PottwomanIdentität

Identität

 

Julia wachte schweißgebadet auf. Schon wieder dieser fürchterliche Traum. Immer derselbe. Sie träumt, sie liegt im Bett und Männer ohne Gesicht versuchen sie mit einem Grabstein zu erdrücken. Gott sei Dank reißt sie der Wecker pünktlich um acht aus diesen Träumen. Warum immer der gleiche Traum? Das ist doch nicht normal. Wenn es noch an üppigen Mahlzeiten am Abend liegen würde, aber das würde sie nie tun.

 

Okay erstmal tief durchatmen und dann aufstehen, wie immer. Sie fühlt sich jedes Mal wie gerädert, als wenn ihr der Traum in der Nacht alles abverlangt.

 

Also ab unter die Dusche und die schlechten Gedanken und Gefühle wegspülen. Unter der Dusche geht es ihr schon besser. Das warme Wasser wirkt Wunder. Nach der Dusche steht sie lange vor dem Spiegel und ist zufrieden. Sie sieht super aus für ihre 38 Jahre. Das lange blonde wellige Haar zeigt keine Spur von grau, die langen Beine makellos, schmaler Bauch, schmale Hüften. Durch die letzten sonnigen Tage zeigen sich ein paar neckische Sommersprossen, was sie gut und gerne 10 Jahre jünger aussehen lässt. Beim Make Up setzt Julia auf dezent. Alles andere wäre auch unnötig bei ihrer schönen Haut. Nur ein bisschen Mascara, der die hellblauen Augen hervorhebt, etwas getönte Tagescreme und einen zum Outfit passenden, auch gerne grellen Lippenstift auf  die vollen Lippen – fertig. Julia ist zufrieden. Sie geht zu ihrem begehbaren Kleiderschrank und freut sich, dass sie in ihrer Penthouse-Wohnung in Frankfurt Platz dafür gefunden hat. Sie entscheidet sich für das Joggingoutfit und läuft erstmal ein paar Runden. Sie hat noch genügend Zeit, da sie sich als selbstständige Immobilienkauffrau ihre Zeit selbst einteilen kann. Termine mit Kunden macht sie grundsätzlich erst nachmittags, da haben ohnehin die meisten Leute mehr Zeit und sind entspannter.

 

 

Beim Joggen denkt sie an Marvin… ach Marvin, wie sehr sie ihn doch liebte… Sie ist traurig, dass ihre Eltern ihn nie kennenlernten. Sie hätten ihn auch gemocht. Ihre Mutter hatte sie stets damit aufgezogen, dass sie sich in Bezug auf Männer nie zu einer Beziehung hatte durchringen können – keiner war gut genug. Jetzt, mit 38 hatte sie endlich „Mr. Right“ gefunden. Leider konnten ihre Eltern das nicht mehr miterleben. Ihre Mutter hatte sie erst im hohen Alter von 42 Jahren bekommen, ihr Vater war damals sogar schon 46. Wenn man so lange auf ein Kind hofft, wird dieses natürlich mit Liebe überschüttet und sie war dankbar dafür. Sie war immer Papas Prinzessin, jeder Wunsch wurde ihr von den Augen abgelesen. Vor fünf Jahren hatte Papa dann einen Herzinfarkt. Eine schwere Zeit für sie und ihre Mutter, die so gar nicht darüber hinwegkommen wollte. Vor zwei Jahren dann die Diagnose Lymphdrüsenkrebs bei ihrer Mutter – es ging sehr schnell und Julia war alleine auf der Welt. Sie hatte eine beträchtliche Anzahl von Immobilien von ihren Eltern geerbt, aber das tröstet nicht über den Verlust der geliebten Menschen hinweg. Jedoch war sie sich auch bewusst, wie unendlich dankbar sie den beiden immer sein würde. Geldsorgen kannte sie nicht und würde sie wohl auch nie haben, das war gewiss.

