AlinaUndBernadetteICH KANN DICH SEHEN

 

ICH KANN DICH SEHEN

 

von

 

Alina Melzl und Bernadette Niedermeier

 

 

 

Montag, 8:00 Uhr

 

Schon von Weitem vernehme ich lautes Geschrei aus dem Klassenraum. Ein kleines Schmunzeln tritt auf mein Gesicht, während ich die letzten Meter bis zum Zimmer der 9b zurücklege. Schnell rücke ich noch meine Umhängetasche zurecht, die immer an derselben Stelle unangenehm drückt und manchmal sogar millimetertiefe Abdrücke hinterlässt. Zum Glück werde ich dieses Ungetüm gleich abstellen können. Da ich keine Hand frei habe (es leben die Arbeitsblätter!), öffne ich die Tür umständlich mit dem Ellenbogen und schiebe mich seitlich durch den Spalt. Fast augenblicklich nimmt der Lärm der Klasse etwas ab. Mit einem fröhlichen, allerdings leicht gepressten „Guten Morgen“, welches von meiner schweren Last herrührt, begrüße ich die Schüler und lasse meine Tasche neben dem Lehrerpult auf den Boden gleiten. „Morgen“, kommt es von einigen zurück, während die anderen schnell auf ihre Plätze zusteuern. Nur Ferdi, der „Klassenclown“, wie er sich auch selbst gerne bezeichnet, scheint meine Ankunft nicht einmal zu bemerken. Mit dem Rücken zu mir und gesenktem Kopf steht er mitten im Gang zwischen der rechten und linken Tischreihe und blickt hochkonzentriert auf einen Gegenstand in seinen Händen, den ich von meinem Winkel aus nicht erkennen kann. Trotzdem bin ich mir ziemlich sicher, dass es sich um ein Handy handelt. Was sonst könnte Jugendliche in eine solch „zombie-ähnliche“ Hypnose versetzen? Mit einem gekünstelten Hüsteln mache ich auf mich aufmerksam. Ferdi zeigt sich immer noch völlig unbeeindruckt und kommt erst zur Besinnung, als Carina ihm mit einem Stift in die Seite pikst. „Ups“, entfährt es ihm und er dreht sich peinlich berührt zu mir um. „Sorry, Frau Irlbeck, hab Sie nicht bemerkt.“ Ja, das habe ich registriert. Ebenso wie die Tatsache, dass der Gegenstand, der solch große Aufmerksamkeit von ihm gefordert hat, tatsächlich ein Smartphone ist, ein ziemlich neues sogar, wie ich auf den ersten Blick feststelle. „Was sagen die Schulregeln, Ferdinand?“, entgegne ich, nehme meinem Tonfall mit einem leichten Lächeln allerdings etwas die strenge Note. „Das… das ist nicht meins!“, verteidigt er sich schnell mit dem Standardspruch, lässt das Teil dann aber widerspruchslos in meine ausgestreckte Hand fallen. „Abholen kannst du es heute Mittag im Lehrerzimmer“, erkläre ich, nachdem ich es rasch in meine Tasche gesteckt habe. „Aber es gehört wirklich nicht mir!“, antwortet er, was ich ihm natürlich nicht abkaufe. „Jetzt zum Stoff, die Schulaufgabe ist bereits in zwei Wochen“, übergehe ich seinen Einwand und mustere bei diesen Worten vor allem meine Schüler in der letzten Reihe ganz genau. „Was wisst ihr denn noch über „Emilia Galotti“?“

 

Montag, 13:02 Uhr

 

