SapphoHöllensturz

Höllensturz

 

„Und bist du nicht willig, so brauch‘ ich Gewalt“, zitierte Pater Pius den Erlkönig, als ob das rechtfertigen würde, was er gleich tun würde. Die Worte waren noch nicht ganz ausgesprochen, als unerbittlich die Hand des Lehrers auf Micks Kopf zu raste und mit einem fürchterlichen Knall auf sein linkes Ohr traf. Sein Kopf wurde von der Wucht des Aufpralls ein Stück mitgerissen und er hörte für eine Weile nichts als ein Fiepen, das jedes andere Geräusch übertönte. Seine Wange brannte wie Feuer. In ihm kochte es vor Wut, die sich rasant von seinem Bauch in jede Zelles seines Körpers ausbreitete, als er trotzig den Kopf hob und in das befriedigte Grinsen seines „Erziehers“ blickte. In dem Gesicht des Mittfünfzigers spiegelte sich eine Machtgeilheit, die Mick zutiefst zuwider war. Wie konnte ein Geistlicher überhaupt Derartiges tun, ohne sich auch nur im Geringsten schuldig zu fühlen? Und er war schutzlos dessen Launen ausgeliefert. Das Internat, das an die Klosterschule angeschlossen war, war berühmt für die Disziplin, die dort den Schülern vermittelt wurde. Auf welchem Weg, wussten die meisten Eltern dabei nicht oder wollten es erst gar nicht wissen. „Das Internat hat einen ausgezeichneten Ruf. Dass du uns ja keine Schande machst!“, hatte sein Vater ihn am ersten Schultag ermahnt. So blieb ihm nichts anderes übrig, als sich schicksalsergeben dem Willen des Paters zu fügen. Angewidert wandte Mick seinen Blick ab, ging wieder auf die Knie und schrubbte weiter den Boden vor der Essensausgabe, wo er vorhin angerempelt worden war und ein bisschen Cola verschüttet hatte. Da Pater Pius ihn sowieso von Anfang an auf dem Kicker hatte, kam dem diese Gelegenheit gerade recht für seine Machtspielchen und Mick musste nach dem Essen mit einem widerlich stinkenden Putzlappen gleich den kompletten Boden der Essensausgabe wischen. Schon damals wusste Mick, dass die Bestrafung in keinerlei Verhältnis zu seinem „Vergehen“ stand, sondern reine Schikane war. Eines Tages würde er es diesem dreckigen Sadisten heimzahlen, das schwor er sich an diesem Abend. Dann, wenn dieser Dreckskerl am wenigsten damit rechnete, würde er Vergeltung üben.

„So, du willst wohl schon wieder rasten? Dass ich dir nicht gleich noch eine verpasse, du ungezogener Lümmel!“ Mick zog in Erwartung eines weiteren Schlages den Kopf ein und tauchte angeekelt den feuchten Lappen erneut in die dreckige, warme Brühe, während er mit Mühe seinen Brechreiz unterdrückte. Nicht auszudenken, wenn er sich jetzt auch noch übergeben müsste…

Irgendwann wird auch für dich der Tag der Abrechnung kommen und dann gnade dir Gott, dachte er finster. Das war zu dieser dunklen Zeit seines Lebens sein einziger, bitterer Trost.

 

*

22 Jahre später

 

Heute war der Tag der Abrechnung gekommen, das spürte er. Er war sich sogar so sicher, dass er es wagte, nach unten zu gehen, um sich eine Hostie zu holen. Er wollte doch das letzte Abendmahl des werten Herrn Pfarrer nicht verpassen. Unten angekommen zog er unauffällig seinen Mundschutz von Mund und Nase und stellte er sich als letzter in der Schlange der Gläubigen an. Er war nur noch etwas mehr als zehn Meter von seinem früheren Peiniger entfernt und konnte es kaum erwarten, mitanzusehen, wie das Leben aus ihm wich. Voller Rachedurst dachte er an all die Demütigungen, die er in seiner Kindheit und Jugend hatte einstecken müssen. An die Minderwertigkeitskomplexe, die die körperliche Gewalt in seiner Psyche ausgelöst hatte und an denen er noch heute litt. Wie viele Beziehungen waren daran zerbrochen! Wie oft hatte er sich deshalb selbst im Weg gestanden? Wie oft den Job verloren? Mit Mühe verdrängte er die selbstmitleidigen Gedanken und fokussierte sich wieder auf seinen Feind. All das war allein die Schuld dieses Mannes! Er ballte die Hände zu Fäusten. Aber jetzt sollte es ein Ende haben. Er wollte diesem Tyrannen noch ein letztes Mal in die Augen sehen, wollte die Erkenntnis in dessen Augen aufblitzen sehen, bevor dieser Heuchler, dieser menschgewordene Sohn Satans mit dem Tod für seine Taten büßen sollte. Wenn Gott schon nicht für Gerechtigkeit sorgte, musste das eben der Mensch übernehmen. Nur noch etwa acht Menschen waren vor ihm in der Schlange. Wieder trat er einen kleinen Schritt nach vorn.

 

*

 

Sechs Tage zuvor

 

„Im Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes…“ – „Amen!“, erwiderte die Person auf der anderen Seite des Beichtstuhls mit pietätvoll gesenkter Stimme. „Meine letzte Beichte war im Juli 2018“, begann er und warf verstohlen einen Blick nach rechts.

Pater Pius lehnte sich entspannt zurück, soweit ihm dies in dem engen, unbequemen Gestühl mit seinen immerhin 76 Lenzen überhaupt möglich war. Zwar kam ihm die Stimme seines Gegenübers vage bekannt vor, doch er konnte sie auf Anhieb keiner ihm bekannten Person zuordnen, was ihm persönlich immer am liebsten war. Denn dies bot ihm nicht nur eine willkommene Abwechslung, sondern ließ ihn vielleicht sogar in den Genuss eines neuen dunklen Geheimnisses kommen. Zu gerne würde er einmal wieder Zeuge eines richtigen Skandals werden! Man glaubte gar nicht, welche Abgründe sich in den Seelen nach außen hin rechtschaffener Menschen auftaten, hatten sie erst einmal den Mut gefasst, sich ihm anzuvertrauen. Gerade gesellschaftlich hoch angesehene Leute hatten es meist faustdick hinter den Ohren, wie er aus langjähriger Erfahrung wusste. Natürlich wurden zwar überwiegend recht belanglose Dinge gebeichtet, wie das Bekenntnis eines Kommunionkindes, unartig gewesen zu sein, oder das einer jungen Frau, sich „heimlich mit einem anderen“ zu treffen. Doch bisweilen kamen ihm auch ziemlich pikante Dinge zu Ohren, wenn er an die heimliche Affäre des Bürgermeisteranwärters mit dem Sohn des ortsansässigen Metzgers dachte…  Er leckte sich sensationslüstern die Lippen. Wie einfach wäre es für ihn, alles auffliegen zu lassen? Er müsste seine Informationen lediglich den richtigen Leuten zuspielen – anonym verstand sich – und die Karriere des Bürgermeisters wäre auf einen Schlag beendet, noch ehe sie überhaupt richtig begonnen hätte. Doch Pater Pius war nicht sonderlich erpicht darauf, seine Joker auszuspielen. Das Wissen um seine Macht über seine Schäfchen reichte ihm vollkommen aus.