 

Als sie vor einem halben Jahr Marvin im Park kennenlernte war das wie ein Wink des Schicksals. Sie rannte ihn beim Joggen förmlich um. Plötzlich kniete er mit seiner Kamera vor ihr und sie konnte einfach nicht mehr abbremsen. Marvin war Fotograf und machte exklusive Kalender für Firmen in aller Welt. Sie lud ihn anstandshalber auf einen Kaffee ein und von da an war es um sie geschehen. Meine Güte, war dieser Mann eloquent, gutaussehend und einfühlsam. Sie hatte sofort das Gefühl auf einen Seelenverwandten gestoßen zu sein. Sie hatten vieles gemein und schienen das gleiche vom Leben zu erwarten. Er war zwar erst 24 Jahre alt, aber was macht das schon, wenn es einfach passt?

 

Nach dem Joggen wollten sie sich wieder im Park treffen, auf „ihrer Bank“. Der Gedanke ließ sie ihre Runden noch ein bisschen schneller laufen, so dass sie ein bisschen früh dran war. Sie setzte sich auf die Bank und wartete auf ihren Marvin.

 

* * *

Johanna war heute auch früh dran. Nichts sollte jetzt noch schiefgehen, so kurz vor der Durchführung ihres Plans. Endlich konnte die zweite Phase eingeleitet werden, wie lange hatte sie darauf gewartet… Sie nahm Platz auf einer Bank im Park und wartete. Kurz darauf bog Julia auch schon um die Ecke. Sie lief immer diese Runden. Wurde der Schlampe das nicht mal zu langweilig? Aber es war gut für sie, so konnte man sie leichter berechnen – es war so einfach! Gleich würde sie zum zweiten Mal an ihr vorbeilaufen – so ahnungslos. Erkennst Du mich nicht? Hätte sie sie am liebsten angeschrien. Aber sie war ja froh, nicht erkannt zu werden. Sie hatte sich ja auch sehr verändert. Dünn war sie geworden, wobei dünn noch stark übertrieben war. Magersüchtig würde ihren Zustand am besten beschreiben. 45 kg bei einer Größe von 1,75 m ist definitiv zu wenig. Sie hatte sich die Haare kurz geschoren und ihr Gesicht war übersäht mit Piercings. Die Klamotten immer in hellem, freundlichen Schwarz. Da kam sie wieder: Johanna tat so, als ob sie sich auf ihr Handy konzentriert – nicht besonders auffällig, macht ja jeder heutzutage. Sie machte ein paar Fotos von der joggenden Julia und lachte still in sich hinein… Du wirst Dich noch wundern, Schlampe. Nach der zehnten Runde setzte sich Julia auf ihre Lieblingsbank (wie dumm und berechenbar). Johanna, auf der Bank daneben, beobachtete sie voller Hass. Jetzt war der richtige Zeitpunkt: Sie stand auf und ließ ihr Handy liegen. Julia war ohnehin auf Wolke 7 und würdigte sie keines Blickes.

 

In sicherer Entfernung ging sie in Stellung und rief ihr liegengelassenes Handy an…

 

* * *

 

Johanna zuckte zusammen! Ein Handy auf der Bank neben ihr klingelte. Aber niemand da, dem es gehörte. Sie schaute sich um… Keiner zu sehen. Ihr war wohl bewusst, dass da vor kurzem noch jemand saß, aber der- oder diejenige waren schon außer Sichtweite. Was tun? Sie ging auf das Handy zu und erschrak: Das Handy klingelte immer noch und der Anrufer war SIE SELBST!!! Automatisch wich sie zurück. Wie kann das sein? DAS KANN NICHT SEIN!!! Ich bin hier, ich rufe niemanden an. Das ist NICHT MEIN Handy!!! Zitternd nahm sie das Handy in die Hand und wollte rangehen – das kann ja nur ein Scherz sein. In dem Moment hatte der Anrufer wohl aufgelegt. Mist! Und jetzt? Das Handy war gesperrt mit einem Pin. Sie schaute sich um – immer noch niemand zu sehen, der sein Handy vermisste. Auch Marvin ließ auf sich warten. Ob sie einfach mal einen Pin ausprobieren sollte? Sie versuchte es mit 1-1-1-1 – falscher Pin! War ja auch klar, wer nimmt schon einen so blöden Pin? Vielleicht ein anderer, genauso blöder Pin? 1-2-3-4 – falscher Pin! Einen Versuch hatte sie noch. Ihr brach der Schweiß aus, aber sie musste es versuchen. Sie gab ihr Geburtsdatum ein, was auch ihr Pin für ihr eigenes Handy war: 5-2-8-2 – Pin korrekt! Das Handy fiel ihr vor Schreck aus der schweißnassen Hand!