Mit einem gehetzten Blick auf die Uhr erkenne ich, dass mir, wie ich schon fast befürchtet habe, wirklich nur noch wenige Minuten bleiben, bevor mein Bus geht. Die Mittagspause ist bereits in vollem Gange und draußen vor der Tür des Lehrerzimmers wartet Ferdi bestimmt schon sehnsüchtig darauf, dass ich ihm sein Handy zurückgebe, welches ich nach meiner zweiten Unterrichtsstunde nur schnell in die dafür vorgesehene Aufbewahrungsbox bei der Lehrergarderobe gesteckt habe. Rasch packe ich also die Stegreifaufgabe der fünften Klasse, die ich heute wohl noch korrigieren muss, in meine Tasche und mache mich dann auf den Weg zur Garderobe. Dort angekommen, schlüpfe ich hastig in meinen Wintermantel, den ich aufgrund eines rasanten Temperatursturzes innerhalb der letzten Woche wieder hervorgekramt habe, hänge mir meinen grau-weiß melierten Schal über den Arm und greife, ohne wirklich hineinzusehen, mit meiner freien Hand in die Aufbewahrungsbox. Zum Glück befinden sich dort heute nur zwei Smartphones, sodass ich Ferdis schnell identifizieren kann. Keuchend kämpfe ich mich bis zum Zimmerende durch, was sich angesichts der Lehrerscharen vermutlich leichter anhört, als es tatsächlich ist, und trete durch den Ausgang auf den Schulflur, wo ich leider keinen Ferdi finde. Verdammt, der müsste doch schon längst hier sein! Gestresst tippe ich ganz automatisch auf seinen Handybildschirm, um die Uhrzeit zu checken. Und werde stutzig. Dieses Foto auf dem Sperrbildschirm… das kommt mir bekannt vor. Es ist lange her, doch trotzdem erinnere ich mich sofort an jedes kleinste Detail: Die brünette Frau, die vor der großen Fensterfront an ihrem Schreibtisch sitzt, mit einem leichten Schmunzeln auf den rot geschminkten Lippen in ihren silbrig-farbigen PC tippt. Ich kenne dieses Bild deswegen so genau, weil es mich zeigt.

 

Dienstag, 9:30 Uhr

 

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch betrete ich am nächsten Tag das Klassenzimmer der 9b. Sofort wandern meine Augen durch den Raum, bis ich Ferdi in der dritten Reihe entdecke. Sein Handy wiegt schwer in meiner rechten Hand. Da er gestern nämlich nicht mehr aufgetaucht ist, habe ich es einfach mitgenommen. Ich weiß, dass das eigentlich nicht in Ordnung ist, andererseits hat er mir wohl einiges zu erklären. Zuallererst natürlich, wo zum Teufel er dieses Bild von mir aufgetrieben und was es auf seinem Sperrbildschirm zu suchen hat. „Ferdinand, nach der Stunde kommst du bitte kurz zu mir!“, sage ich mit knappem Tonfall zu ihm und ignoriere seinen überraschten Blick. Ich war noch nie wirklich wütend auf einen Schüler, um ehrlich zu sein bin ich es auch jetzt nicht, aber trotzdem muss ich das unbedingt mit ihm klären und hinter den Grund für diese komische Sache kommen. Die gesamte Deutschstunde kann ich mich irgendwie nur zum Teil auf die Beiträge der Schüler konzentrieren, denn immer wieder taucht dieses Foto vor meinem inneren Auge auf. Endlich gongt es zur Pause und alle außer Ferdi verlassen das Zimmer. „Was ist denn, Frau Irlbeck?“, fragt Ferdi mit unsicherer Stimme. Bestimmt weiß er bereits, worauf dieses Gespräch hinauslaufen wird. Wortlos schalte ich das Handy an und halte es ihm unter die Nase. Kurz schaut er verwirrt drein, dann stellt er fest: „Das sind Sie, oder?“ Ach, wirklich? „Richtig, und das ist dein Handy. Also?“, erwidere ich mit leichter Ironie in der Stimme. „Nein, das hab ich Ihnen doch gestern schon gesagt! Es ist nicht meins, ehrlich.“ Fast will ich ihn unterbrechen, bin mir doch sicher, dass er sich nur herausreden will, da fährt er fort: „Ich hab´s gestern auf Ihrem Pult gefunden, kurz bevor Sie reingekommen sind, und naja… wollte halt wissen, ob es jemand vergessen hat, also hab ich´s genommen, um nachzusehen. Wegen des Bildes habe ich dann einfach angenommen, dass es Ihnen gehört. Deshalb war ich ja so überrascht, als Sie so komisch reagiert haben!“ Mit hochgezogenen Augenbrauen starre ich ihn an, muss seinen Redeschwall für einen Moment auf mich wirken lassen. Einerseits klingt diese Geschichte irgendwie unglaubwürdig, doch andererseits kann ich mir auch nicht vorstellen, dass Ferdi mir nun im privaten Gespräch dreist ins Gesicht lügt. „Bist du dir ganz sicher?“, hake ich noch einmal nach. „Ja, wirklich!“, verteidigt er sich vehement, blickt mir fest in die Augen. „Okay, dann… dann muss ich mich wohl bei dir entschuldigen“, gebe ich schließlich zu, bin allerdings immer noch zwiegespalten. Wenn Ferdi nichts damit zu tun hat, wer dann?

