LisaInaIna

 

Ina

 

Volker Liebrecht saß auf derselben Parkbank wie jeden Tag. Sein Fassonschnitt sah heute etwas störrig aus, und obendrein fielen ihm am Morgen drei neue graue Haare auf. Er konnte sich für sein zartes Alter von 48 Lenzen definitiv nicht beschweren, war sein Körper wohl mit reichlich natürlich dunkelbrauner Haarfarbe ausgestattet, sodass der erste altersbedingte „Fellwechsel“ erst vor ein paar Monaten eingesetzt hatte. Die meisten Menschen schätzten ihn um einige Jährchen jünger als er tatsächlich zählte.

Volker Liebrecht sah auf seine Uhr am linken Handgelenk. Er staunte über die fortgeschrittenen Nachmittagsstunden und darüber, dass es um 17Uhr noch kein bisschen abgekühlt hatte. Es war ungewöhnlich heiß, für einen beginnenden Juni, und er war froh darüber, wohlwissentlich seine leichte, weiße Leinenhose und ein weinrotes Tshirt gewählt zu haben, um diesen Tag unter freiem Himmel zu verbringen. Naja, „freier Himmel“ war etwas übertrieben – er dankte der überaus großen und einladenden Trauerweide hinter ihm für ihr üppiges Haupt und den Schatten, den sie spendete. Seine nackten Zehen in den Jesuslatschen berührten ab und an mal eine bereits verlorene Baumfrucht, diese kleinen behaarten Röllchen, die aussahen wie Raupen, wenn er mit den Füßen verträumt durch das Gemisch von feinem Sand und winzigen Kieselsteinen dünne Linien zog. Seine Sonnenbrille, die er unter der Trauerweide eigentlich gar nicht brauchte, rutschte ihm kaum merklich über den Nasenrücken nach unten. Volker Liebrecht schwitzte und befürchtete, man könnte es bemerken. Es war zwar niemand in seiner Nähe, dem es hätte auffallen können, aber er hasste es, wenn er sich unkontrollierbaren Körperreaktionen beugen musste. Transpiration gehörte zu den Körperreaktionen, die er am wenigsten beeinflussen konnte und daher auch am wenigsten tolerierte.

Er nahm den Blick von seiner Uhr. Er liebte dieses einzige Accessoire, was er jemals besaß und womöglich auch jemals besitzen würde. Sie schenkte es ihm zur Silberhochzeit, vor fünf Jahren. Er verzichtete vorher zu Gunsten seines Berufs auf einen digitalen oder analogen Zeitanzeiger an seinem – für Männerarme doch eher schmalen – Handgelenk. Er fand, beim Tragen einer Armbanduhr konnte er nur verlieren – entweder, er verkratzte den Schreibtisch mit dem chromfarbenen Klickverschluss an der Unterseite, oder er verkratzte den chromfarbenen Schließer durch den Schreibtisch. Aber das Geschenk seiner Liebsten, ihm überreicht am 06. Dezember 2014 zu Ehren 25 wunderbarer Ehejahre, war das schönste Schmuckstück, was Volker Liebrecht bisher in seinem Leben gesehen hatte. Diese Objektophilie empfand er nicht aufgrund der filigranen Uhrzeiger aus Carbon oder des tiefschwarzen Ziffernblattes mit den aufgesetzten, fragilen römischen Zahlen oder wegen irgendeines anderen von abertausenden mechanischen Fragmenten des Chronometers, nein. Das Geheimnis, und die Liebe zum Detail, die er an seiner Frau so verehrte, lag verborgen zwischen Handgelenk und Uhrenrückseite. Die Gravur, die dort verewigten kurzen, kleinen Worte, verliehen seiner Uhr das Persönliche, das Besondere, das Einzigartige. Immer, wenn Volker Liebrecht über die Einkerbung sinnierte, öffnete er die Kippfaltschließe, streifte die Uhr von seinem Handgelenk und drehte sie um. Er nahm sich bewusst Zeit, atmete tief in den Bauch, wenn er mit den Fingerspitzen über die Einkerbung auf der Unterseite strich. Doch heute sollte Volker Liebrecht erst gar nicht so weit kommen, den Verschluss überhaupt zu öffnen.