Nachdem Pius mit seinem Gegenüber die bei einer Beichte üblichen einleitenden Floskeln ausgetauscht hatte, begann der Pfarrer in väterlich gnädigem Tonfall: „Nun, was hast du auf dem Herzen, mein Kind?“, obgleich die andere Person dem Alter nach bereits erwachsen war, wie Pius dem Klang der Stimme sowie der Körpergröße, die er schemenhaft auf der anderen Seite erkannte, zu entnehmen glaubte. Er lehnte sich noch etwas weiter zurück, faltete die Hände über dem Bauch, der – das musste Pius zugeben – infolge der hervorragenden Kochkünste seiner Haushälterin in letzter Zeit etwas das rechte Maß verloren und an ursprünglicher Spannkraft eingebüßt hatte. Er schloss die Augen, um sich so besser auf die bevorstehende Beichte konzentrieren zu können. Doch jenseits des Gitters herrschte Schweigen. „Nun?“, half Pius dem anderen auf die Sprünge. Er wusste, dass bei bestimmten Leuten äußerstes Feingefühl notwendig war, um ihnen ihr Geheimnis zu entlocken. Er vernahm ein Räuspern: „Ich weiß nicht recht, wo ich beginnen soll…“ „Am besten am Anfang“, gab Pius schmunzelnd zurück. „Sprich einfach drauf los! Wenn erst der Anfang gemacht ist, kommt der Rest wie von selbst.“ Pius war schon des Öfteren wegen seiner Zuhörkünste gelobt worden. Vielleicht hätte er doch Psychologe werden sollen, wie es eigentlich sein Wunsch gewesen war…

„Ok. Also… Haben Sie nicht auch manchmal das Gefühl, dass die Welt ungerecht ist? Dass Gott nicht die straft, die es eigentlich verdient haben, sondern die Falschen? Wie können Sie selbst zum Beispiel damit leben, dass Sie damals Ihre Schüler…“

Pius wurde stutzig. Woher wusste der andere von seiner Zeit als Lehrer? Er setzte sich auf, etwas zu ruckartig wie ihm sein schmerzendes Knie sogleich verriet, das er sich an der Tür gestoßen hatte. Dass diese Beichtstühle aber auch so verdammt eng sein mussten! Beinahe hätte er einen leisen Fluch ausgestoßen, doch er konnte ihn sich gerade noch verkneifen. Auch der andere schien über das Poltern erschrocken zu sein und sah kurz herüber.

„ … dass Sie Ihren Schützlingen nicht erklären können, dass es so viel Leid und Gewalt auf der Welt gibt und Gott nichts dagegen unternimmt? Ist er denn nicht allmächtig? Will er nicht eingreifen oder kann er nicht?“ Puh, da hatte er gerade noch die Kurve gekriegt. Mick atmete auf. Um ein Haar hätte er dem Pfarrer seine Identität preisgegeben, das spürte er. Er durfte sich nicht zu sehr von seinen Gefühlen leiten lassen und durfte sich vor allem jetzt nicht selbst verraten. Sonst wären all seine mühevollen Vorbereitungen umsonst gewesen.

Auch Pius seufzte erleichtert auf. Es hatte also doch nichts mit ihm zu tun. Wieder nur die alte Theodizeefrage. Derlei Fragen hatten ihn schon als Lehrer in den Wahnsinn getrieben. Er hatte es als eine Art Rebellion angesehen, wenn seine jugendlichen Schüler versuchten, bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit das Gespräch auf Religionskritik zu bringen, nur um vom eigentlichen Thema abzulenken. 

„Die Wege des Herrn sind unergründlich. Gott ist in uns. Wir müssen einzig auf die Stimme Gottes in uns selbst hören und uns von ihr führen lassen. Die Bibel gibt uns Antwort auf unsere Zweifel: Selig sind, die da geistlich arm sind; denn das Himmelreich ist ihr. Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden.“

„Matthäus 5, 3“, sagte Mick mehr zu sich selbst. Ein bisschen was vom Religionsunterricht war also doch bei ihm hängengeblieben. Kein Wunder, so wie ihnen die Verse damals einprügelt worden waren… Wut flackerte in Mick auf und brachte seine Wangen zum Glühen. Zum Glück war durch das Holzgitter zwischen ihnen nicht viel vom jeweils anderen zu erkennen, zumindest keine Details.

„Oh, die Stelle ist bekannt?“, fragte Pius verwundert.

Mick war leicht aus dem Konzept gebracht. „Ja, ich … äh … ich denke, jeder gläubige Christ sollte einige wichtige Verse aus der Bibel kennen.“

„Da hast du wohl recht, Sohn Gottes“, erwiderte Pius selbstgefällig. „Hast du denn nicht noch etwas zu beichten, wenn du schon einmal hier bist? Der Herr wird dir deine Sünden gewiss vergeben.“

Mick ließ seinen Blick einen Moment auf dem faltigen Gesicht des Pfarrers ruhen, der die Augen weiterhin geschlossen hielt, und überlegte, wie er weiter vorgehen sollte. Schon in dem Moment, als er den Beichtstuhl betreten hatte, war es ihm aufgefallen, dass sich der Pater verändert hatte, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte. Dicker und älter war er geworden und wohl auch kleiner als in seiner kindlichen Erinnerung, alles Eigenschaften, die ihn jetzt gnädiger wirken ließen. Von der ehrfurchteinflößenden Aura, die ihn einst umgeben hatte, war offenbar nicht mehr viel übriggeblieben. Konnte es wirklich sein, dass dieser Mensch Kinder geschlagen hatte? Oder hatte ihn seine kindliche Wahrnehmung so sehr getäuscht? Nun galt es, dem Pfarrer auf den Zahn zu fühlen und dessen Charakter zu ergründen.

„Ich habe im Streit meinen Bruder geschlagen“, wagte Mick daher eine weitere Andeutung. Er musste wissen, wie sein ehemaliger Erzieher heute über das Thema Körperverletzung dachte. Mick wollte ihm eine letzte Chance geben, bevor er seinen Plan in die Tat umsetzte.