 

Dienstag, 17:24 Uhr

 

Mit einem erleichterten Seufzer, der daher rührt, dass dieser anstrengende Arbeitstag nun endlich vorbei ist, betätige ich den Klingelknopf neben Bens dunkelbrauner Wohnungstür. Keine zehn Sekunden später hat mein Freund sie auch schon geöffnet und schenkt mir sein typisches halbes Lächeln, bei dem sich immer Grübchen auf seinen Wangen bilden. „Hi, Süße“, begrüßt er mich mit seiner tiefen Stimme und drückt mir einen leichten Kuss auf den Mund. „Hey“, murmele ich an seinen weichen Lippen, möchte für einen kurzen Moment einfach nur das Gefühl von Geborgenheit genießen, welches mich in seiner Nähe immer überkommt. Doch dieses Mal machen mir meine Gedanken einen Strich durch die Rechnung. Ben, aufmerksam, wie er ist, scheint meine Unruhe intuitiv zu bemerken: „Was ist denn los, Marah?“, will er wissen, bringt ein paar Zentimeter Abstand zwischen uns, um mich genauer betrachten zu können. „Stimmt irgendwas nicht?“ „Lass mich erstmal reinkommen, dann erzähle ich dir alles“, gebe ich ausweichend zurück und drücke mich an ihm vorbei, um meine Tasche abzustellen und die Jacke aufzuhängen. „Was ist los? Haben dich die Schüler geärgert, oder was?“, wiederholt Ben seine Frage, nachdem ich es mir auf der Couch bequem gemacht habe und Schalk blitzt in seinen dunklen Pupillen auf. „Naja, nicht direkt“, antworte ich einsilbig und versuche mir gleichzeitig einzureden, dass ich mir vermutlich umsonst Sorgen mache. „Gestern habe ich einem Schüler ein Handy abgenommen, das anscheinend nicht ihm gehört, und das hier entdeckt:“ Mit einem leichten Schaudern reiche ich meinem Freund das Mobiltelefon und warte seine Reaktion ab. „Bist du das?“ Stirnrunzelnd schaut er kurz auf. Ich bringe nur ein Nicken zustande. „Ich kenn das Bild gar nicht. Du siehst viel jünger aus“, schiebt er nach kurzer Überlegung noch hinterher. „Du kannst es auch nicht kennen, das ist schon uralt“, erkläre ich und schnappe mir das Handy wieder. „Das… ist doch merkwürdig, oder?! Einer meiner Schüler hat ein Handy, auf dem Fotos von mir zu sehen sind!“ Ich weiß nicht einmal warum, aber je länger ich darüber nachdenke, desto mulmiger wird mir. „Also erstens: Das ist nur ein Bild“, versucht Ben mich zu beruhigen, „und zweitens finde ich das nicht mal so ungewöhnlich. Überleg doch: Das ist wahrscheinlich nur ein alberner Schülerstreich, wir wären damals noch auf viel einfallsreichere Dinge gekommen.“ Obwohl alles, was er sagt, total schlüssig klingt, bleibt meine Unruhe. Zweifelnd schüttle ich den Kopf: „Und wie, meinst du, soll Ferdi da rangekommen sein?“ „Kann es sein, dass man das irgendwo im Internet findet?“, überlegt Ben. Vermutlich ja. Ziemlich sicher sogar. Abermals nicke ich und der Druck auf meinem Brustkorb beginnt sich langsam zu lösen. „Na also. Alles nur ein dummer Streich. Diesen Ferdi darfst du morgen zur Schnecke machen, okay?“ Ermutigend lächelt Ben mich an und drückt meine Hand. Ich drücke dankbar zurück. Bestimmt hat er recht, bestimmt… Ein leises Pling durchbricht meine Gedanken. Überrascht bemerke ich, dass das Handy in meiner Hand vibriert. Ganz kurz denke ich, dass es ein Anruf ist, dann stelle ich jedoch fest, dass wohl eine WhatsApp eingegangen ist. Kopfschüttelnd lege ich das Teil beiseite. Obwohl Ferdi eine Abreibung verdient hat, werde ich sicherlich nicht so weit gehen, private Nachrichten meiner Schüler zu lesen. Ben ist da anscheinend anderer Meinung. Ehe ich es verhindern kann, greift er nach dem Telefon und wischt einmal über den Sperrbildschirm. „Hey!“, will ich protestieren, doch mein Ausruf wird von Bens ungläubigem Schnauben übertönt. Irgendetwas in seiner Miene lässt mich erstarren. „Was?“, bringe ich hervor. „Was ist denn?!“ Dieses Mal ist er es, der mir das Handy hinhält. Ich schnappe entsetzt nach Luft. Für einen kurzen Augenblick scheint das Blut in meinen Adern zu gefrieren. In dem Chat hat Ben ein Bild geöffnet. Die Nachricht, die soeben eingegangen ist. Es zeigt mich heute, wie ich gerade in den Bus einsteige, der mich zu Bens Wohnung gebracht hat.      