Er nahm seine Sonnenbrille ab und seine ungewöhnlich hellen braunen Augen mussten sich doch an die Lichtveränderung gewöhnen. Unter der Trauerweide schien die Sonne nicht gleißend, aber einen anderen Lichteinfall als hinter den schützenden UV-Gläsern vernahm Volker Liebrecht dennoch. Als er seine Augenlider wieder entspannte und den Kopf nach rechts wand, um die Brille neben sich auf der Bank abzulegen, blieb sein Blick an etwas hängen, was ihn seine Uhr zumindest kurzzeitig vergessen ließ.

Er saß schon den ganzen Nachmittag hier, direkt nach seiner Kaffeezeit um 14.30Uhr kam er hier her, und komischerweise ist es ihm nicht aufgefallen. Volker Liebrecht sah unter der weiß lackierten Parkbank, zwischen den Streben der Sitzfläche hindurch, ein Smartphone liegen. Es war etwas verstaubt, schien womöglich schon einen Moment länger dort unbemerkt zu verweilen.

Volker Liebrecht bückte ich, streckte den Arm recht ungelenk unter die Bank und hob es auf. Das Handy gab eine leichte Vibration von sich, als er es gänzlich in der Hand hielt, und versetzte ihm so einen kleinen Schreck. Er rechnete nicht damit, dass das Handy offensichtlich angeschaltet und funktionsfähig war und bei Berührung auch noch haptisches Feedback von sich gab.

Das schwarze, schon etwas in die Jahre gekommene Modell eines weltweit bekannten Herstellers mit Apfel-Logo war eingehüllt in eine Handyschale aus Hartplastik, die nur den Rücken des Mobiltelefons schützte, das Display wiederum war mit einer Schutzfolie überzogen. Volker drehte und wendete das Telefon langsam in seinen Händen und begutachtete es auf Schäden, aber es schien unversehrt. Die Macken, die er sehen konnte, würde er unter normale Gebrauchsspuren verbuchen, die geschehen, wenn man das Gerät – wie heutzutage üblich – laut Statistik mehr als 5 Stunden täglich benutzt. Taschenrechner, Kamera, PC, Spielekonsole, Büro, Sicherheitssystem – alles in einem. Der Umkreis um die Ladebuchse war etwas abgenutzt, was von regelmäßigem Einführen und Abziehens des Ladekabels schließen ließ und die transparente Schutzfolie auf dem Display wies einige verschmierte Fingerabdrücke auf. Der feine Staub des Parkwegs ließ sie noch deutlicher werden.

Volker Liebrecht war den ganzen Nachmittag alleine an dieser Stelle gesessen, hatte sich nicht weg bewegt und hatte auch keine Gesellschaft bekommen. Das Smartphone musste also schon vor seiner Ankunft dort gelegen haben und er fragte sich, was ein verlorenes digitales Leben in dessen Besitzer für Angst- und Panikzustände auslösen mochte.

Die Vibration beim Aufheben des Mobiltelefon sagte ihm, dass auf dem Homescreen eine Nachricht auf den Besitzer wartete und er empfand einen Anflug von Voyeurismus, gleich eventuell eine Information zu lesen, die nicht für ihn bestimmt war. Es könnte eine Nachricht über einen Messenger-Dienst sein, sollte der Eigentümer solch eine App nutzen, oder eine Email, eine SMS oder eine MMS, wenn so was heute überhaupt noch verschickt wird. Manchmal, dachte sich Volker Liebrecht, kam ihm die Zukunft doch zu schnell.

Er drückte den Homebutton des Telefons und erwartete einen Sperrbildschirm, den er nicht hätte umgehen können; stattdessen setzte sein Herz einen Schlag aus und seine Pupillen weiteten sich.

Auf dem Display war kein Sperrbildschirm wie erwartet, sondern eine Shortcutbenachrichtigung zu einem Kalendereintrag. Wem auch immer dieses Ding gehört, er hat sich eine Erinnerung gesetzt, die heute, wie ihr geheißen, aufgeploppt ist.

