück zu kämpfen.

In der einen Hand noch immer das Telefon tastete ich mich zu einem der Küchenstühle vor. Mit einem schweren plumps ließ ich mich auf diesen fallen und legte den Kopf auf der Tischplatte ab.

Ich musste mir was überlegen. Diesen Schatten hatte ich mir wirklich nicht eingebildet. Es war jemand da draußen. Er schien mich zu beobachten. Woher sollte er sonst wissen, dass ich gerade aus dem Fenster gesehen habe.

Ich musste die Vorhänge zuziehen. Wie von einem elektrischen Schlag, mit neuer Energie versorgt, sprang ich auf und zog in der gesamten Wohnung die Vorhänge und Jalousien zu.

Dadurch bereitete sich eine diffuse Dunkelheit aus, wodurch meine Beklemmung verstärkt wurde.

Um dieses Gefühl zu verscheuchen schaltete ich in der ganzen Wohnung das Licht an und kontrollierte, ob meine Wohnungstür tatsächlich verschlossen war.

In diesem Moment schimpfte ich mich selbst, dass ich nicht noch einen Riegel an dieser angebracht hatte, wie von meinem Vermieter empfohlen. So musste das alte klapprige Türschloss seine Dienste leisten.

Während ich überlegte, wie es nun weitergehen soll steuerten meine Füße ganz automatisch auf meinen Festnetzanschluss zu. Unbewusst begann ich die Nummer meines ehemaligen Therapeuten zu wählen. Wie in Trance nahm ich erst viel zu spät wahr, dass kein Freizeichen ertönte. Das Telefon war tot. Übelkeit überkam mich.

In meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Was soll das? Was hat das zu bedeuten? Was will er? Warum passiert mir das? Ein Gedanke überlagerte jedoch alles. Scheiße ich muss hier weg!

Völlig aufgelöst tigerte ich in meiner Wohnung umher. Der Griff meiner Hände in meinen Haaren verstärkte sich und es dauerte nicht lange bis ich die ersten Strähnen meiner blonden Haare in den eben jenen hielt.

Okay Hanna ganz ruhig. Du musst dich beruhigen und nachdenken.

Doch ich konnte mich nicht beruhigen. Irgendjemand trieb hier ein ganz mieses Spiel mit mir. 

Piep! 

Dieser Ton kündigte den Eingang einer weiteren Nachricht an. Mit zittrigen Händen nahm ich das Gerät an mich und öffnete die Nachricht.

Zu sehen ist meine Wohnungstür und die Worte „Klopf Klopf“.

Mit einem dumpfen knall landete das Handy auf dem Boden meiner Küche. Der Aufprall hallte in meiner Küche und meinen Ohren viel zu laut wieder. Ich konnte mich nicht bewegen. Doch ich wusste, dass ich zur Tür gehen muss um mich selbst zu überzeugen, dass da niemand ist. 

Hilfe konnte ich auf Grund des kaputten Telefons nicht rufen. Ein Mobiltelefon besass ich nicht. Ich hatte keine Freunde und mein Chef aus dem Café wo ich arbeitete konnte mich über mein Festnetztelefon erreichen. 

Von meinen Nachbarn konnte ich auch keine Unterstützung erwarten. Hier interessieren Hilfeschreie irgendjemanden herzlich wenig. Jeder kümmert sich um seine Angelegenheiten. Dies war mir bisher immer ganz recht, doch in diesem Moment hätte ich einen aufmerksamen Nachbarn gut gebrauchen können.

Mit zittrigen Knien und unsicheren Gang welcher einem jungen Kitz glich, schlich ich zu meiner Tür.

Ich kannte jede Diele in meiner Wohnung, sodass ich ungehört zur Tür gelang. 

Mein Vermieter war so umsichtig zumindest einen Spion einzubauen, sodass ich durch diesen auf den Flur blicken konnte.

Mit angehaltenen Atem schaute ich hindurch und mir gefror das Blut in den Adern. 

Da stand er. Dunkel, gefährlich und den Blick starr auf meine Tür gerichtet. Seine Lippen umspielte ein grausames Lächeln. Er wusste, dass ich durch den Spion blickte. Er wusste, was das für Gefühle in mir auslöste.

Ich unterdrücke einen Aufschrei und trat zur Seite. Mit rasendem Herzen und und weichen Knien lehnte ich an der Wand neben der Tür. Da ertönte dieses von mir mittlerweile so verhasste Geräusch aus der Küche.