 

Mittwoch, 12:05

 

Gestern habe ich noch hektisch alle Rollos geschlossen und auch heute spüre ich förmlich Blicke an mir kleben. Ich schaue mich die ganze Zeit verstohlen um, doch mir folgt niemand. „Na super, jetzt drehst du völlig durch“, murmele ich vor mich hin. Das Foto vom Vortag geht mir nicht mehr aus dem Kopf. Hinter all dem muss einfach ein geschmackloser Schülerstreich stecken! Das alte Bild, das den Sperrbildschirm ziert, ist im Internet zu finden, das Handy hätten die Schüler ebenfalls leicht platzieren können und das Foto, auf dem ich in den Bus einsteige, hat bestimmt auch einer von ihnen geschossen. Die Bushaltestelle befindet sich schließlich direkt vor dem Schulgebäude. Gestresst rausche ich in das Klassenzimmer der 9b. Ich schäle mich aus meinem neuen, kirschroten Schal und lege meine Jacke ab. „Guten Mittag“, begrüße ich die Klasse und warte ihre Antwort erst gar nicht ab. „Bevor wir heute mit dem Unterricht beginnen, muss ich noch ein Wörtchen mit euch reden!“ Ich bemühe mich um einen möglichst strengen Tonfall und bemerke Verwunderung in so manchem Augenpaar. Knapp schildere ich meiner Klasse, was sich in den letzten beiden Tagen ereignet hat und mustere sie erwartungsvoll. „Ich kann mir das Ganze nur durch einen Schülerstreich erklären. Wenn sich der oder die Schuldige jetzt nicht vor der Klasse zu erkennen geben möchte, erwarte ich die Person im Laufe des Tages bei mir am Lehrerzimmer.“ Die Verblüffung der Schüler hat wieder nachgelassen und Mina deutet anklagend auf Ferdi. „Das war safe Ferdi! Wäre nicht sein erster Streich, der über die Stränge schlägt!“ „Ey, ich hab nichts damit zu tun!“, ruft dieser aufgewühlt zurück. Nun bricht die Klasse in komplettes Chaos aus. Die Schüler beginnen sich gegenseitig zu beschuldigen und Ferdi ist mittlerweile den Tränen nahe. „Ruhe!“, ich bremse die Gespräche ein und atme einmal tief durch. „Ich würde vorschlagen, dass wir mit dem Unterricht fortfahren und der oder die Schuldige im Laufe des Tages auf mich zukommt. Lasst uns jetzt mit der Charakterisierung von Marinelli beginnen.“ Die nächste halbe Stunde gestaltet sich als totales Durcheinander. Weder ich noch die Schüler sind voll bei der Sache, weshalb ich heilfroh bin, als mich der Gongschlag erlöst. Wie von der Tarantel gestochen stürme ich aus dem Klassenzimmer und lasse auch das Schulgebäude hinter mir. Wir haben Mittagspause und ich benötige jetzt erstmal einen heißen Kaffee und eine kleinen Snack. Da die Schüler das Schulgebäude nicht verlassen dürfen, habe ich Zeit zum Durchschnaufen. Ich mache mich auf den Weg zu meinem Lieblingscafé und spüre, wie ich mich zunehmend entspanne. Ich habe den Neuntklässlern deutlich gezeigt, dass dieser Streich nicht mehr lustig ist. Einer wird sich sicherlich noch heute bei mir melden und die Sache aufklären. Zuversichtlich betrete ich das „Anna“ und bestelle einen Milchkaffee sowie einen Bagel to go, damit ich in der Schule noch die Arbeitsblätter für die 6c kopieren kann. Ich nehme meine Bestellung entgegen und verlasse wehmütig das Café. Gerne würde ich länger bleiben, mich auf die gemütliche Couch lümmeln und in Ruhe essen, doch daraus wird leider nichts. Die Arbeit wartet. Komisch, wie menschenleer die Innenstadt heute ist. Ich bin nahezu allein unterwegs, als ich den Rückweg antrete. Während ich genüsslich meinen Milchkaffee schlürfe, spüre ich ein Vibrieren in der linken Jackentasche. Automatisch ziehe ich das Handy heraus. Vielleicht eine WhatsApp von Ben? Doch anstatt meines Smartphones halte ich das fremde Handy in der Hand. Ich habe es mitgenommen, um es den Schülern während meiner Ansprache zu zeigen und seitdem ruht es in meiner linken Jackentasche. Mein eigenes in der rechten. Ich habe bereits eine ungute Vorahnung, als ich die eingegangene Nachricht öffne.