 

* * *

 

Johanna war zufrieden, scheinbar hatte Julia angebissen. Sie wusste, dass der Plan aufgeht. Er war teuflisch und gut durchdacht, der Rest war ein Kinderspiel.

 

Sie ging nach Hause und da war ER. Eigentlich war ER immer da – leider! Aber sie brauchte ihn noch für den Plan. Danach würde sie ihn entsorgen – es wurde Zeit. Zu lange schon musste sie IHN ertragen.

 

„Wo warst Du so lange, verflucht?“, sagte er lallend zu ihr. Selbst auf die Entfernung roch sie seinen schlechten Atem, der ihr aus seinem fast zahnlosen Maul entgegen waberte. Sie wusste gar nicht, warum er überhaupt Anziehsachen im Schrank hatte. Er lief immer in dreckiger Unterwäsche durch die Wohnung, raus ging er kaum. Die fettigen Haare hingen angeklatscht an seinem Kopf. Einen Kamm besaß er gar nicht. Ein widerlicher Anblick!

 

„Halt die Fresse“, sagte sie zu ihm „die Zeiten, wo Du mir was sagen konntest, sind schon lange vorbei. Denk lieber daran, was ich Dir versprochen habe. Julia wartet schon auf Dich. Also versau es nicht, indem du mich nervst.“ Ein Zucken in seinen Mundwinkeln verriet Johanna, dass sie den richtigen Ton getroffen hatte. Er freute sich schon seit zwei Wochen darauf, Julia zu besitzen. Er hatte sie zusammen mit Johanna bereits mehrere Nächte besucht. Aber er durfte sie nur ein bisschen Anfassen, an ihr riechen. Verdammt, das reichte langsam nicht mehr. Er musste sie haben! Johanna hatte es ihm versprochen. Er hielt die Spannung kaum noch aus – es erinnerte ihn an alte Zeiten und er malte sich aus, was er alles mit Julia machen würde… wie früher – herrlich… Sabber tropfte ihm dabei aus den Mundwinkeln…

 

* * *

 

Julia saß immer noch wie versteinert auf der Bank. Eigentlich wollte sie sich das Handy gar nicht anschauen, aber die Neugier war zu groß. Erstmal die letzten Anrufe anschauen: Nur eine unterdrückte Nummer – das war schon mal nichts. Nachrichten? Auch keine – mehr als ungewöhnlich. Dann eben mal Bilder schauen: Julia bekam Schnappatmung, kriegte sich kaum noch unter Kontrolle. Da war sie, gerade erst aufgenommen beim Joggen! Verdammt, ich werde beobachtet, schoss es ihr durch den Kopf! Da, ein weiteres Bild von ihr. Das gleiche Bild, das sie für ihren WhatsApp-Account nutzt!!! Wie geht sowas? Ich kann nur schlecht träumen!!! Aber damit nicht genug. Egal, welches Bild Julia anklickte, es war immer SIE zu sehen. Der Uni-Abschluss, sie mit ihren Eltern im Restaurant, sie mit Kunden im Gespräch … SIE, SIE, SIE!!! Tränen schossen ihr in die Augen. Werde ich denn schon mein ganzes Leben lang verfolgt?