Ich schlich zurück und warf einen Blick auf das Display. Zu sehen war ein Schlüssel und das Wort „Zuhause“.

In diesem Moment klickte das Schloss meiner Eingangstür und ich vernahm, wie diese krachend ins Schloss fiel. Mir entfuhr ein markerschütternder Schrei. All die Angst der letzten Stunden entlud sich mit einem Mal.

In den Bruchteilen der Sekunden, die mein Hirn benötigte die Situation zu erfassen, ist der Eindringling durch meinen Flur geschritten und stand gefährlich drohend vor mir. Eine Hand schnellte vor und legte sich über meinen Mund.

Ich versuchte ihm zu entkommen und mir eine Waffe zur Verteidigung zu schnappen, doch es war hoffnungslos. Er hatte mir den Weg abgeschnitten und in die hinterste Ecke meiner Küche gedrängt.

Mein Kater fauchte und versuchte den Angreifer in die Flucht zu schlagen. Doch er wurde von meinem Eindringlich einfach bei Seite getreten und landete mit einem dumpfen Schlag an der Küchenzeile, wo er benommen liegen blieb.

Der Mann stand nun genau vor mir und ich konnte ihn endlich richtig sehen. Es war der Mann von dem zweiten Foto. Der Mann der mir so vertraut vor kam und vor dem ich doch gleich instinktiv Angst hatte.

„Hallo Liebling. Ich bin zu Hause.“ Seine Stimme war melodisch und strich über mich hinweg wie Samt. Doch Samt verursacht bei mir Gänsehaut, sodass ein sich kalter Schauer über meinen Rücken rollte.

„Na nu, hast du mich denn gar nicht vermisst? Hat es dir die Sprache verschlagen? Ich habe dich so lange gesucht und endlich gefunden.“ Mit der freien Hand schlug er mir hart ins Gesicht. Tränen flossen meine Wange hinab und ich versuchte soviel Luft wie möglich durch die Nase zu bekommen um einen aufkommenden Schrei zu unterdrücken.

„W-w-wer sind Sie?“, mühsam presste ich diese Worte hervor, als er endlich seine Hand ein wenig vor meinem Mund lockerte. Meine Stimme war nur ein krächzen und ich musste mich zusammenreißen vor Panik nicht ohnmächtig zu werden oder mich zu übergeben.

„Oh mein Liebling, hast du mich etwa vergessen? Dann werde ich dir eine kleine Auffrischung geben müssen.“ Er zwängte mich grob auf den Küchenstuhl und zauberte von irgendwoher ein Seil herbei mit dem er mich an diesen fesselte. So sehr ich mich wehrte, er war wesentlich stärker als ich und hielt mich gut in Schach. 

Völlig bewegungsunfähig und von Angst gelähmt musste ich mit grauen meinem Eindringlich dabei zusehen, wie er sich ein Messer aus einer der Schubladen holte und damit gemächlich auf mich zu kam. Er bewegte sich so sicher in der Küche, dass ich das Gefühl nicht los wurde, dass er nicht zum ersten mal hier war.

In seinen Augen brannten nur Rache und abgrundtiefer Hass. 

Doch ich konnte mir nicht erklären woher dieser ungeheure Hass auf mich herrührt. Einmal mehr verfluchte ich mein löchriges Gedächtnis.

Ich zerrte an den Fesseln, sodass sich das Seil tief in meine Haut schnitt und aufscheuerte. Ich wollte mich nicht kampflos geschlagen geben.

Doch es war zwecklos. Die Fesseln waren zu fest und ich konnte sie nicht lockern.

„Also wo fangen wir an, Elisabeth? Wie wäre es mit deinem Namen? Wie nennst du dich jetzt Liebling?“ seine Stimme sollte ruhig und beruhigend wirken doch bei mir stellen sich gegenteilige Gefühle ein. Ganz so, als ob mein Körper etwas weiß, was mein Kopf nicht verarbeiten kann.

„H-hanna“ stotterte ich und versuchte gegen die aufkeimende Übelkeit anzukämpfen.

Ein kaltes irres Lachen ertönte durch die stille Wohnung. Mein Angreifer schien den Verstand verloren zu haben. Warum zum Teufel sollte er bei meinem Namen in einen Lachanfall verfallen.