„28. Hochzeitstag Volker und Ina“

Volker Liebrechts Hände zitterten unkontrolliert.

Das Smartphone glitt ihm fast durch die Fingerspitzen, doch er fing sich rechtzeitig. Mit offenstehendem Mund und aschfahlem Gesicht lehnte sich Volker Liebrecht auf der Bank zurück um das Gefühl des Schwebens wieder los zu werden.

„Ina…“, flüsterte er leise vor sich hin. „Meine liebste Ina…“

Tränen sammelten sich in seinen Augen. Warum lag unter ihm ein Telefon, mit der Erinnerung an den 28. Hochzeitstag mit seiner Frau?

Ina Liebrecht verschwand vor zwei Jahren, an einem sonnigen Frühlingstag, spurlos. Volker Liebrecht konnte ihr Verschwinden bis heute nicht verkraften. Er hatte gelernt, mit der Leere in seinem Leben zu leben, aber die Leichtigkeit des Seins hat seine Ina damals – wo immer sie hin ist – von ihm weg- und mitgenommen. Seit er alleine seines Daseins fristete, lachte er nicht mehr. Mit seiner Ina ist jegliche Freude von ihm gegangen.

Volker Liebrecht wollte das Handy in seinen Händen wegwerfen. Doch er konnte nicht. Es schien wie festgeklebt. Verloren in Raum und Zeit blickte er auf das mittlerweile wieder schwarze Display und drückte ein weiteres Mal auf den Homebutton. Die haptische Vibration war wieder zu spüren und das Benachrichtigungsfeld mit der Erinnerung an seinen Hochzeitstag war noch immer zu sehen. Er wollte sich dem Anblick so schnell wie möglich entziehen und wischte hastig mit dem Daumen über den Bildschirm. Das Handy entsperrte sich, ohne nach einem Pin oder einer Musterfolge zu fragen. Unsicher, was er tun sollte, öffnete Volker Liebrecht das Anwendermenü und wusste nicht, was er erwartete zu sehen – dennoch war das, was er sah, auch nicht das, womit er gerechnet hatte.

Das Menü war leer. Leer, bis auf drei Anwendungen. Kalender – damit hatte Volker Liebrecht ja schon Bekanntschaft gemacht. Noch mal musste er sich diesen Schock nicht antun. Sein Blick schweifte weiter.

Telefon – er betätigte das grüne Icon mit dem weißen Telefonhörer und blickte in eine leere Anrufliste. Das Telefon schien entweder noch nie einen Anruf getätigt oder bekommen zu haben, oder die Anrufliste wurde nach dem letzten geführten Telefonat gelöscht.

Er erblickte die letzte App im Menü.

Die Galerie.

Seine Gedanken rasten. Wer um alles in der Welt wollte an seinen Hochzeitstag erinnert werden? Vor allem, wenn dieser noch ein halbes Jahr in der Zukunft liegt? Sein Daumen berührte das Bilder-Symbol und öffnete wenige dahinterliegende Ablichtungen, die Volker Liebrecht nun endgültig die Lebensgeister entzogen.

 

     Volker und Ina Liebrechts Liebe blieb kinderlos. Es gibt niemanden im direkten Umfeld, denen sie nahegestanden hätten. Sie pflegten keine Freundschaften, bevorzugten das ruhige und fast schon isolierte Leben am Berliner Stadtwald. Was das Geld anging, hat Volker Liebrecht definitiv den besseren Fang gemacht als seine Frau. Einzige Tochter reicher Unternehmereltern – Gott hab sie seelig – mit politischem Einfluss auch über Berlins Grenzen hinaus, zog ihr Vater im Hintergrund und unerkannt an so mancher Gesetzesstrippe. Dafür floss der ein oder andere Euro anonym in Wahlkampfkassen oder Diplomatenvillen.

Ina verschwand irgendwann zwischen 23Uhr des Vorabends und 6.30Uhr des Morgens vom 06. Juni 2016. Volker Liebrecht erwachte aus einem Totenschlaf und fand die linke Bettseite leer. Noch wunderte ihn dies nicht, war seine Frau doch eher eine Frühaufsteherin und saß auch gerne schon mal beim ersten Kaffee des Tages auf der Terrasse und blickte gedankenverloren ins Dickicht des angrenzenden Kiefernwaldes. Soweit also ein ganz normaler Morgen.