Pius nahm es gelassen hin. Gewalt unter Geschwistern passiere schon mal. Solange es nicht ausarte, so seine Meinung, sei das normal und unbedenklich. Pius erinnerte sich dabei an die Zeit, als er noch als Lehrer gearbeitet hatte, damals, in einem anderen Leben… Oft genug hatte er Jugendlichen dabei zugesehen, wie sie auf dem Pausenhof Konflikte unter sich ausmachten. Auf einen Erwachsenen hörten die erfahrungsgemäß dann sowieso nicht. Und so hatte er sich still im Hintergrund gehalten und nur dann eingegriffen, wenn es wirklich ernst wurde und Blut floss. Das hatte sich auch immer bewährt, wie er fand. Auch hatte er bisweilen keine Scheu gespürt, selbst die Hand gegen besonders ungezogene Schüler zu erheben. Ein paar Schläge auf den Hinterkopf erhöhen das Denkvermögen, hatte er immer gesagt. Auch die anderen Lehrer, allesamt Patres des Klosters, hatten es verstanden, sich so den nötigen Respekt zu verschaffen. Probleme deswegen hatte es lange Zeit nicht gegeben, so groß war der Respekt vor den Geistlichen. Bis eines Tages ein ehemaliger Schüler, der nach dem Schulabschluss Jura studiert hatte, ausgepackt und das Kloster für körperlichen Missbrauch zur Rechenschaft gezogen hatte. Zunächst wollte ihm niemand glauben, doch die darauffolgende Welle derer, die sich dadurch ermutigt ebenfalls als Betroffene outete, hatte das Kloster in eine schwere Krise gestürzt. Wie er waren zahlreiche Patres vom Schuldienst suspendiert worden. Doch die Kirche hatte diese heikle Angelegenheit ruhig ausgesessen: Man hatte einige Zeit verstreichen lassen und gewartet, bis Gras über die ganze Sache gewachsen war, ehe den Patres eine neue Stellung zugeteilt worden war, möglichst weit vom Kloster entfernt. Dies war natürlich durch großzügige Spenden vonseiten der Kirche begünstigt worden. Und all die Aufregung nur wegen ein paar harmloser Ohrfeigen für Schüler, die sie auch verdient hatten…

„Natürlich verstößt Gewalt gegen das Gebot der Nächstenliebe, aber sie ist nicht immer etwas Schlechtes“, fuhr Pius fort. „Sie kann auch etwas Produktives bewirken, zum Beispiel kann sie bei der Erziehung eine wichtige Rolle spielen. Man muss sich auf Gott verlassen, denn er lenkt all unser Handeln. Bereust du denn deine Tat, mein Kind? So wird Gott dir vergeben.“

Er hatte sich also nicht getäuscht. Der Pfarrer mochte nach außen hin den gnädigen Beichtvater mimen, im Herzen war er immer noch ganz der Alte. Und dann immer dieses „mein Kind“! Wie er diese Scheinheiligkeit und Verlogenheit verabscheute! Mick musste all seine Kräfte aufwenden, um nicht auf der Stelle aus dem Beichtstuhl zu stürmen und den anderen in seinem Kämmerchen eigenhändig zu erdrosseln. Ein rascher Blick nach links verriet ihm, dass der Pfaffe nichts davon ahnte. Der Plan! Denk an den Plan!, rief er sich daher sein Vorhaben wieder ins Gedächtnis. Um sich zu beruhigen, griff er mit einer Hand in die Tasche seines Kapuzenpullis, wo sich gewissermaßen die Initialzündung für seinen Plan befand. Etwas gefasster erwiderte er in beinahe übertrieben reuigem Tonfall: „Ja. Sehr.“

„Dann bete acht Vaterunser und fünf Avemaria! So seist du von deinen Sünden erlöst.“

So einfach ist das also, dachte Mick. Einfach ein paar Vaterunser beten und schon darf man schlagen, wen man will. Sein Zorn loderte erneut auf. Mit Mühe beherrschte er sich. 

Doch als Pater Pius die salbungsvollen Worte „Te absolvo“, hinzufügte, konnte sich Mick nicht zurückhalten und knurrte leiste: „Als ob du das könntest…!“, doch der Pater war gedanklich schon wieder ganz woanders, das merkte er. Nun musste er nur noch seine „Botschaft“ hinterlassen, um seinen Racheplan in Gang zu setzen. Er wollte sie so platzieren, dass niemand anderes als der Pfarrer selbst sie in die Hände bekam. Dass der Geistliche sie würde entschlüsseln können, dafür hatte er schon gesorgt.

„In nomine patris et filii et spiritus sancti” – „Amen!”, gab Mick zurück, ehe er hastig den Beichtstuhl verließ. Pater Pius wunderte sich noch darüber, wie fluchtartig der Sünder den Beichtstuhl verlassen hatte, doch wandte seine Aufmerksamkeit bald der nächsten Person zu, die die Beichte ablegen wollte. Diesmal war es eine alte Frau, die er beinahe täglich im Gottesdienst sah und die immer dieselben langweiligen Dinge zu beichten hatte. Er seufzte, bevor er routiniert mit der Frage nach der letzten Beichte begann, die, wie er wusste, kaum eine Woche her war.

 

*

 

Mit großen Schritten eilte er achtlos am Weihwasserbecken vorbei hinaus aus der Kirche. Keine Sekunde länger hätte er es in dem kalten, finsteren Gestühl neben diesem Scheinheiligen ausgehalten. Wenn der gewusst hätte, mit wem er sprach! Er hatte von vornherein gewusst, dass gerade der erste an und für sich fakultative Teil seines Vorhabens wohl der riskanteste war. Aber er hatte noch einmal seinem früheren Peiniger gegenübersitzen müssen. Für sich. Er wollte wissen, was für ein Mensch er heute war, nach all den Jahren. Und nun wusste er es. Im Gehen zog er wieder seinen Mundschutz über Mund und Nase. Eigentlich war es erstaunlich einfach gewesen. Auf die Unvernunft älterer Leute war einfach Verlass. Während die meisten jüngeren Leute, mit denen er zu tun hatte – zumal Städter –, bereits seit Tagen einen Mundschutz trugen, um sich und andere gegen das heimtückische, hoch ansteckende Coronavirus zu schützen, gingen die Leute hier auf dem Lande wesentlich unvorsichtiger damit um. Man hielt die Epidemie vielmehr für eine Art Grippewelle, die zwar vielleicht gefährlicher sein mochte, sich aber im fernen China abspielte und nicht so schnell nach Europa, geschweige denn nach Deutschland gelangen würde. Außerdem verließ man sich auf die Hilfe Gottes, der einen schon vor dem Virus schützen würde. Mick konnte über so viel Leichtgläubigkeit nur den Kopf schütteln. Doch eben das war seinem Racheplan letztendlich zugutegekommen. Draußen angekommen konnte er endlich seinem quälenden Hustenreiz nachgeben. Anfangs war er sich nicht zu einhundert Prozent sicher gewesen, ob er sich beim Skifahren mit Freunden in Österreich tatsächlich mit dem neuartigen COVID-19 infiziert hatte. Doch der ständige Husten in Kombination mit Fieber und Verlust des Geschmackssinns waren ihm dann doch ungewöhnlich vorgekommen, woraufhin er sich hatte testen lassen: Positiv. Seitdem hielt er sich strickt fern von allem, was ihm lieb war. Bislang hatte er dem Pfarrer nur psychisch ein wenig unter Druck setzen wollen. Doch nun ergaben sich ungeahnte Möglichkeiten für seine Rache…