 

Ich kann dich sehen. Netter Schal.

 

Wie vom Donner gerührt bleibe ich stehen, merke im ersten Moment gar nicht, dass ich mir den kompletten Kaffee über meine Kleidung geschüttet habe. Panisch blicke ich mich um. Abgesehen von einer alten Frau, die sich mit ihrem Rollator voran kämpft, ist hier niemand. Ich stehe wie ein mit Kaffee begossener Pudel auf dem Gehweg und mein Herz läuft einen Marathon.

 

Mittwoch, 17:00

 

Der verbleibende Schultag ist der reinste Horror. Ich bin kreidebleich und ernte einige besorgte Blicke von Schülern und Kollegen. Wie ich befürchtet habe, hat sich immer noch kein Schüler bei mir gemeldet. Wieso denn auch?! Mittlerweile bin ich von der Unschuld meiner Schützlinge überzeugt und bereue meine harsche Ansprache. Niemand von ihnen konnte vorher in der Innenstadt gewesen sein. Hinter diesen Nachrichten steckt jemand anders.

 

Da ich bereits Feierabend habe, versuche ich noch ein letztes Mal die Kaffeeflecken aus meiner Kleidung zu waschen, doch sie verschwinden natürlich nicht. Ich werde Ben wohl so unter die Augen treten müssen. Ebenso wie gestern steuere ich die Bushaltestelle vor dem Schulgebäude an. Ich scanne meine Umgebung mit Adleraugen ab, bemerke aber niemanden, der sein Handy auf mich richtet. Neben mir steigt nur eine Oberstufenschülerin in den Bus ein, die mich sofort grüßt und anlächelt. Ich erwidere ihr „Hallo“ und suche mir einen Sitzplatz. Die Fahrt nutze ich, um das mysteriöse Smartphone genauer unter die Lupe zu nehmen. Vielleicht finde ich ja Hinweise über den Besitzer. Auf WhatsApp entdecke ich lediglich einen einzigen Chat. Die Nummer ist nicht eingespeichert, doch die Nachrichten sind mir umso vertrauter und lassen mich erschaudern. Von WhatsApp abgesehen befinden sich auf dem Gerät weder Apps noch Kontakte oder sonstige relevante Informationen. Na super! Die Haltestellenansage „Rosenweg“ reißt mich aus meinen Gedanken. Hektisch springe ich auf. Da hätte ich doch beinahe verpeilt, auszusteigen. Ich gebe heute sicherlich einen lustigen Anblick ab. Nach wenigen Minuten Fußweg erreiche ich Bens Wohnung und er öffnet mir sofort. „Was ist dir denn passiert?“ Er mustert mich besorgt: „Geht’s dir gut?“ Ich schüttele nur den Kopf und stolpere ins Warme. Noch während ich Jacke, Schal und Schuhe ablege, setzt Ben Teewasser auf. Ich folge ihm in die Küche und lasse mich auf einen Stuhl plumpsen. „Geht es immer noch um dieses komische Smartphone?“, fragt Ben und streicht sich nachdenklich über den Dreitagebart. „Ja, das ist definitiv kein Schülerstreich!“ Ich strecke ihm das Handy entgegen, sodass er die letzte Nachricht lesen kann und bringe ihn auf den neusten Stand der Dinge. Seine Gesichtszüge verhärten sich: „Das ist echt nicht witzig! Marah, antworte doch auf die Nachricht. Vielleicht knickt der „Witzbold“ ein, wenn du ihm mit der Polizei drohst.“ Ich nicke meinem Freund zu und verschicke folgende Zeilen: Was soll das? Wer sind Sie? Das ist nicht lustig! Hören Sie auf mich zu belästigen, sonst schalte ich die Polizei ein. Ich blicke vom Display auf und nehme dankbar den heißen Apfeltee entgegen, den Ben mir reicht. Auf eine Antwort gespannt, klammere ich mich an die Tasse wie an eine Rettungsboje. Minute um Minute verstreicht und ich will das Handy schon zur Seite legen, als es vibriert. Die unbekannte Nummer hat mir ein Bild geschickt. Ein Bild von einem Rubin. Er ist dunkelrot und oval. Eine seltsame Antwort auf meine unmissverständlichen Fragen. „Was soll das denn heißen? Wahrscheinlich hat die Person jetzt Angst bekommen und will nen mysteriösen Abgang hinlegen“, schmunzelt Ben. „Lass dich von so einer blöden Aktion nicht stressen. Was meinst du, wollen wir Game of Thrones weiterschauen? Ablenkung tut dir sicher gut.“ „Aber…“, ich zögere kurz, gebe mir dann jedoch einen Ruck. Dieser Spuk hat sich mit der Drohung von der Polizei erledigt, ganz bestimmt. Rasch blockiere ich die unbekannte Nummer, ehe ich Ben auf die Couch folge. Das hätte ich schon viel früher tun sollen. Den Rubin sehe ich allerdings noch immer vor meinem inneren Auge. Wahrscheinlich mache ich mir einfach zu viele Gedanken. Ich kuschele mich an Ben, während er Netflix auf dem Laptop öffnet und blende meine Sorgen aus.