„Oh mein Liebling du verstehst die Ironie hinter diesen Namen nicht. Aber gut, dazu kommen wie später. Jetzt reden wir erst einmal darüber warum wir uns beide heute hier so nett unterhalten.“

Er zog sich einen eigenen Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich mir gegenüber.

„Nun denn lassen wir den Spass beginnen.“

Er lehnte sich auf seinem Stuhl vor und mir schlug eine Welle seines fauligen Atems entgegen. Es war eine Mischung aus schalem Alkohol, Zigarettenrauch und Zähnen die viel zu lange keine Zahnbürste mehr gesehen haben. Ich musste ein würgen unterdrücken und den Kopf abwenden um frei atmen zu können.

Doch dies wollte mein Gast sich nicht gefallen lassen und drehte mit Gewalt mein Gesicht wieder dem seinen zu.

„Tststs Liebling, jetzt verweigere mir doch nicht dein schönes Gesicht. Ich musste schon viel zu lange auf dessen herrlichen Anblick verzichten. Wobei der Anblick nicht mehr ganz so ungetrübt ist. Diese böse schlimme Narbe hier.“ Sein Finger strich über meine Wange auf welcher seit ich mich erinnern kann eine große bereite Narbe verläuft. Ich muss ein schütteln unterdrücken und hoffte, dass er wieder von mir ablässt. Doch weit gefehlt. Er kam mit seinem Gesicht meinem immer näher bis seine Wange meine berührte und er in mein Ohr flüstern konnte: „Diese Narbe ist die letzte Erinnerung an uns und an das was hätte sein können.“ 

Der Eindringling zog sich abrupt zurück und stieß mich auf meinem Stuhl zurück. Ich musste einen Moment mit dem Gleichgewicht kämpfen um nicht mit dem Stuhl nach hinten umzukippen.

„Also dann, Zeit für eine kleine Geschichtsstunde.Wir waren verliebt. Niemand außer uns hat diese Verbindung verstanden. Wir waren glücklich und wollten heiraten doch du musstest alles zerstören.“ Seine Stimme, welche eben noch melodisch war verwandelte sich in kaltes Eis. Meine inneren Alarmglocken schrillten noch lauter. Dieser Stimmungswechsel konnte nichts gutes verheißen.

„Es tut mir leid, ich kann mich wirklich nicht an Sie erinnern. Aber vielleicht war das alles nur ein Missverständnis? Bitte, lassen Sie mich gehen. Ich verspreche ich werde niemanden etwas hiervon erzählen.“ Meine Stimme brach und die nächsten Tränen rannen meine Wange hinab.

Sie hinterließen eine heiße Spur die auf meiner überhitzten und gereizten Haut, welche förmlich brannten. Doch ich hatte keine Kraft diese zurückzuhalten.

„EIN MISSVERSTÄNDNIS? Willst du mich verarschen? Wie kannst du es wagen?“ Das Gebrüll dröhnte durch die Wohnung und ehe ich mich versah spürte ich erneut einen brennenden Schmerz auf meiner rechten Wange, eben jener mit der Narbe. Mein Gesicht brannte und ich befürchtete, dass die Narbe von der Wucht des Aufpralles erneut aufbricht.

Mit angstgeweiteten Augen schaute ich zu meinem Eindringlich hinauf  und versucht meine Fassung zu wahren. 

Er atmete schwer ein und aus. Ganz als ob er selbst mit seiner Fassung ringen musste.

Ich versuchte meine Stimme zu beruhigen und sagte „Vielleicht können Sie es mir erklären?“

Ein freudloses Lachen entwich seinen Lippen doch er nahm wieder mir gegenüber Platz. Er atmete noch einmal tief ein und wandte sich dann wieder mir zu.

„Okay Liebling. Dann erzähle ich dir die ganze Geschichte. Die Geschichte darüber wie du unser beider Leben in nur einer Sekunde zerstört hast.“

Mein Angreifer erhob sich wieder und begann durch die Küche zu tigern. Dabei nahm er das Messer, welches er während meiner Fesselung zur Seite legte, wieder in die Hand und spielte ziellos damit herum.