Volker Liebrecht schwang die Pyjamabeine aus dem Bett, trottete ins Ankleidezimmer und bereitete sich kleidungstechnisch auf den sommerlichen Tag vor. Die weiße Leinenhose, seine Lieblingshose seit dem Urlaub auf den Seychellen und das weinrote Tshirt zusammen mit den beigefarbenen Jesuslatschen. Sogleich kam das Urlaubsfeeling zurück und er nahm sich vor, noch heute einen neuen Urlaub zu buchen. Schließlich ist Vorfreude die schönste Freude. Er fragte sich, auf welches Stückchen Erde es Ina am liebsten verschlagen würde…

Gähnend schlurfte er aus dem ersten Stock über die dicke Hochflor Auslegeware nach unten und lief dem Vogelgezwitscher entgegen, was durch die geöffnete Terrassentür drang. Er stand in der Tür, streckte seine schlaftrunkenen Glieder genüsslich und fuhr sich durch die zu Berge stehenden braunen Haare. Volker Liebrecht erblickte den Latte Macchiato Becher seiner Frau – aber von Ina weit und breit keine Spur.

In der nächsten halben Stunde durchsuchte er das ganze Haus und rief unentwegt nach ihr. Er fand sie nicht in den Bädern mit Regenwalddusche und Whirlpool, nicht im Fitnessraum, nicht im Heimkino, nicht im Wintergarten mit Wasserfall, nicht in der Küche, die noch nach frisch gemahlenen Kaffeebohnen roch, weder vor noch hinter dem Haus, nicht im Wohnzimmer oder der Bibliothek und auch nicht in der Garage. Alle Autos standen in Reih und Glied, abgeschlossen, die Mountainbikes unangetastet daneben und sein Motorrad, was Ina aber ob des fehlenden Führerscheins sowieso nicht hätte bewegen können, ruhte ebenfalls unter dessen Verdeck.  

Er wählte die Nummer ihres Golfclubs in dem sie aber seit ihrer letzten Trainerstunde im Mai nicht mehr gesehen wurde und darüber hinaus keinen Kontakt mit anderen Mitgliedern hatte, als auch in ihrem Kosmetikstudio und bei ihrem Friseur. Einem Beruf ging seine Frau nicht nach, sie genoss ihre Freizeit und monetären Privilegien in vollen Zügen.

Am selben Abend noch meldete er seine Frau bei der Polizei als vermisst. Es fehlten keine Kleidungsstücke in ihrem Schrank, ihre Handtasche stand an Ort und Stelle im Flur, alle Schuhe und alle Jacken verweilten brav im Ankleidezimmer. Im Verlauf der nächsten Tage und Wochen geriet er selbst ins Visier der Ermittler, und nachdem eine Straftat nicht ausgeschlossen werden konnte, wurde Volker Liebrecht auf den Zahn gefühlt, nicht doch etwas mit dem Verschwinden seiner Frau zu tun zu haben. Nach kurzer Zeit und intensiven Verhören wurde er als Verdächtiger jedoch fallen gelassen und die Ermittlungen wurden schließlich eingestellt. Nach einem halben Jahr galt Ina Liebrecht zwar weiter als vermisst, aber jegliche Suchen in umliegenden Gewässern, Vergleiche mit gefundenen

(Wasser-)Leichen und die Überprüfung der Kontobewegungen blieben erfolglos. Die Ungewissheit über den Verbleib seiner Frau machte Volker Liebrecht schier wahnsinnig…

 

Vor etwas mehr als drei Monaten nun, Ende Februar, entschied er sich, nach 2 Jahren der Rastlosigkeit in seinem viel zu großen Haus, was er seit Inas Verschwinden alleine bewohnte, umzuziehen. Er verkaufte sein Hab und Gut und zog mit nicht mehr als einem Koffer Gepäck in ein kleines Apartment in der neuen Berliner KBN Wohnanlage in Reinickendorf. Hier fristete er dennoch seines Daseins ohne Ina, doch verlor er sich nicht mehr in einem 275m² Haus auf der Suche nach seinem Sinn.