Rasch umrundete er die Kirche und lief an einer Reihe kunstvoll geschmückter Gräber vorbei. Eine Frau, etwas zu leicht angezogen für die aktuellen Temperaturen, kniete vor einem der Gräber. Mit dem Handrücken wischte sich, die Hände voll Erde, eine graue Strähne aus dem Gesicht, als sie aufblickte und ihn, offenbar erstaunt über seine Vermummung, grüßte. Mit einem kurzen Kopfnicken erwiderte er ihren Gruß. Er hätte den Mundschutz doch erst später aufsetzen sollen. Er durfte jetzt bloß nicht auffallen. Nervös setzte er seinen Weg fort. Um sich abzulenken, lauschte er dem Kies, der unter seinen Schritten knirschte. Vor einer schweren dunklen Eichenholztür mit rostigen Beschlägen blieb er stehen. Von seinen Beobachtungen der letzten Tage wusste er, dass dies die Tür zur Sakristei sein musste. Denn ein paar Ministranten, auf dem Weg zum Gottesdienst, hatten ihm unbewusst den Weg gewiesen. Er blickte sich verstohlen nach allen Seiten um – die Gärtnerin war Gott sei Dank außer Sichtweite –, bevor er die Klinke hinabdrückte und eintrat. Alles sah so aus, wie er es von seiner eigenen Zeit als Ministrant kannte: auf der rechten Seite führte eine Tür in den Umkleideraum der Ministranten, gegenüber standen auf einem alten Holztisch kleine gläserne Kännchen für Wasser und Wein bereit und in der Luft lag der unverkennbare Duft von Weihrauch. Auch hier hingen Medaillen mit christlichen Motiven an einem Hacken. Zwar bekam jeder Ministrant nach der Erstkommunion seine eigene Medaille, doch er selbst war einst das Musterbeispiel für die Vergesslichkeit junger Messdiener gewesen. Unwillkürlich musste er an die saftigen Ohrfeigen denken, die einen dann vom Pfarrer erwarteten, … Er schüttelte den Kopf, um die düsteren Gedanken zu vertreiben. Er durfte jetzt keine Zeit verlieren. Bald würde die Messe beginnen und bis dahin musste er seine Botschaft deponiert haben. Er sah sich um und öffnete wahllos einen der Schränke und hatte auf Anhieb Glück: Darin befand sich das Messgewand des Pfarrers. Aus dem unbestimmten Gefühl heraus, beobachtet zu werden, sah er erneut hinter sich, doch außer Jesus, der von seinem Holzkreuz in der Ecke leidend auf ihn herabblickte, war niemand zu sehen. Ein diabolisches Grinsen huschte über seine Lippen, als er behutsam den „Köder“ aus seinem Kapuzenpullover holte. Den Pater erwartete ein Wunder der ganz besonderen Art, dachte er, während er ein durch mehrmaligen Gebrauch stark in Mitleidenschaft gezogenes Stofftaschentuch hervorholte.

 

*

 

„In nomine patris et filii et spiritus sancti” – „Amen!”

Pater Pius erhob sich ächzend, schlüpfte durch den Vorhang hinaus in die Kirche und begab sich auf direktem Weg zur Sakristei. Im Gehen warf er einen Blick auf seine goldene Armbanduhr: Zehn vor sechs! Nun hieß es Beeilung, denn der Gottesdienst begann in weniger als einer Viertelstunde. Er duckte sich, um sich am niederen Türstock zur Sakristei nicht den Kopf zu stoßen und knöpfte sich eilig seine schwarze Kutte auf. Hastig nahm er sein Messgewand vom Kleiderbügel, als er plötzlich stutzte: Die Kutte hing auf der einen Seite ein wenig nach unten, offenbar beschwert von einem Gegenstand, dessen Konturen sich unter der rechten Seitentasche abzeichneten. Hatte er etwas darin vergessen? Er konnte sich nicht daran erinnern. Verwundert griff Pater Pius in die Tasche und holte ein kleines rechteckiges Gerät hervor. Schwer wog es in seiner Hand. Er meinte, dass es sich dabei wohl um ein Smartphone handeln musste, denn er hatte seinen Ministranten öfter dabei zugesehen, wie sie geschickt mit den Fingern auf solchen Geräten herumtippten. Auch er selbst hatte schon einmal eins in Händen gehalten, als er vor ein paar Wochen einem Ministranten das Mobiltelefon abgenommen hatte, als er ihn während der Messe heimlich darauf hatte herumtippen sehen. Doch was hatte das in seiner Tasche zu suchen? Wem gehörte es? Wie kam es da hinein? Und vor allem: Wieso?

Auch wenn er das Fabrikat nicht auf den ersten Blick erkennen konnte, war dieses Handy zweifellos moderner als sein uraltes Nokia, das er nur selten benutzte: Es besaß nicht einmal mehr Knöpfe, mit denen man es bedienen konnte. Pater Pius entdeckte nur eine einzige runde Einkerbung unten am Bildschirm, die auf so etwas wie einen Knopf hinwies und sich leicht nach unten drücken ließ. Im grellen Schein des Bildschirms, der plötzlich aufleuchtete, runzelte er seine faltige Stirn. Statt einen Hinweis auf den rechtmäßigen Besitzer, wie etwa ein Foto oder dergleichen, zeigte es ein Gemälde, das ihm bekannt vorkam… Nachdenklich zupfte er sich mit den Fingern an seiner Oberlippe.

Plötzlich hörte er eine Tür auffliegen und Kinder durcheinanderreden. Erschrocken zuckte er zusammen, als ob er etwas Verbotenes (war es das?) getan hätte. Die letzten Ministranten waren soeben eingetroffen und begaben sich sofort zu den anderen in die Umkleide. Rasch legte er das Handy zurück in seinen Schrank. Er würde sich später darum kümmern.