 

Plötzlich merkte sie eine Hand auf ihrer Schulter und schrie los. „Hey, Süße, was ist denn? Ich bin’s doch nur.“ Durcheinander wie sie war, hatte sie gar nicht bemerkt, dass Marvin mittlerweile gekommen war. Er sah sie geschockt an: „Was ist denn los mit dir? Du bist ja ganz aufgelöst.“ Statt etwas zu sagen warf sie sich nur in seine Arme und weinte, weinte, weinte…

 

Auf dem ganzen Rückweg zu ihrer Wohnung war sie nicht in der Lage mit Marvin zu sprechen. Er machte ihr erstmal einen Kaffee und legte sie behutsam auf die Couch. Dann erst konnte sie ihm berichten, was passiert war…

 

* * *

 

Johanna starrte auf ihr Handy, wann kam endlich das Okay für Phase 3 des Plans? Der Drecksack neben ihr hielt es ja kaum noch aus. Der Küchentisch war bereits vorbereitet. An allen vier Enden befanden sich Fesseln. So konnte Julia fixiert werden – sie hatte keine Chance. Der Alte hatte schon beim Präparieren des Küchentisches einen Dauerständer bekommen vor lauter Vorfreude. Johanna widerte es an, aber es war der einzige Weg ihre Rache durchzuführen. Endlich würde Julia für ihren Fehler büßen müssen… Da kam auch schon das erwartete Klingeln des Handys: „Phase 3 kann starten!“, stand da. ENDLICH – jetzt würde es nicht mehr lange dauern… Sie schrieb eine Nachricht und drückte auf „senden“…

 

* * *

 

Marvin war ebenfalls sichtlich geschockt, ging aber analytischer an die Sache heran. „Erstmal gehst Du zur Polizei, die haben sicherlich Spezialisten für sowas. Da will Dich sicher so ein Hacker in Angst und Schrecken versetzen, die manipulieren ein Handy doch mit links.“ Der Gedanke, sich bei der Polizei mit einem gefundenen Handy lächerlich zu machen, gefiel Julia gar nicht. „Lass uns erstmal abwarten. Vermutlich hast Du recht und so ein Spinner aus dem Internet will mir Angst machen.“ Marvin nickte widerwillig, wollte sie aber nicht weiter aufregen. „Ich mach Dir jetzt erstmal eine Kleinigkeit zu essen. Du bist ja vermutlich total unterzuckert.“ Julia nickte nur dankbar und dachte nach. „Ich werde …“ Ein Klingelton des Handys unterbrach Julia. Sie zuckte zusammen. Will der Alptraum denn nicht aufhören? Zitternd schaute sie aufs Display und Marvin kam schnell aus der Küche, um mitzulesen: „Überraschung, meine Süße. Komm vorbei und wir reden drüber. Winkelstraße 34, Hinterhof.“

 

* * *

 

„Meinst Du, dass sie auf einen so blöden Spruch reinfällt?“ lallte ER vor sich hin. Johanna fuhr ihn an: „Schnauze, Wichser! Wenn nicht, dann könnte ich noch auf Telefonterror oder Entführung zurückgreifen, das weißt Du doch!“ Insgeheim hatte Johanna sich die gleiche Frage gestellt. Würde sie kommen?

 

* * *

 

„Was soll ich denn jetzt machen, Marvin? Ich habe eine Scheißangst!“ Marvin nahm sie in den Arm. „Keine Sorge, Spatz. Da musst Du nicht hin. ICH gehe zur Polizei und rede mit denen. Das Handy nehme ich mit, damit haben wir den Beweis.“ Julia nickte und fühlte sich wie ein kleines Kind. Sie dachte an ihre rotgelockte Puppe aus Kindertagen. Sie gab ihr früher immer Sicherheit. Sie weiß noch, wie untröstlich sie war, als sie nicht mehr aufzufinden war. Ihre Mutter setzte alle Hebel in Bewegung, aber die Puppe blieb verschwunden. Seit Ewigkeiten hatte sie nicht mehr daran gedacht, aber jetzt, in dieser grauenhaften Situation kam ihr die Puppe in den Sinn. Verrückt. Marvin wickelte Julia indes in ihre Lieblingskuscheldecke und machte ihr einen Liebesfilm an. Dann ging er mit dem Handy los zur Polizei…