 

Donnerstag, 7:50

 

Das Schulgebäude betrete ich heute mit verhältnismäßig guter Laune. Um mein Auftreten von gestern wieder wett zu machen, bin ich heute extra eine halbe Stunde früher aufgestanden. Meine Haare sind zu einem Dutt gebunden, Highlighter betont meine Wangenknochen und ich führe mein neues Jeanskleid aus. Selbstverständlich bedeckt es meine Knie und entspricht der Schulordnung. Ich muss doch meine Vorbildfunktion erfüllen. Noch vor der ersten Stunde gehe ich ins Sekretariat, um das mysteriöse Smartphone zu den Fundsachen zu legen. Mit einem „Guten Morgen!“, begrüße ich die Sekretärinnen sowie Frau Fichtinger, die Schulrektorin, die gerade Unterlagen abholt. Es erfüllt mich mit unvorstellbarer Genugtuung, das Teil endlich los zu werden! Ich will nichts mehr mit dieser Sache zu tun haben. In der großen Kiste voller Fundsachen stapeln sich Pausenboxen, Sportbeutel, Trinkflaschen und ein neonpinker Geldbeutel. Ich verdrehe die Augen, denn wie vergesslich kann man bitte sein, und bugsiere das Handy hinein. Gerade bin ich im Begriff, das Sekretariat zu verlassen, als ich ein vertrautes Vibrieren wahrnehme. Aber… Wie ist das möglich?! Die Nummer habe ich doch ganz sicher blockiert! Unwillkürlich schaudere ich. Irgendetwas stimmt hier nicht. Ganz langsam drehe ich mich zu dem Handy um, nehme es in meine zittrige Hand. Ein Wecker ist losgegangen. Unter der großen virtuellen Uhr, die das Display für sich einnimmt, lese ich: Netter Versuch. Mich wirst du so schnell nicht los! Mir wird augenblicklich speiübel und ich beende den Alarm mit einem hektischen Wischen über das Display. Jemand beobachtet mich. In diesem Augenblick. So muss es sein. Ein seltsames Kribbeln fährt meinen Rücken hinunter, als durchbohrten mich hunderte von Augenpaaren, die nur darauf warten, dass ich… Ja, was? Zusammenbreche? Mein Brustkorb zieht sich zusammen und ich röchele nach Luft. Mittlerweile haben auch die Sekretärinnen und Frau Fichtinger meinen Zustand bemerkt und eilen mir zu Hilfe. Frau Fichtinger drückt mir völlig überfordert eine Plastiktüte in die Hand. „Atmen Sie langsam und tief ein, Frau Irlbeck. Alles wird gut!“ Der Tonfall der Rektorin ist beruhigend, doch die Panik in ihren Augen entgeht mir nicht. Die Panik, die sich tausendfach verstärkt in mir zu einem Tornado zusammenbraut.