„Wir lernten uns vor ungefähr neun Jahren kennen. Es war Liebe auf den ersten Blick. Du hast in einer Buchhandlung gearbeitet und gerade einen Kunden bedient als ich dich zum ersten mal sah. Du warst so voller Leidenschaft für das Buch, dass dir gar nicht auffiel, dass dir der ältere Herr schon lange nicht mehr zugehört hat. Aber ich hörte dir zu. Ich hörte wie du über die Charaktere und die Leidenschaft des Autors schwärmtest. Und da wusste ich, dass ich dich kennenlernen muss.

Wenn sich jemand für ein Buch so begeistern kann, welche Leidenschaften erwartet dann erst einen wahren lebendigen Menschen? Also sprach ich dich an. Du warst erschrocken und ließt das Buch fallen. Wir bückten und gleichzeitig danach und unsere Hände berührten sich. Ich weiß, dass klingt ziemlich kitschig. Aber genau so war es.

Wir unterhielten uns eine Weile und bald kam ich jeden Tag in die Buchhandlung um mit dir zu sprechen.

Irgendwann gabst du nach und wir gingen aus. Aus einem Abend wurden zwei, dann drei und schließlich sahen wir uns jeden Abend.

Wir waren glücklich. Schnell merkten wir, dass das zwischen uns etwas ganz besonderes ist und wir zogen zusammen.

Unsere Freunde und Familie freuten sich für uns und wir planten unsere gemeinsame Hochzeit.“

An dieser Stelle brach er ab und versuchte sich anscheinend zu sammeln.

In meinem Hinterkopf merkte ich, wie sich seine Erzählungen zu Bildern zusammensetzten. Bildern von denen ich dachte, dass ich sie nie wieder sehen würde. Er hatte recht, wir hatten eine Vergangenheit. Eine glückliche Vergangenheit. Aber wie konnte es zu diesem Zeitpunkt so fürchterlich schief gehen.

Durch die aufkeimenden Erinnerungsfetzen bekam ich Kopfschmerzen und ich musste mich konzentrieren unter der Flut der auf mich einprasselnden Erinnerungen nicht zu ertrinken.

Aus der Ferne vernahm ich, dass mein Angreifer wieder zu reden begann. Ich blinzelte die Erinnerungsfetzen weg und richtete meine volle Aufmerksamkeit auf ihn.

„Eines Abends kamst du bleich wie ein Gespenst nach Hause. Ich fragte dich, was denn los sei. Wortlos gabst du mir einen Schwangerschaftstest. Im ersten Moment wusste ich gar nicht, was ich damit anfangen soll, doch schnell realisierte ich, dass sich alle meine Wünsche zu erfüllen schienen. Die Frau meiner Träume und ein gemeinsames Kind.

Doch du warst gar nicht erfreut. Im Gegenteil du hast mich angeschrien, dass dies nie Teil unserer Vereinbarung war. Du wolltest keine Kinder und du dachtest das sei mir klar gewesen. Wir hatten bis zu diesem Zeitpunkt nie ernsthaft über das Thema gesprochen aber ich dachte, dass wir da gleich ticken. In den folgenden Wochen stritten wir viel. Nur langsam konntest du dich an den Gedanken gewöhnen Mutter zu werden. Als der Arzt sagte, dass es ein Mädchen wird schienst du endlich Gefühle für das Kind zu entwickeln. Doch dann kam alles anders… “ Seine Stimme brach am Ende des Satzes und er schien all seine Kraft zu benötigen um nicht zusammen zu brechen. 

Bilder in meinem Kopf verschwimmen und eine Szene setzt sich vor meinem inneren Auge zusammen. Ein Name blitzt in meinem Bewusstsein auf. Paul, dass muss wohl sein Name sein. Wir stritten mal wieder über das Thema Kind. Ich versuchte ihm begreiflich zu machen, dass ich nach der Geburt nicht zu Hause bleiben werde und ich die Beförderung, welche einen Umzug unumgänglich macht, annehmen werde. Wir schreien und rennen durch unsere Wohnung. Paul greift nach meinem Arm und versucht mich zurückzuziehen. Doch ich reiße mich los und möchte nur weg von ihm. Wir streiten uns fürchterlich. Schließlich nimmt Paul die Vase vom Wohnzimmertisch und wirft diese nach mir. Ich kann mich ducken und die Vase zerschellt an der Wand. Überall liegen Scherben verstreut. So habe ich ihn noch nie erlebt. Instinktiv lege ich eine Hand über meinen Bauch.