     Volker Liebrecht wurde durch seine eigenen krächzenden Schreie geweckt, und lag unnatürlich verrenkt zusammengekauert auf der Parkbank. Er rappelte sich auf und erblickte das Corpus Delicti vor sich auf dem feinsandigen Boden liegen. Er hatte es offenkundig fallen gelassen. Er musste wissen, ob das der grausigste Albtraum war, den er jemals hatte, oder ob es Realität war, dass er soeben – vor seiner Bewusstlosigkeit – ein Urlaubsfoto von sich und seiner Frau auf einem fremden Handy gesehen hatte.

     Er zitterte, als er das Gerät aufhob, was sich plötzlich kalt und nass in seiner Hand anfühlte. Er wiederholte den Schritt, den er zuvor schon mal abgehandelt hatte: wischen, entsperren, Bild sehen. Die Galerie und das Bild waren noch geöffnet.

     Volker Liebrecht entfuhr ein spitzer Schrei. Apathisch bewegten sich seine Finger über den Bildschirm und schoben sich durch das Fotoalbum des Mobilteils.

     Volker und Ina beim Schnorcheln auf den Seychellen.

Volker und Ina an einem Sommerabend auf der heimischen Terrasse.

Volker und Ina unter dem Mistelzweig in einer Hotellobby, zu Weihnachten in New York.

     Volker Liebrecht fühlte Kälte in sich aufsteigen. Kälte und Leere. Er verlor den Raum um sich, wusste nicht mehr, wo er war, wer er war, warum er war, ob er überhaupt noch war. Er sehnte sich nur nach seiner Ina… seiner Ina.

 

„…gefunden, eine Decke, schnell!“ Rauschen. Klicken. „Ich habe Herrn Liebrecht gefunden! Unter der Trauerweide im Park! Er ist stark unterkühlt! Ich brauche eine Decke und einen Rollstuhl! Schnell!“

     Schwester Melanie beugte sich über Herrn Liebrecht und tätschelte ihm leicht die Wange, fühlte seinen Puls und seine Stirn. Ihr Funkgerät rauschte.

     „Auf dem Weg!“

Der Pfleger mit Rollstuhl und Decke kündigte sich an.

„Großer Gott…“, flüsterte Melanie als sie sich ein klareres Bild von Volker Liebrecht machte.

     Volker Liebrecht saß Anfang Dezember, in einem für Berlin kalten Frühwinter, bei 2cm Neuschnee in einer weißen Leinenhose und einem weinroten Tshirt mit Jesuslatschen an den nackten Füßen unter der Trauerweide im Kurpark der Karl-Bonhoefer-Nervenklinik und wäre sicher erfroren, wäre er vom Suchtrupp unentdeckt geblieben. Schwester Melanie stellte eine flache, aber regelmäßige Atmung fest und sendete ein Stoßgebet voll Dank gen Himmel.

     „Was machen Sie nur hier…?“, fragte Schwester Melanie mehr sich selbst als den weggetretenen Volker Liebrecht, als Daniel, ein Absolvent des Freiwilligen Sozialen Jahres in den Räumen der Nervenklinik, mit Rollstuhl und Wolldecke den Weg hinuntergeeilt kam. Außer Atem schwang er zunächst die Decke um den zusammengesackten Körper von Volker Liebrecht und half dann, ihn in den Rollstuhl zu setzen.

     „Ina…“

„Was sagt er?“, fragte Daniel besorgt.

„Ina…seine Frau.“

Melanie sah Daniel schweigend an. Beide wussten um die Tragik hinter Liebrechts Trauer um seine Frau.

„Wir müssen uns beeilen.“, feuerte Daniel Melanie an und sie wusste, er hatte recht. Er muss versorgt werden, bevor…

Schnellen Schrittes gingen beide nebeneinander her, Melanie schob den Rollstuhl mit ihrem Patienten in Richtung des Klinikgebäudes.