 

*

 

Selten hatte er dem Ende des Abendgottesdiensts so sehr entgegengefiebert wie heute. Er musste unbedingt das Rätsel um das gefundene Handy lösen! Schneller als sonst hatte er sich nach der Messe verabschiedet und sich in sein Arbeitszimmer begeben. Seine Haushälterin hatte sich noch gewundert, dass der Herr diesmal erst später als gewöhnlich zu essen wünschte.

Sein Herz klopfte heftig in seiner Brust, als er erschöpft von den Treppenstufen sein Arbeitszimmer betrat. Mühsam lief er zu seinem Schreitisch hinüber, setzte sich und knipste die grüne Schreibtischlampe an, um das Gerät besser in Augenschein nehmen zu können. Erneut drückte er auf den Knopf und wieder leuchtete der Bildschirm auf und zeigte das Gemälde. Diesmal wurde jedoch zusätzlich eine vierstellige PIN gefordert, um das Gerät zu entsperren. Da er keine Ahnung hatte, drückte einfach wahllos ein paar einfache Zahlenkombinationen. 1234, 1111, 2222 … Schließlich wählte er 6666, die Zahl Satans um eine 6 ergänzt, doch hatte auch damit kein Glück. Er betrachtete den Sperrbildschirm genauer: Täuschte er sich oder war darauf ein Engel zu erkennen. Er trug einen Speer in der Rechten, den er auf etwas richtete, das ihm zu Füßen lag. Was hatte all das zu bedeuten? Bei näherem Hinsehen meinte er, einen weiteren Engel zu erkennen. Da fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: der Höllensturz! Lukas, 10, 18! Demnach musste es sich bei dem größeren Engel um Erzengel Michael handeln, der den abtrünnig gewordenen Engel Luzifer in die Hölle verbannte. Gemalt von Raffael, wenn er sich nicht täuschte. Durch seine plötzliche Aufregung spürte er einen stechenden Schmerz in seiner Lunge und wurde von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt. Gerade zur Frühlingszeit, so schön sie auch war, machte ihm sein Asthma, verstärkt durch eine Pollenallergie, noch mehr zu schaffen als sonst. Als sich sein rasselnder Husten wieder etwas gelegt hatte, gab er 1018 in das Handy ein und siehe da: wie von Zauberhand entsperrte es sich. Er schmunzelte über seinen genialen Einfall, doch als er das Bild erkannte, das sich plötzlich auf dem Bildschirm des Smartphones zeigte, wurde er blass.

 

*

 

Was ihn am meisten stutzig machte, war, dass er sich selbst auf den Bildern wiedererkannte: eine Reihe von Ministranten war darauf zu sehen, die paarweise nebeneinanderstanden. Der vorderste, hinter dem Pius selbst stand, griff gerade mit der rechten Hand nach dem Band, das an einer Glocke hing, um die Messe einzuläuten. Pius‘ Rechte lag warnend auf der Schulter des einen Ministranten, um ihm zu signalisieren, dass es noch zu früh sei. Das Foto war von schräg hinter ihnen aufgenommen und sah aus der Perspektive so aus, als ob er dem Jungen weh tat, denn der wich dem Griff erschrocken aus und zog auf dem nächsten Bild die Hand zurück, als ob er sich verbrannt hätte.

Verwundert kratzte sich Pius über seine grauen Bartstoppeln. Auch wenn er das Gefühl noch nicht richtig fassen konnte, beschlich ihn schon jetzt eine böse Ahnung. Wozu das Ganze? Vielleicht waren ja noch andere Bilder auf dem Handy, die mehr Licht ins Dunkel brachten. Zunächst unschlüssig, wie man auf dem Gerät ein anderes Bild aufrief, tippte Pater Pius ratlos mit dem Finger auf dem Bildschirm herum. Gedankenversunken strich er sich mit Daumen und Zeigefinger von den Mundwinkeln hin zur Unterlippe. Dann entsann er sich, wie es seine Ministranten immer bei ihren Smartphones zu tun pflegten und wischte wie bei einer Zeitung oder einem Buch nach links, woraufhin sich das Bild veränderte. Sein anfänglicher Verdacht wurde bestätigt: etwas noch Schauerlicheres kam zum Vorschein. Dem Pfarrer zog es beinahe den Boden unter den Füßen weg.

Es zeigte nun, wie er einem Ministranten – dem kleinen Max, wenn er sich nicht täuschte – nach der Messe beim Ausziehen der Kutte half und dabei (freilich unabsichtlich!) dessen Bauch etwas entblößt wurde. Ein Bild weiter sah man, wie die Szene weiterging: Max zog sich mit der einen Hand das T-Shirt nach unten, während Pius den Jungen an der nach oben gestreckten Hand festhielt, damit der Junge nicht umfiel. Auf dem dritten Bild der Serie hatte sich der Junge vollständig der Kutte entledigt und sagte etwas zu Pius, während dieser lächelnd mit der Hand durch das strohblonde Haar des Jungen fuhr. Ihm wurde sofort schmerzlich die Zweideutigkeit dieser Aufnahmen bewusst, die man aus der Perspektive leicht fehlinterpretieren konnte… Hektisch wischte er weiter und leckte sich dabei, ohne es zu bemerken, unwillkürlich den rechten Zeigefinger ab, wie er es beim Zeitungslesen gewöhnt war. Auch die anderen Bilder zeigten ähnlich verfängliche Aufnahmen, wie er beispielsweise einem anderen, schon etwas größerem Ministranten, mit Daumen und Zeigefinger einen Fussel von der Kutte entfernte und ihm auf dem nächsten Bild mit der flachen Hand über den Rücken fuhr, um anschließend den Stoff zu glätten. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn und er wurde augenblicklich von einer heftigen Übelkeit erfasst. Zahlreiche Gedanken schossen ihm wirr durch den Kopf: Wer hatte all diese Aufnahmen von ihm gemacht und vor allem warum? Was bezweckte der andere damit?  Wollte er ihn erpressen? Aber selbst wenn: Welchen Grund könnte überhaupt irgendjemand haben, ihm schaden zu wollen? Er war schließlich der Überzeugung, nie etwas Unrechtes getan zu haben.

 

*

 

„Hey, Leute! Habt ihr schon gehört, was zurzeit in Italien abgeht? Vor allem in Mailand: Da sterben die Leute wie die Fliegen wegen diesem Kowie-19!“, prahlte Leon mit seinen neuen Informationen.