Ich versuche ihn zu beruhigen doch es ist zwecklos. Er schubst mich und ich lande mit der rechten Wange in einer der Scherben und mit dem Bauch auf dem Boden. Ein fürchterlicher Schmerz schießt durch mich hindurch. Ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmt.

Fassungslos fasse ich an mein Gesicht und sehe, dass meine Hand blutüberströmt ist. 

Paul ist wie in Trance und sagt immer wieder, dass es ihm leid tue und wir doch über alles reden könnten. Er versucht mir aufzuhelfen doch ich schlage seine Hände weg und versuche mich alleine aufzurappeln.

Ich will nur weg. Ich verlasse fluchtartig die Wohnung. Meinen Autoschlüssel habe ich glücklicherweise noch einstecken. Bevor ich mich versehe sitze ich hinter dem Steuer und rase durch die abendliche Stadt. Mein Bauch zieht sich immer wieder schmerzvoll zusammen.

Mit den Nerven völlig am Ende und von Schmerzwellen gebeutelt weiß ich nicht, wo ich hin soll. In meinen Gedanken verloren merke ich nicht, dass ich anscheinend verfolgt werde.

Das letzte woran ich mich noch erinnern kann ist, dass Paul in dem Auto neben mir auftaucht und mich versucht zum Anhalten zu bewegen. Dann kommt eine Kurve und dann ist alles schwarz.

Ich kämpfte mich durch den Nebel zurück in das hier und jetzt

„Du hast mir das angetan? Wegen dir habe ich mein Gedächtnis verloren? Wegen dir ist meine Tochter tot? Wie konntest du das nur tun Paul?“ Fassungslos blicke ich den Mann mir gegenüber an. Er hat mich geschlagen und mich von der Straße abgedrängt.

Seine Stimme ist gefährlich ruhig „Paul? Kannst du dich also wieder erinnern? Und wie ich DIR das antun konnte? Wie konntest DU mir antun? Durch deine bescheuerten Forderungen und die sinnlose Flucht ist unser Kind tot!“

Pauls Gesicht war rot und seine Miene wutverzerrt. Seine Hand mit dem Messer rammte er vor mir auf den Küchentisch, sodass das Messer stecken blieb.

„Ich hätte dir alles gegeben. Mein ganzes Leben hätte ich für unsere Familie geopfert, doch du warst eine so egoistische Schlampe, dass du ohne darüber nachzudenken bereitwillig unser Kind in Gefahr und schließlich umgebracht hast. Du wertloses Stück Dreck verdienst es nicht anders!“

Durch seine Wut angefeuert packte er mich an den Armen und zerrte mich zu sich herauf. Die Seile schnitten noch schmerzhafter in meine Haut und ich musste ein Stöhnen unterdrücken. Seine Hände gruben sich in meine Oberarme sodass ich mir sicher war, dass ich entsprechende Abdrücke davon tragen würde.

Ich befürchtete, dass er mich endgültig umbringen würde. Doch er sah mich nur lange an und stieß mich mit samt dem Stuhl zurück. Durch die Wucht des Aufpralls knackte eine Latte an der Rückenlehne und brach schließlich. Sie stand glücklicherweise nach außen, sodass ich nicht durch das Holz aufgespießt wurde. 

Paul verließ fluchtartig das Zimmer und schrie in der gesamten Wohnung, was für eine Schlampe ich doch sei. Ich nutzte seine Abwesenheit und versuchte die Seile mit dem abgebrochenen Holz zu lockern oder zu lösen. Ich ruckelte und rieb meine Handgelenke immer wieder über die Bruchstelle. Doch immer, wenn Paul an der Küchentür vorbei kam musste ich einen Moment Pause machen um keine Aufmerksamkeit zu erregen. 

Endlich bemerkte ich erste Fortschritte doch da erschien Paul wieder in der Küchentür und nahm mir gegenüber Platz.

Er schien sich wieder etwas gesammelt zu haben. Noch einmal atmete er tief ein und begann dann von neuem zu sprechen.

„Oh mein Liebling. Ich habe dich damals gehen lassen, dass passiert mir nicht noch einmal. Ich dachte erst, dass du tot seist. Als ich erfahren habe, dass du doch überlebt hast, hat es mich fünf Jahre gekostet dich wieder zu finden und jetzt bleiben wir für immer zusammen. Wir werden eine Familie gründen und glücklich sein, genauso wie es sein sollte. Oh meine geliebte Elisabeth wir werden uns nie wieder trennen. Und weißt du, wie unsere Tochter heißen wird? Hanna, genauso wie ihre tote Schwester.“ Sanft strich er mir über die Wange und betrachtete mich. Seine Augen kalt und leer. Dieser Mann vor mir war nicht bei Sinnen und das war sehr gefährlich.