„Herr Liebrecht…“, versuchte Daniel einfühlsam auf ihn einzugehen. „Wissen Sie, wo Sie sind, Herr Liebrecht?“

Keine Reaktion. Zumindest keine, die Daniels Frage bejaht oder verneint hätte. Er sah Melanie an und beide zuckten die Schultern.

     „Er kommt jetzt in ein warmes Bett und bekommt vorsichtshalber eine Infusion zur Stabilisierung. Kannst du bitte direkt schauen, ob die Lösung, die er gleich bekommen wird, keine Wechselwirkungen mit den Sedativa auslöst?“

     Daniel nickte eifrig. „Natürlich. Sofort, wenn wir oben sind.“

     Beim Betreten der Klinik umwaberte die drei Reisenden aus der Kälte sofort eine wohlige Wärme. Nicht auszumalen, wie durchgefroren Volker Liebrecht sein musste.

     „Aber eins muss ich dich noch fragen, Melanie.“

Daniel wandte sich an die Schwester.

     „Ich habe Herrn Liebrecht heute Morgen beim Anziehen geholfen. Er zog eine dicke schwarze Jogginghose und einen dieser hässlichen Weihnachtspullover an, inklusive gefütterter Hausschuhe. Warum hat er jetzt sein Sommeroutfit an?“

„Herr Liebrecht befindet sich ein einem Hamsterrad. Er durchlebt den Tag“, Melanie formte virtuelle Anführungszeichen in der Luft, „immer und immer wieder. Das ist die Kleidung, die er am 06. Juni 2016 trug. Egal welche Temperaturen tatsächlich herrschen – holt ihn die Erinnerung ein, zieht er sie an. Ob 30° im Schatten, oder – wie heute, -3° unter der Trauerweide. Je nachdem, in welchem Erinnerungsmodus er sich befindet, ist sie Kleidung für ihn einerseits die Erinnerung an gute Tage in einem traumhaften Urlaub. Andererseits, in seinem zweiten Modus, ist sie einfach nur die Kleidung, in der er…“

     Daniel nickte stumm und Melanie wusste, sie musste nicht weiterreden. Vor dem Aufzug blieben sie stehen und warteten auf das Gefährt aus dem 4. Stock. Es dauerte nicht lange, dann öffneten sich die Türen und sie traten zu dritt ein. Volker Liebrecht schien in einen ruhigeren Schlaf gefallen zu sein und flüsterte nicht mehr den Namen seiner Frau.

     Die Türen schlossen sich und der Aufzug machte sich ohne Zwischenstopp auf den Weg nach oben. Daniel und Melanie schwiegen sich wieder an; ihre Anspannung war nicht zu übersehen.

Daniel ließ den Blick durch die Kabine schweifen, ohne sich auf einen bestimmten Punkt zu fixen. Dieser Tatsache war es auch geschuldet, dass er eine kleine, aber folgenschwere Unregelmäßigkeit feststellte, die die Ereignisse sich in Bruchteilen von Sekunden überschlagen ließ.

Durch die Wolldecke über Volker Liebrechts Beinen leuchtete das Display eines Handys.

     Daniel erstarrte vor Schreck.

„Oh nein…“

Mehr konnte er nicht sagen, es war noch eher ein Flüstern.

     Er schlug die Decke von Herrn Liebrechts auftauenden Körpers zurück und nahm das Handy an sich. Flink entsperrte er das Display. Er kam nur noch so weit um zu erkennen, dass er sich in der Galerie befand, bevor er einen Kinnhaken einsteckte, der ihm den Kiefer zerschmetterte. Melanie schrie auf, als sich Volker Liebrecht ruckartig aus seinem Rollstuhl erhob, Daniel überraschte und ihn handlungsunfähig machte. Der Ablauf während eines Notfalls im Aufzug, den sie während ihrer Ausbildung bis zum Erbrechen geübt und auswendig gelernt hatte, zahlte sich nun aus. Bevor Volker Liebrecht ihr einen harten Schlag gegen die Schläfe mitgab und sie  mit der anderen Schädelseite gegen die Aufzugwand prallte, drückte sie den Alarm unterhalb der Etagenknöpfe der Bedienleiste, bevor es schwarz um sie herum wurde und sie zu Boden sank.