 

* * *

 

Julia war tatsächlich ein bisschen eingeschlafen. Als Marvin die Tür aufschloss, war sie aber wieder hellwach. Marvin erzählte ihr von dem Polizeibesuch, dass die Polizeibeamten die Angelegenheit zunächst belächelt hatten und dass sie sich erst nach seinem energischen Auftreten dazu bereit erklärt hatten, der Adresse einen Besuch abzustatten. Marvin ließ es sich nicht nehmen mitzugehen. Vor Ort befand sich im Hinterhof ein kleiner Bungalow, ziemlich heruntergekommen und eindeutig verlassen. Damit war die Angelegenheit für die Polizei erledigt. Marvin bestand noch darauf, den Bungalow näher zu untersuchen. Da er verlassen war und offen stand, ließen sich die Polizisten auf eine Durchsuchung ein, es gab aber keine Hinweise auf den Schreiber der Nachricht. „Es tut mir leid, Spatz, aber auch irgendwie beruhigend, oder nicht? Da treibt jemand mit Dir einen bösen Scherz.“

 

Eigentlich war Julia froh, dass Marvin sich gekümmert hatte, aber nichts gefunden hatte. Alles andere wäre für sie unerträglich gewesen. Aber wer wäre auch so dumm, eine Adresse zu nennen und dann brav dort auf die Polizei zu warten? Natürlich niemand.

 

Mittlerweile war es Abend geworden. Julia nahm eine Schlaftablette und Marvin legte sich neben sie, engumschlungen, wie immer. Er gab ihr jetzt so viel Halt und sie genoss seine starken Arme. Marvin stand bereits immer um vier Uhr auf, da er morgens die Besten Fotos schießen konnte. Er schien ihre Gedanken zu erraten, denn er sagte: „Morgen früh bleibe ich bei Dir und gehe nicht arbeiten. Ich lasse Dich jetzt nicht allein.“ Beruhigt und betäubt schlief sie ein.

 

* * *

 

Er stand an ihrem Bett und Sabber tropfte wieder aus seinen Mundwinkeln. „Lass sie mich doch jetzt nehmen.“, bettelte er Johanna an. „Auf gar keinen Fall, Du hast mir mein ganzes Leben versaut, aber meinen großen Moment der Rache wirst Du mir nicht nehmen – Du wartest bis morgen und basta!“ Grummelnd berührte er noch einmal Julias Körper von oben bis unten und legte sich kurz auf sie, bis Johanna ihn unsanft von Julia runterzog. „Spar Deine Kräfte, Du Säufer, morgen ist unser großer Tag.“ Und damit verschwanden die beiden wieder.

 

* * *

 

Marvin stand neben dem Bett und musste mitansehen, wie der Drecksack auf Julia lag und sie vollsabberte. Er hasste es, zur Untätigkeit verdammt zu sein, aber was sollte er machen? Johanna war seine Mutter und sie hatte alles für ihn getan. Er wusste, dass er ihr helfen musste. Das wusste er schon immer. Er war es ihr schuldig. Lange genug hatte sie ihn auf diese Situation vorbereitet und er würde ihr helfen – wie immer. Auch wenn das hieß, dass er seit zwei Wochen Julia jede Nacht hatte betäuben müssen. Sie durfte ja nicht mitbekommen, wie er Johanna und IHN in die Wohnung ließ. Es war notwendig, um IHN so richtig auf Julia heiß zu machen – es MUSSTE sein. Seine Mutter hatte lang genug an dem Plan getüftelt und er musste sich genau daran halten. Phase 4 hatte begonnen…

 

* * *

 

Am nächsten Morgen fühlte sich Julia noch geräderter als an den übrigen Tagen. Der Traum war wieder da, aber im Vergleich zu den Erlebnissen des gestrigen Tages war das schnell vergessen. Sie genoss die Anwesenheit von Marvin, der sie immer noch im Arm hielt. Was würde sie nur ohne ihn tun? Gerade jetzt war ihr bewusst, wie wichtig ein Partner in schlimmen Situationen war und sie fühlte sich unendlich geborgen.