Ich überlegte welche Optionen ich nun hatte. Mitspielen oder doch Kämpfen.

Mein Instinkt riet mir mitzuspielen. Wenn ich ihn in seiner Traumwelt lasse hätte ich vielleicht genug Zeit für eine Flucht.

„Paul es tut mir so leid was damals passiert ist. Dein Gefühlsausbruch hatte mich nur so überrascht, dass ich einfach Angst bekommen habe. Ich hätte nicht weglaufen dürfen. Aber jetzt hast du mich ja gefunden. Vielleicht können wir es ja nochmals versuchen.“

Meine Stimme zitterte doch ich musste es versuchen und stark bleiben.

Langsam hob er seinen Kopf in meine Richtung. In seinen Augen spiegelte sich erst Verwirrung, dann Unglaube und schließlich ein kleiner Funke Hoffnung wieder. Doch diese Gefühle wurden schnell wieder durch die Kälte verdrängt.

„Netter Versuch Liebling. Aber glaube doch nicht, das ich darauf reinfalle. Nein so einfach werde ich es dir nicht machen. Du sollst genauso leiden wie ich gelitten habe. Und erst wenn um Gnade flehst werde ich darüber nachdenken dir diese angedeihen zu lassen. Aber glaube bitte nicht, dass es nicht schmerzhaft für dich wird und erst wenn du wirklich begriffen hast, dass ich der einzige für dich bin, dann kannst du es nochmals mit deinem Hundeblick versuchen.“

Damit stand er auf und verließ die Küche.

Mir war klar, das dies vermutlich meine einzige und letzte Chance war. 

Wie wild versuchte ich das Seil weiter zu lockern. 

Ich ignorierte hierbei den Schmerz der regelmäßig meinen Arm herauf schoss, wenn ich von dem Holz abrutschte und mir dieses in meine blutigen Handgelenke rammte. Doch das war mir egal. Ich wollte nur weg.

Ich hörte Paul in der Wohnung nicht. Aber ich konnte mir darüber keine Gedanken machen. Das wichtigste war jetzt irgendwie flüchten zu können.

Endlich waren die Seile gelöst und von Paul noch immer nichts zu hören.

Vorsichtig löste ich das Messer aus der Tischplatte und sammelte meinen Kater ein. Der ärmste war noch immer bewusstlos. Ich hoffte nur, dass er keinen dauerhaften Schaden davon trug.

Ich schielte um die Ecke und konnte meinen Angreifer nirgends entdecken. Dann spähte ich Richtung Tür. Der Schlüssel steckte noch von innen. Ich dankte den Göttern und schlich zur Tür.

So vorsichtig wie möglich nahm ich mir meinen Autoschlüssel, doch das leise klimpern muss mich verraten haben. Denn in diesem Moment erschien Paul in meinem Blickfeld.

Er stürzte sich auf mich. Bevor ich realisierte was genau hier passiert riss ich die Hand mit dem Messer empor und stieß es ihm in den Bauch.

Paul schrie und taumelte zurück. Auf seinem Bauch zeichnete sich ein roter Fleck ab und er taumelte ein paar Schritte zurück.

Ohne einen weiteren Blick zurück rannte ich zur Tür und riss sie auf. Gott sei Dank hat Paul sie nicht verschlossen, als er in meine Wohnung eindrang. Er muss sich seiner Sache sehr sicher gewesen sein. Hinter mir hörte ich in schreien und fluchen. Ein poltern verriet mir, dass er versuchte mir zu folgen.

In windeseile verließ ich mein Haus, meinen sicheren Hafen, sprang ins Auto und verschwand in den Straßen der Großstadt.

 

Mein Name ist Emma.

Elisabeth sie ist bei einem Autounfall gestorben. Genauso wie ihre unbeschwerte Zukunft.

Hanna wurde vor drei Wochen gefangen gehalten und konnte nicht entkommen.

 

Mein Blick richtet sich nur in den Rückspiegel. Überall lauern Schatten und ich bin niemals sicher solange Paul da draußen ist.

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