     Volker Liebrecht schrie und schrie und schrie. „Auf ewig, nur die deine! Auf ewig, nur die deine! AUF EWIG, NUR DIE DEINE!“

     Das Blut tropfte aus Daniels Mund und er begab sich in Schutzhaltung, mit erhobenen Armen wie ein Boxer sein Gesicht schützend. Gerade als Volker Liebrecht ein zweites Mal auf ihn losgehen wollte, erklang das rettende „Bing“ durch die Fahrstuhllautsprecher und kündigte das Erreichen des 4. Stocks an, den sie als Ziel hatten. Auf der digitalen Anzeige oberhalb der Türen war „Dissoziative Identitätsstörungen“ zu lesen. Volker Liebrecht konnte keinen Blick aus dem Aufzuginneren nach außen werfen, so schnell waren 2 Pfleger, breit wie Aktenschränke, durch die sich öffnenden Türen gedrungen und an ihn herangetreten, dass er sich gegen die Betäubungsspritze nicht wehren konnte. Sie traf ihn im Hals und ließ ihn auf der Stelle zusammensacken.

 

„Bilanz des Abends, meine Herrschaften:“

Dr. Jansen massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Stirn, während er zu seinem Team des Pflegepersonals der Tagschicht sprach.

„Zwei verletzte Pflegekräfte, Herr Gutberlet mit einer Kieferfraktur und Frau Schiller mit einem Schädel-Hirn-Trauma 2. Grades, und ein ruhiggestellter Patient, Volker Liebrecht, Zimmer 408. Frau Schiller konnte zum Glück den Notruf noch Absetzen bevor sie durch die Gewalteinwirkung gegen den Kopf bewusstlos wurde. Leider erlitt Herr Liebrecht einen erneuten posttraumatischen Rückfall ausgerechnet im Fahrstuhl und machte sich das Überraschungsmoment zu Nutzen, die beiden Kollegen zu überwältigen. Aktuell sind wir der Meinung, dass sein Rückfall ausgelöst wurde durch das Betrachten von Fotos auf einem Smartphone.“

Dr. Jansen verlieh seinen Worten Gewicht, in dem er sich in seinem Schreibtischstuhl nach hinten lehnte und die Arme vor der Brust verschränkte. Sein Blick war durchdringend und man fühlte sich automatisch schuldig, auch wenn man nicht das geringste verbrochen hatte.

„Ich muss nicht in aller Deutlichkeit erwähnen, dass die Nutzung von Mobiltelefonen unseren Patienten strengsten verboten ist und sie uns diese sogar aushändigen müssen, bevor eine stationäre Aufnahme vollzogen werden kann. Umso größer ist mein Entsetzen, meine Verwunderung und meine Traurigkeit darüber, dass Herr Liebrecht doch – unter noch ungeklärten Umständen – in den Besitz eines Handys kam, welches noch nicht mal seines ist. Sein Smartphone liegt immer noch gut verwahrt da, wo es hingehört. Im Safe der Klinik. Es ist schier unmöglich, dass Herr Liebrecht ohne fremde Hilfe an ein Handy gekommen ist. Mit der Tatsache, dass jemand Herrn Liebrecht bewusst ein Handy ausgehändigt hat, könnte man fast meinen, der- oder diejenige möchte eine Genesung Herrn Liebrechts verhindern und ruft seine Rückfälle willkürlich hervor. Diesem Missstand wird an anderer Stelle nachgegangen, bitte halten Sie sich für Befragungen, gegebenenfalls auch durch die Polizei, zur Verfügung. Ob diese Manipulation einer Genesung von innerhalb oder außerhalb der Klinikmauern kam, vermag ich aus heutiger Sicht nicht zu beurteilen.“

     Dr. Jansen beugte sich hinter seinem Kirschholzschreibtisch vor und stützte die Unterarme flach ab.