 

Donnerstag, 8:35 Uhr

 

Ich konnte einfach nicht in der Schule bleiben. Ich konnte nicht. Gott sei Dank bestand Frau Fichtinger ohnehin darauf, mich nach Hause zu schicken. Ich solle vielleicht zum Arzt gehen und mich durchchecken lassen. Wenn das nur helfen würde… Meine Knie zittern immer noch, als ich meine Wohnungstür aufschließe. Ich bin so durch den Wind, dass ich beim Eintreten fast auf meinem monatlichen Abonnement der InStyle ausrutsche, die der Postbote immer durch meinen Briefschlitz an der Tür schiebt. Gerade noch kann ich mich fangen, fluche leise und werfe die Zeitschrift achtlos auf mein Bett. Verdammt! Was ist nur los mit mir?! Mit bebenden Schultern lehne ich mich gegen meine Tür, lasse mich langsam hinunterrutschen, bis ich auf dem kalten Boden kauere. Das Gesicht in meinen Händen vergraben. Ich habe Angst, das ist los.

 

Donnerstag, 22:47 Uhr

 

Unruhig wälze ich mich in meinem Bett hin und her. Das bedrohliche Gefühl, ununterbrochen beobachtet zu werden, lässt mich nicht mehr los, hindert mich daran, einzuschlafen, lenkt meine Gedanken unermüdlich. Wenn ich nur wüsste, wer hinter dieser Geschichte steckt! Wenn ich wenigstens irgendeinen Anhaltspunkt hätte. Ich habe mich bis zum Hals in meine Decke eingemummelt und trotzdem ist mir eiskalt. Die blinkenden Lichter der Stadt, die durch mein Fenster dringen und mich normalerweise beruhigen, scheinen heute riesige, schwarze Schatten zu erzeugen. Düstere Ungeheuer, die stetig näher rücken und mich mit ihrer Dunkelheit umschließen. Genug! Ich mache mich komplett verrückt, so werde ich niemals einschlafen können. Auf der Suche nach Ablenkung greift meine Hand automatisch zu den Magazinen auf meinem Schreibtisch. Ich knipse die Nachttischlampe an, die mit ihrem warmen Licht die Schatten an meinen Wänden vertreibt, nehme die oberste Zeitschrift, die neue InStyle, vom Stapel herunter und schlage sie auf. Lesen hat mir schon immer geholfen, dann wird es auch jetzt… Der erstickte Schrei entfährt mir, bevor ich ihn unterdrücken kann. Meine linke Hand schießt zu meinem Mund, die rechte wirft das Modemagazin von sich, als wäre es eine Bombe, die jeden Moment hochgeht. Das… das kann einfach nicht wahr sein, nicht schon wieder… Obwohl die Zeitschrift nun am Fußende meines Bettes liegt, blinken mir die roten Großbuchstaben unter dem Vorwort immer noch unheilbringend entgegen. Die Botschaft ist so simpel und doch so unmissverständlich: WENN DU WILLST, DASS ALLES AUFHÖRT: HEUTE, 20:30 UHR, IM PARK! Unterschrieben: THOMAS

 

Mehr steht da nicht. Aber es reicht, um mein Herz für einen kurzen Moment aus dem Takt zu bringen. Hektisch werfe ich einen Blick auf die Uhr und bemerke mit Schrecken, dass ich das Treffen ohnehin verpasst habe.

 

Später konnte ich nicht mehr sagen, wann oder wie ich eingeschlafen war, doch als mich ein Geräusch hochschrecken ließ, zeigte mein Wecker Freitag, 2:11 Uhr.