 

Als Marvin merkte, dass sie wach war, küsste er sie und machte anschließende das Frühstück, während sie duschte. Am gedeckten Tisch traf sie eine Entscheidung. „Ich werde mir diesen Bungalow mit eigenen Augen anschauen – sonst finde ich keine Ruhe.“ Marvin war überrascht von dem plötzlichen Sinneswandel, versprach aber, sie auf jeden Fall zu begleiten, was Julia dankbar annahm.

 

Am Bungalow angekommen drückte Julia ganz fest Marvins Hand. Sooo verlassen sah das Gebäude eigentlich gar nicht aus. Heruntergekommen ja, aber verlassen? Die Tür war tatsächlich nur angelehnt, also nahm Julia ihren ganzen Mut zusammen und trat vorsichtig ein. Zum Glück hatte sie Marvin dabei. Plötzlich bekam sie einen Stoß in den Rücken und bemerkte noch kurz einen ekelhaft stinkenden Lappen vor ihrem Mund, dann gingen auch schon alle Lichter aus…

 

* * *

 

Als Julia wieder zu sich kam, musste sie sich erstmal sammeln. Ihre Zunge fühlte sich taub an und sie fror am ganzen Körper. Mit Erschrecken musste sie feststellen, dass sie an Händen und Füssen gefesselt war, außerdem war sie nackt. Sie schien auf einer harten Platte zu liegen und der Raum war nur spärlich mit Kerzen beleuchtet. Panik stieg in ihr hoch. Schemenhaft bemerkte sie mehrere Personen um sie herum. Sie wollte schreien, aber ein Knebel in ihrem Mund erstickte jeglichen Laut. Die Personen kamen näher… Eine Frau war dabei, unglaublich ausgemergelt und wütend sah sie aus. Ein verwahrloster Mann in schmutziger Unterwäsche und … Marvin. MARVIN IST DA – ER WIRD MIR HELFEN! Schoss es ihr durch den Kopf, aber er stand nur da und wich ihren flehenden Blicken aus. Lieber Gott, was ist hier los? Ihre Gedanken überschlugen sich…

 

Die Frau begann zu reden: „Hallo meine Liebe, wie geht es Dir? Hattest Du ein schönes Leben? Damit ist jetzt aber Schuss, verstanden?“ Julia starrte sie nur ungläubig an und musste abwarten, was passierte.

 

„Dann will ich Dich mal aufklären.“, sprach Johanna weiter. „Ich warte bereits seit 36 Jahren auf diesen Augenblick. Sechs – und – dreißig – Jahre!!!“ Sie spie die Worte förmlich aus. „Wie Du gemerkt hast, habe ich viele Bilder von Dir gesammelt. Sehr viele. Aber eines – das wichtigste – das zeige ich Dir erst jetzt!“ Sie hielt Julia ein altes Foto vor die Nase. Es zeigte zwei kleine Mädchen, absolut gleich. Eineiige Zwillinge, ganz eindeutig. Beide ärmlich gekleidet zwar, aber hübsch anzuschauen mit ihren blondgelockten Haaren. Es gab nur einen Unterschied: Das eine Mädchen lachte und hatte eine Puppe mit roten Locken im Arm, das andere Mädchen weinte und stand etwas abseits. „Na? Klingelts bei Dir, Julia? Oder willst Du immer noch die Unwissende spielen?“ Julia starrte fassungslos auf das Foto. Das war eindeutig Sie selbst mit ihrer geliebten Puppe. Aber… ein Zwilling??? Da stimmt was nicht, daran könnte sie sich doch erinnern!!! Johanna sprach weiter, als ob sie es gar nicht erwarten könne, Julia die ganze Wahrheit vorzuwerfen: „Ja richtig, das sind WIR BEIDE! Wie niedlich wir waren. Trotzdem wollten unsere Eltern uns nicht haben und wir landeten in diesem fürchterlichen Waisenhaus. Das Foto wurde am Besuchstag gemacht. Für uns interessierte sich ein Paar und kam auf uns zu. Aber in dem Moment musstest Du ja wieder die Zicke spielen und wir stritten uns um diese blöde Puppe! Ich hatte sie in den Händen, aber Du tratst mir vor mein Schienbein und nahmst mir die Puppe weg! Das Paar entschied sich natürlich für Dich Sonnenscheinchen und nicht für mich weinendes Elend! FÜR DICH! FÜR DICH! FÜR DICH!!! Du schaust so, als ob Du alles vergessen hättest! Das macht mich noch wütender! Du hast Deine Schwester vergessen? VERGESSEN?“