„Ja, echt krass! Mein Papa sagt, dass das Virus auch bald bei uns sein wird. Und dann wird die Wirtschaft zusammenbrechen und man kann nichts dagegen tun!“

„Jetzt übertreib nicht wieder so, Jonas!“, gab Lousia kichernd zurück und warf einen Seitenblick auf Nina, die sich gerade das violette Messgewand zuknöpfte. Auch sie verdrehte genervt die Augen über Jonas‘ Besserwisserei. „So schnell geht das nun auch wieder nicht. Außerdem sind die, die bisher gestorben sind, alle schon voll alt gewesen.“

„Ihr werdet schon noch sehen, dass ich Recht hab“, maulte Jonas verstimmt und rückte trotzig seine Brille zurecht. Die würden sich noch alle wundern! Er war zwar der Kleinste in seiner Klasse, aber bei weitem der Schlauste. Schon seit Wochen verfolgte er die Corona-Epidemie in China mit zunehmender Besorgnis und hielt sich durch verschiedene Podcasts auf dem Laufenden. Er war überzeugt, dass sich das Virus, war es erst einmal in Europa angekommen, auch rasch bis nach Deutschland ausbreiten würde. Sollten ihn die anderen nur belächeln wegen seiner Sicherheitsvorkehrungen, wie dem Desinfektionsmittel, mit dem er sich sofort nach jeder Messe einnebelte. Er war froh über die 50 Euro, die ihm sein kleiner „Nebenjob“ eingebracht hatte. Und das für ein paar harmlose Fotos. Wozu hatte er nicht erfahren und es war ihm auch egal. Denn von dem Geld hatte er sich einen kleinen Vorrat an Hygieneartikeln anlegen können. Bald würde das Coronavirus die Weltherrschaft erlangen, da war er sich sicher. Und dann würde es solche Dinge wie Desinfektionsmittel nicht mehr so leicht zu kaufen geben. 

 

*

 

In den folgenden Tagen fühlte sich Pater Pius zunehmend schlechter. Die Sache mit dem Handy setzte ihm mindestens so sehr zu wie sein Husten, der immer schlimmer wurde. Auch wurde er seit ein paar Tagen von starker Müdigkeit geplagt. Fast kam es ihm so vor, als ginge von dem Handy ein unsichtbarer Fluch aus… Energisch schüttelte er den Kopf. So etwas gab es nicht! Wahrscheinlich waren seine Symptome nur die Vorboten einer harmlosen Erkältung. Wie so oft in den letzten Tagen saß er an seinem Schreibtisch und versuchte vergeblich, dem Smartphone Informationen über dessen Vorbesitzer zu entlocken. Freilich hätte er einfach einen Handyspezialisten zu Rate ziehen können, doch das Risiko, dass jemand die Fotos auf dem Handy entdeckte und unangenehme Fragen stellte, war zu groß. Aus demselben Grund hatte er bislang auch noch kein Ladegerät dafür besorgt. Er wunderte sich zwar und war fast ein wenig erleichtert darüber, dass sich bislang noch niemand mit Forderungen bei ihm gemeldet hatte, wie es bei einer Erpressung normalerweise ablief, doch solange er das Rätsel um das Handy nicht gelöst hatte, war er auf der Hut. Viel Zeit würde ihm dafür nicht mehr bleiben, wie ihm der schwindende Akku mitteilte, der nur noch 50 % anzeigte. Wieder einmal betrachtete er eingehend das Bild auf dem Sperrbildschirm, das ihm der Schlüssel für die Herkunft des Geräts zu sein schien. Während er in Gedanken versunken auf seinem Fingernagel kaute, ging er im Kopf die Namen sämtlicher Leute durch, die er kannte und noch im Gedächtnis hatte. Da gab es etliche, vor allem, wenn man die Namen aller Schüler dazurechnete, die er jemals unterrichtet hatte. Sicher war darunter der ein oder andere Michael gewesen, der Name war ja recht beliebt. Aber er konnte sich nicht erinnern, dass einer davon einen besonderen Groll gegen ihn gehegt hätte. Und einen Luzifer kannte er nicht. Klar, wer nannte sein Kind auch Luzifer? Aber hieß seine Haushälterin nicht Lucy? Gewiss hätte sie Zeit und Gelegenheit gehabt, die Fotos aufzunehmen und ihm das Handy unterzujubeln. Aber warum? Wollte sie mehr Geld? Mehr Anerkennung? Noch lange grübelte er an diesem Abend darüber nach, ohne jedoch zu einem zufriedenstellenden Ergebnis zu gelangen.

 

*

 

„Alles ok bei Ihnen, Pater Pius?“, fragte die 12-jährige Sophie, ein Mädchen mit langen, braunen Zöpfen, das während der Messe das Weihrauchfass schwenkte, und blickte ihn aus ihren warmen braunen Augen besorgt an. „Geht schon wieder“, keuchte der Pfarrer, wandte sich ab und presste sich hüstelnd sein weißes Taschentuch, das mit seinen Initialen sowie einem kleinen roten Kreuz bestickt war, vor den Mund. Als er es wieder in seine Tasche stecken wollte, bemerkte er, wie sich ein dunkelroter Speichelfaden, von seinem Mund zum Taschentuch spannte. Das Tuch selbst war an ein paar Stellen bereits rot verfärbt, wo sich ein paar Tropfen zähen, schwarzen Blutes auf dem weißen Stoff rasch ausbreiteten. Betroffen wischte er sich mit dem Tuch über den Mund, faltete es sorgfältig zusammen und steckte es ein. Schon vor Jahren hatte er wegen immer häufiger Asthmaanfälle das Rauchen seiner heißgeliebten Zigarren aufgeben müssen, um seine Lunge zu schonen. Doch in letzter Zeit wurden die akuten Hustenanfälle und die stechenden Schmerzen beim Atmen immer schlimmer. Er würde wohl nicht umhinkommen, demnächst einen Arzt aufzusuchen.

Die Abendmesse verlief bis zur Wandlung ohne weitere Zwischenfälle. Nur ab und zu konnte er sich ein Hüsteln aus geschlossenem Mund nicht verkneifen. Mit Sorge bemerkte er den triumphierenden Blick, den Jonas den anderen Ministranten daraufhin zuwarf. Stecke am Ende er hinter der Sache mit dem Handy? Gut möglich, dachte Pius. Die entsprechenden Smartphonekenntnisse besaß er wohl. Doch war dem Knaben so eine Nummer zuzutrauen? Und warum sollte er ihm schaden wollen? Etwa weil er trotz seines Alters immer noch nicht das Weihrauchfässchen schwenken durfte? Pius hatte es ihm bereits des Öfteren zu erklären versucht, dass dafür eine gewisse Körpergröße nötig war, da sonst das Fässchen auf den Boden aufschlug. Aber konnte das wirklich ein ausreichender Grund dafür sein, ihm Derartiges vorzuwerfen? Jedenfalls würde er den Kleinen künftig im Auge behalten.

 

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Mick hatte von der Empore aus perfekte Sicht auf das Geschehen auf dem Altar, ohne dass die Gefahr bestand, dass seine Sicht verdeckt oder er entdeckt werden könnte. Zudem konnte ihm aus sicherer Entfernung niemandem zu nahe kommen und sich versehentlich mit dem Virus infizieren, zumal die Kirche ohnehin nur spärlich besucht war. Nun hieß es abwarten.