 

Es ist nicht einmal besonders laut, nur ein kaum vernehmbares Klappern, doch es hallt in meinen Ohren wie ein Donnerschlag wider. Aufrecht sitze ich im Bett, steif und unbeweglich und bin mir zweier Dinge plötzlich vollkommen sicher. Erstens: Ich kenne nun die Identität meines Stalkers und zweitens: Er befindet sich hier. In meiner Wohnung. Und will sich rächen. Während der Schreck in meine Glieder fährt und mein Blut in Wallung bringt, setzen sich die einzelnen Bilder und Bruchstücke in meinem Kopf zu einem Ganzen zusammen. Mein altes Büro mit der Fensterfront. Ein weiteres Klappern. Der Rubin, dieses klare Symbol, das ich doch nicht verstanden habe. Kommt es aus dem Esszimmer? Das Kompliment zu meinem neuen Schal. Dem rubinroten Schal. Sind da Schritte auf dem Holzboden? Höre ich da nicht keuchende Atemzüge? Der Rubin, rot: RUBY! RUBY, in roten Druckbuchstaben auf dem Cover. Nein, das sind meine eigenen. Mein eigener, panischer Atem, der mich verrät und meine Schuld in die Welt schreit. Während meines Studiums habe ich als Journalistin bei der Ruby gearbeitet, um Geld zu verdienen. Strenge Abgabefristen und der Druck abliefern zu müssen… Ich brachte einen Skandal zu Papier, perfekt inszeniert. Endlich hatte ich es geschafft. Diese Story ebnete mir direkt den Weg auf das Cover. Dass die Sache einen gewaltigen Haken hatte, blendete ich aus: Die Recherche war nicht gründlich genug. Das einzige Model im Interview: Von Wut geleitet, eindeutig unaufrichtig. Egal – es galt eine Abgabefrist zu erfüllen. Den Preis für meine schusselige Arbeit zahlte ein anderer: Thomas Fink. Sein Ruf als Fotograf: zerstört.

 

Ich schäle mich aus der Decke, stelle die nackten Füße auf den kalten Boden. Erst später kamen die Schuldgefühle. Die eisige Gewissheit, dass ich Thomas Finks Leben mit einer erlogenen Missbrauchsstory zum Einsturz gebracht hatte. Niemand würde sich je wieder von ihm fotografieren lassen. Ich kündigte bei der Ruby und nahm nie wieder eine Ausgabe in die Hand, in der Hoffnung, das Ganze einfach verdrängen zu können. Das klappte auch ganz gut. Bis heute.  

 

Meine Schritte erzeugen kaum einen Laut. Das Telefon befindet sich im Gang. Wenn ich doch nur… Auf einmal Stille. Er weiß es. Er weiß, dass ich wach bin. Mein zittriges Wimmern tut sein Übriges. Hier stehe ich, im sanften Licht der Nachttischlampe, das durch den Spalt der Schlafzimmertür dringt, hilflos und zur Salzsäure erstarrt wie ein wehrloses Reh im Scheinwerferlicht eines heranbrausenden Autos. Ich zähle meine panischen Atemzüge,…doch er kommt nicht. Stattdessen stellt sich das Klappern wieder ein. Dumpfe Schritte. Ein Stuhl, der quietschend verrückt wird. Wie in Trance folge ich den Geräuschen, kann nicht anders. Da ist sie. Die Tür zum Esszimmer, einen Spalt geöffnet. Ganz von selbst drückt meine Hand sacht dagegen, sie schwingt leise auf. Es braucht einen Moment, bis ich begreife, was ich da sehe: Der Tisch ist ordentlich gedeckt, ein warmer Duft von Kaffee aus einer in der Mitte befindlichen Kaffeekanne erfüllt den Raum und links davon, keine zwei Meter von mir entfernt… Thomas ist alt geworden. Der Skandal hat Spuren hinterlassen. Von dem vollen braunen Haar ist nicht mehr viel übrig. Sein Blick hingegen ist wie früher: durchbohrend. Der eines Fotografen, dem nicht einmal das kleinste Detail entgeht. Nur das irre Funkeln in seinen Augen ist neu. In der Hand… in der Hand hält er ein brennendes Streichholz. Oh Gott, ist er wahnsinnig?! Mein erster Gedanke. Der zweite: Er will mich abfackeln, das ist seine Rache! Ganz langsam, geschmeidig wie eine Raubkatze, wendet Thomas Fink sich um, unterbricht somit unseren Blickkontakt, lässt das Streichholz hinabsinken und… zündet eine Kerze auf dem Tisch an. Ich schlucke. Kann nur dastehen und zusehen. Dann unterbricht er das Schweigen: „Setz dich doch, Marah. Wir haben einiges zu klären.“

 

 

 

 

 

E N D E

 

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