 

Sie redete sich immer mehr in Rage. Ihre Augen traten hervor und röteten sich. „Ich hatte jedenfalls dieses Foto als Erinnerung an diesen Tag, der mein Schicksal besiegeln sollte. Ein paar Jahre später wurde auch ich adoptiert und zwar von diesem widerlichen Drecksack und seiner versoffenen Alten. Ich hatte bei denen die Hölle auf Erden! Sie lag nur besoffen auf der Couch und er konnte mit mir machen, was er wollte. Und das machte er auch. Noch schlimmer wurde es, als seine Alte starb. Jeden Tag missbraucht und gedemütigt werden. Weißt Du überhaupt wie das ist? Natürlich nicht, aber heute werde ich dafür sorgen, dass du es erfährst!!! Da ich meiner Hölle nicht entfliehen konnte, machte ich mich so unattraktiv wie möglich. So lange, bis von dem niedlichen blonden Ding von einst nichts mehr übrig war und der Mistkerl die Finger von mir ließ. Dann – eines Tages auf der Straße, sah ich Dich! Ich hatte Dich sofort erkannt. Das liebe, gute, behütete Mädchen aus gutem Hause. Ich sah das Leben, das hätte meines sein können, aber Du hast es mir weggenommen! Von da an beschattete ich Dich regelmäßig und nahm so an Deinem Leben teil. Als Deine Eltern verstarben sah ich meine Zeit gekommen. Sie hatten Dir nie von der Adoption erzählt, nicht wahr? Deine ach so tollen Eltern! Hat Mami Dir nie erzählt, dass sie Zwillinge auseinander rissen, obwohl sie sich locker zwei Kinder hätten leisten können? Natürlich nicht, diese verlogenen Spießer! Nach Mamis und Vatis Tod warst Du wohl sehr einsam, was? An dieser Stelle kam mein lieber Sohn Marvin ins Spiel! Ja richtig, meine Liebe, Du hattest ne Beziehung zu Deinem eigenen Neffen! Da der Mistkerl hier neben mir mich jeden Abend vergewaltigte, wurde ich bereits mit 14 Jahren schwanger. Da hatte ich gar keine Wahl. Aber Marvin ist ein guter Junge, wie Du ja weißt. Der würde seiner Mutter nie einen Wunsch abschlagen und er weiß ganz genau, was ich mir am sehnlichsten Wünsche – DICH fertig zu machen! Aus diesem Grunde hat er mir auch bei meinem kleinen Plan geholfen. Du hast es ihm aber auch einfach gemacht. Fast jede Nacht hat er uns in Deine Wohnung gelassen, nachdem er Dich betäubt hatte. Wie naiv und dumm Du doch bist, Schwester!“

 

Marvin schaute schuldbewusst auf den Boden. Jetzt nahm Johanna ihr auch den Knebel ab: „Du kannst gerne so laut schreien, wie Du willst, hier hört sich keine Sau und mich macht das auch noch so richtig an. Tu Dir also keinen Zwang an.“

 

Und Johanna schrie, weinte und flehte: „Ich wusste das doch alles nicht, ich war doch noch ein kleines Kind! Marvin, Du liebst mich doch, bitte hilf mir!!!“ Doch Marvin half ihr nicht, er ging einfach weg und ließ sie allein. Sie konnte es nicht fassen!