Da er um die mitunter längere Inkubationszeit des Virus wusste, hatte er seit seiner „Beichte“ jeden Abend die Messe besucht (aus sicherer Entfernung, verstand sich), um sich des Gesundheitszustandes des Pfarrers zu versichern. Knapp eine Woche hatte es bloß gedauert, bis er zufrieden beobachten konnte, wie sich die Hustenanfälle häuften und der Pfarrer immer öfter in Atemnot kam. Doch auch sein eigener Husten war stärker geworden. Er musste jetzt höllisch aufpassen, nicht aufzufallen.

  

 

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Sein Atem ging schneller. Als ihn ein plötzliches Schwindelgefühl erfasste, musste er sich am Altar festhalten, um nicht umzukippen. Was war nur los mit ihm? Er dachte an das Handy, das er seit seinem Fund immer bei sich trug aus Angst, es könne jemand anderem in die Hände fallen. Gelangten die Bilder darauf an die Öffentlichkeit, wären die Folgen für seinen Ruf und auch seine Stellung als Pfarrer der Gemeinde fatal. Er durfte auf keinen Fall ein Risiko eingehen. Benommen und mit zitternden Händen nahm er den Kelch entgegen, den ihm der Ministrant entgegenhielt, deutete eine knappe Verbeugung an und wandte sich wieder dem Altar zu. „Geheimnis des Glaubens“, krächzte er mit heiserer Stimme, woraufhin die Gemeinde in den Gesang einfiel. Er räusperte sich und schluckte schwer, während er seinen Blick über die Wenigen schweifen ließ, die sich jetzt während der Fastenzeit zur Messe eingefunden hatten. An einer Person blieb sein Blick hängen: sie stand allein auf der Empore, welche sonst für gewöhnlich leer war und nur dann aufgesucht wurde, wenn unten alle Plätze besetzt waren. Leider war die Person zu weit entfernt, als dass er das Gesicht hätte erkennen können. Vielleicht würde sie zur Kommunion nach unten kommen. 

Und so geschah es. Als er die Person in der Schlange näherkommen sah, wurden ihm schlagartig zwei Dinge gleichzeitig bewusst: Er erkannte in ihr nicht nur den jungen Mann wieder, der erst kürzlich bei ihm gebeichtet hatte, er wusste sogar, dass er dieses Gesicht von irgendwoher kannte! Doch woher? Und wie hatte er geheißen? Er wusste nur noch, dass es irgend so ein alberner Modename gewesen war…

Patrick? Rick? Nick? Die Erkenntnis traf ihn wie ein Blitz. Er vergaß sogar für einen kurzen Moment, dem nächsten Gläubigen in der Schlange, einem gebückt gehenden älteren Herrn mit Halbglatze, den Leib Christi zu überreichen. Mit einem Schlag wurde ihm alles klar! MICK! So hatte ein Junge geheißen, den er damals im Internat betreut hatte. Er hatte nichts als Unsinn im Kopf gehabt und nie stillsitzen können. Ständig hatte er die anderen aufgewiegelt und herumgezappelt. Dieses ungezügelte Benehmen war ihm, dem damaligen Lehrer, damals dermaßen auf die Nerven gegangen, dass er dem Jungen ab und zu eine Ohrfeige gegeben hatte. Völlig zu Recht! Seitdem hatte sich dessen Verhalten enorm verbessert. Er hielt brav die Klappe und störte nicht mehr den Unterricht. Für Pius war damit seine Mission erfüllt, hatte er doch dem Jungen zu der nötigen Disziplin verholfen. Sogar einen halbwegs passablen Ministranten hatte er aus Mick gemacht. Umso weniger konnte er begreifen, wie später so viel Aufsehens um seine Erziehungsmethoden gemacht wurde. Der Erfolg gab ihm doch recht! Aber was hatte der heute hier zu suchen? Konnte es sein, dass er… Pius wagte es nicht, den Gedanken zu Ende zu spinnen. Nur noch drei Leute trennten sie voneinander.

 

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Mit Genugtuung sah er zu, wie dem Pfarrer der Schweiß auf die Stirn trat. Die Ader an seinem Hals begann heftig zu pochen. Sein Gesicht war, als er ihn erkannte, augenblicklich aschfahl geworden. Lange würde er sich nicht mehr aufrecht halten können. Aber auch Mick spürte zunehmend, wie das Virus in seinem Körper wütete. Er würde dem trockenen Kratzen in seiner Kehle nicht mehr lange standhalten können, ohne zu husten. Mit langsamen Schritten trat er seinem Opfer entgegen.

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Mick: Die Abkürzung für Michael, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Entsetzt riss er die Augen auf, als ihm klar wurde, wer für das Smartphone und die Fotos darauf verantwortlich sein musste. Noch eine Person, dann stand er dem Mann gegenüber, der seinen Ruin wollte. Die Hostie, welche er soeben einer Frau mittleren Alters überreichen wollte, entglitt seinen zitternden Fingern. Er musste sich stark zusammennehmen, nicht auf der Stelle umzukehren und davonzurennen. Doch wie hätte das auf die Anwesenden gewirkt? Er musste jetzt einen kühlen Kopf bewahren. Die Frau, die die vorletzte in der Reihe gewesen war, machte mit dem Kopf eine Verbeugung und wandte sich ab.

 

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Nun standen sie also voreinander. Pius versuchte, tief durchzuatmen, doch dies brachte ihm lediglich die Schmerzen beim Atmen wieder zu Bewusstsein. Er durfte jetzt bloß nicht die Fassung verlieren. Er griff nach einer Hostie und hielt sie vor sich in die Höhe. „Der Leib…“, setzte er an, konnte jedoch nicht weitersprechen, da ihm die Stimme versagte.

„Danke, Padre!“ Mick blickte dem Pfarrer, der sichtlich um Fassung rang, noch einmal tief in die Augen und weidete sich an dessen Blick, der eine Mischung aus Entsetzen, Ungläubigkeit und Angst spiegelte. Dann nahm er mit einem höhnischen Lächeln auf den Lippen die Hostie entgegen, wandte sich ohne eine Verbeugung um und ging mit großen Schritten in Richtung Ausgang. Pius starrte ihm wie hypnotisiert hinterher. Da entdeckte er ein Detail, das ihm bisher noch nicht aufgefallen war. Entgeistert blickte er auf den Gegenstand, den Mick um den Hals trug. Anfangs hatte er es noch für einen engen Schal gehalten, doch nun, da er die Gummibänder sah, die den Nacken des Mannes umspannten, wurde ihm schlagartig bewusst, dass es sich dabei um eine schwarze, offenbar selbstgenähte Atmenschutzmaske handelte. Tausend Gedanken schossen ihm wirr durch den Kopf: Corona! Der Junge! Die Fotos! Infiziert! Sterben! Dies versetzte ihn derart in Aufregung, dass ihm schwindelig wurde. Er wollte etwas sagen, geriet aber so sehr in Atemnot, dass sein Gesicht rot anlief. Verzweifelt rang er nach Luft, während ihm das freche Grinsen seines Henkers noch immer vor Augen stand. Röchelnd versuchte er, den enganliegenden Kragen seiner Kutte zu lockern und blickte hilfesuchend um sich, doch alle um ihn herum wirkten wie versteinert und starrten ihn bloß entsetzt an, von Faszination für das Abscheuliche ergriffen. Erst als er keuchend die Hände rang, sich an die Brust griff und ihm schwarz vor Augen wurde, löste sich der erste aus der Starre.

 

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Mittwoch, 05. März 2020

 

Gestern Abend hat sich im Landkreis Passau eine Tragödie ereignet: Der dort ansässige Pfarrer Dr. Pius Oberndorffer war Augenzeugen zufolge mitten unter der Messe plötzlich in eine schwere Atemnot geraten und zusammengebrochen. Ortsansässige Sanitäter, die die Abendmesse besucht hatten, hatten bei dem 76-Jährigen sofort erste Hilfe geleistet, der nach Eintreffen des Rettungsdienstes mit einer schweren Lungenembolie ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Als Ursache für die akute Atemnot wird von den behandelnden Ärzten eine Kombination von Asthma mit einer Pollenallergie angenommen. Das Ergebnis eines Tests auf das neuartige Coronavirus steht derzeit noch aus. 

Der Pater hatte vor 16 Jahren für Schlagzeilen gesorgt, als ihm körperlicher Missbrauch in 15 Fällen vorgeworfen worden war.

Was die Lungenembolie letztendlich ausgelöst hat und bei wem sich der Pfarrer mit Corona infiziert haben könnte, ist aktuell noch unklar. Die Ärzte vermuten, dass sich der 76-Jährige während einer Beichte angesteckt haben könnte. Der Patient wird derzeit beatmet und befindet sich in einem stabilen Zustand.

 

 

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Epilog

 

Mit einem schweren Seufzen legte die überregionale Zeitung beiseite und lauschte den Vögeln durch das gekippte Fenster. Eine warme Brise drang durch den schmalen Spalt und erzählte vom endgültigen Sieg des Frühlings über den Winter. Ein Spatz, der unter der Dachrinne des Krankenhauses nistete, flog mit einem zappelnden Wurm im Schnabel zu seinem Gelege. Kurz darauf war das aufgeregte Piepen der Jungvögel zu hören. Die Natur konnten einen jedes Jahr aufs Neue verzaubern, wie sie wie Phönix aus der Asche ganz von selbst wieder zu neuem Leben erwachte. Ein wohliger Schauer kroch ihm über den Rücken. Das Leben konnte so schön sein. Es war der erste Tag, seitdem er nicht mehr beatmet wurde und er genoss jede Sekunde davon. Noch vor wenigen Wochen hatte er dem Tod sprichwörtlich in die Augen geblickt. Doch er war ihm noch einmal von der Schippe gesprungen. Seine Bronchitis war nun fast ganz abgeklungen und auch der starke Husten hatte nachgelassen, doch noch verspürte er ein leichtes Kratzen im Hals und auch sein Geschmackssinn war noch nicht ganz wieder zurückgekehrt. Schwerfällig griff er nach einem Glas Wasser, als leise die Tür aufschwang und eine Pflegerin mit einem Tablett hereinkam. Ein grüner Mundschutz verdeckte ihr halbes Gesicht. „Ah, Sie sind ja wach! Hier ist Ihr Frühstück. Der Doktor kommt gleich noch zur Visite.“ Da ihn Sprechen noch sehr viel Anstrengung kostete und er sich schonen solle, schloss er kurz die Augen und deutete ein Nicken an. Um Platz für das Tablett auf dem Tischen neben ihm zu schaffen, nahm sie die Zeitung und warf einen Blick auf das Datum. Da sie bereits vom Vortag war, faltete sie die Zeitung zusammen und wollte sie gerade wieder mit nach draußen nehmen, als er die Hand hob. „Bitte“, er musste sich räuspern, ehe er weitersprechen konnte, „Lassen Sie die noch da, ich will sie noch fertiglesen.“ Die Schwester zuckte nur mit den Schultern, legte sie hastig wieder an den Rand des Tischchens und verließ eilig das Zimmer. Da auf dem Tischchen nicht genug Platz für Tablett und Zeitung war, fiel die Zeitung zu Boden. Seufzend beugte er sich ein wenig vor und beobachtete, wie der Wind wahllos ein wenig darin herumblätterte, bis sie auf Seite zwei aufgeschlagen liegen blieb. In großen dunklen Lettern prangte die Überschrift: Corona fordert erstes deutsches Todesopfer – 35-Jähriger an den Folgen von COVID-19 gestorben. Noch einmal betrachtete er das kleine Foto darunter. Du dummer Junge, dachte er, fühlte bei dessen Anblick weder Mitleid noch Schuld. Er schüttelte leicht den Kopf, seufzte erneut und schloss wieder die Augen, um noch ein wenig zu schlafen, bevor der Doktor zur Untersuchung kam. Von dem Frühstück würde er sowieso nichts schmecken, vielleicht nie wieder, hatte man ihm gesagt. Man würde sehen. Hauptsache, er war am Leben und konnte noch so manchem Sünder sein kleines, dunkles Geheimnis entlocken.

6 thoughts on “Höllensturz

  1. Wirklich spannend – und dieser Schluss!!!???? 🤯 Damit hab ich wirklich nicht gerechnet. Gratulation. Vielleicht magst du ja auch meine Kurzgeschichte lesen “Wegen mir!”. LG aus dem Salzburger Lungau✌️😊

  2. Hallo, super Plot, der für Gänsehaut sorgt! Bereits beim Lesen der ersten Zeilen musste ich unweigerlich an den Song “Zeig dich” von Rammstein denken… Auch gut gefallen hat mir die Einbindung der aktuellen Pandemie! Gerne mehr von Geschichten dieser Art!
    Liebe Grüße aus Niedersachsen 😀

  3. Liebe Sappho,
    deine Kurzgeschichte hat mir wirklich außerordentlich gut gefallen. Der Spannungsbogen, die abwechslungsreiche Sprache, die vielen Stilmittel, die Vor- und Rückblenden, die Symbolik, die Andeutungen, einfach alles.
    Hoffentlich hört man noch mehr von dir!

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