 

„Ich halts nicht mehr aus, lass mich endlich an sie ran – Du hast es mir versprochen. Sie ist so schön – genau wie Du früher“, geiferte der Drecksack. Er hatte einen nervösen, roten Ausschlag bekommen und konnte nicht mehr ruhig auf der Stelle stehen. Dabei zog er hektisch seine unansehnliche Unterhose aus.

 

Johanna, sichtlich zufrieden mit der Szenerie, trat zurück. „Ja, du altes Dreckschwein, jetzt bist Du dran. Mach Sie genauso fertig, wie Du mich all die Jahre fertig gemacht hast.“

 

* * *

 

Julia hatte überhaupt keine Chance. Er legte sich mit seinem Oberkörper auf sie und drang in sie ein. Ein heißer Schmerz durchbohrte sie und sie wünschte sich inständig ohnmächtig zu werden. Aber ihr Körper musste die Stöße wieder und wieder erdulden. Als Julia sich wünschte, doch endlich zu sterben, sackte der Kerl auf ihr leblos zusammen. Sein Kopf lag auf ihrer Brust und Blut sickerte aus seinem Hals, in dem ein großes Messer steckte.

 

* * *

 

Johanna sah sich die groteske Situation aus einiger Entfernung an. Sie schwitzte und ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Der Wahnsinn schien sie komplett zu beherrschen. Endlich war sie am Ziel. Genauso hatte sie sich ihre Rache vorgestellt – es war einfach perfekt! Jetzt fehlte nur noch eines: Sie nahm sich ein schönes großes Messer aus dem Messerblock und konnte ihrem Peiniger endlich den Rest geben…

 

* * *

 

Julias Schreie erstickten – sie konnte nicht mehr denken, nicht mehr fühlen. Sie wollte einfach nur noch aus diesem Alptraum erwachen. Plötzlich hörte sie eine vertraute Stimme aus dem Nebenraum. Marvin war also doch noch da. „Mum? Kannst Du mich hören? Ich habe die Polizei gerufen. Dieses Mal wirklich. Du brauchst Hilfe, Mum. Ich habe ja alles gemacht, um Dir zu helfen, aber jetzt kann ich nicht mehr.“ Johanna wirbelte wie eine Furie herum und sah ihn ungläubig an. Doch Marvin zog ganz ruhig das Messer aus dem Hals seines Vaters und stach seiner Mutter damit in den Bauch. „Mum, jetzt wird alles gut.“ Tränen rannen an seinen Wangen hinab. „Du brauchst Ruhe und es wird Zeit, dass ich nicht mehr Dein Werkzeug bin.“

 

* * *

 

Aus der Ferne hörte Julia bereits die Sirenen der Polizei. Marvin löste ganz vorsichtig ihre Fesseln und hob sie sanft auf einen Stuhl. In dem Moment traten die Polizisten auch schon die Tür ein und machten sich ein Bild von dem Massaker. Marvin gab bereitwillig Auskunft und ließ sich auch ohne Gegenwehr abführen. Ja, er bestand sogar darauf, bestraft zu werden und bat inständig um Hilfe.

 

* * *

 

Es ist jetzt ein halbes Jahr her. Julia geht regelmäßig zur Psychotherapie. Nur dafür geht sie vor die Tür. Sie hat ihren Job an den Nagel gehängt und lässt sich Essen nach Hause kommen. Niemand darf ihre Wohnung betreten. Ihr Leben wird nie mehr das gleiche sein, wie es war und es ist kaum vorstellbar, dass sie dieses Trauma jemals verarbeiten wird. Ob Sie eines Tages Marvin in der Psychiatrie besuchen wird? Man weiß es nicht…

 

 

 

ENDE

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