„Meine Herrschaften, wir wissen alle um Herrn Liebrechts Schicksal. Ich lege es Ihnen nochmals ans Herz, sich immer – ohne Ausnahme immer! – von Kollegen des Sicherheitspersonals begleiten zu lassen, sollten Sie Herrn Liebrecht zur Medikamentenvergabe oder Ähnlichem aufsuchen müssen; Sie sehen es am tragischen Beispiel von Frau Schiller und Herrn Gutberlet. Lassen Sie sich von Ihren Emotionen, Ihrem Mitleid Herrn Liebrecht gegenüber nicht blenden. Ja – er hat seine Frau verloren. Er hat sie schließlich umgebracht.“

     Betretenes Schweigen und zögerndes Nicken unter den Kolleginnen und Kollegen, 13 an der Zahl.

„Die meiste Zeit ist Herr Liebrecht gefangen in der endlosen Suche nach seiner Frau. Er wurde vor drei Monaten, als nach über eineinhalb Jahren der Gerichtsverhandlungen das Urteil der Unzurechnungsfähigkeit feststand, zu uns gebracht. Volker Liebrecht illusioniert sich selbst seine eigene „Tatsache“ ihres spurlosen Verschwindens zusammen und in diesem Zustand ist er überzeugt davon, hier in einem angesagten Wohnblock zu leben und erst aufgrund seiner Einsamkeit das große Haus am Berliner Stadtwald verlassen zu haben. Wir gehen beim aktuellen Behandlungsstand davon aus, dass ihm die Qual über die vermeintliche Ungewissheit über den Aufenthaltsort einer Frau weniger zusetzt als die Gewissheit, ihr Mörder zu sein. Die eigentliche Wahrheit, nämlich dass Herr Liebrecht selbst es war, der seine Frau am Morgen des 06. Juni 2016 mit 26 Messerstichen – einen für jedes gemeinsame Ehejahr – aus Eifersucht tötete, verdrängt er die meiste Zeit erfolgreich.“

     Dr. Jansen fuhr unbeirrt fort. Manchmal, so musste er zugeben, hörte er sich selbst gerne reden.

„Ina Liebrecht hatte seit geraumer Zeit eine Affäre. Herr Liebrecht erfuhr an diesem Morgen vom Betrug seiner Frau, als ihr Kosmetikstudio anrief und den Termin zur Pediküre, zu dem sie bereits aufgebrochen war, absagte. Nur wollte Ina Liebrecht diesen Alibitermin nie wahrnehmen und traf sich stattdessen mit ihrer Affäre, einem Geschäftsmann aus New York, den die Eheleute im letzten Urlaub in den Staaten kennengelernt hatten, im Hotel am Alex. Sie hielt natürlich an ihrer Lüge mit dem Kosmetiktermin fest, als sie zu ihrem Mann zurück nach Hause kam.

Ein Streit entbrannte als Volker Liebrecht seine Frau mit seinem Verdacht konfrontierte. Nachdem Ina Liebrecht ihrem Mann gestand, ihn zu betrügen und sich bereits mit dem Gedanken befasste, die Scheidung einzureichen, kippten in Herrn Liebrechts Kopf alle Schalter. Der Mord im Affekt und emotionsgesteuert fand in der Küche statt, nach dem Griff zum Filetiermesser im Messerblock. Was folgte, nennt die Polizei in ihrem Bericht einen klassischen Overkill. Herr Liebrecht selbst rief noch die Polizei, gestand die Tötung seiner Frau, doch behauptete schon bei deren Eintreffen am Tatort keine Ahnung zu haben, warum seine Frau tot in der Küche lag. Befindet er sich im Verdrängungsmodus, schildert er den Tattag als einen ganz normalen Morgen, wie er im Hause Liebrecht üblich war. 6.30Uhr, Kaffee auf der Terrasse, Blick auf den Kiefernwald. Nun,“ er räusperte sich leise, „um zu seinen Rückfällen zurück zu kommen: in unregelmäßigen Abständen jedoch,“, Dr. Jansen schlug Volker Liebrechts Akte auf und las die letzten Therapieberichte quer, „kann auch ein Seelenverschleierer wie Herr Liebrecht sich nicht vor der Wahrheit und der Realisierung über die Grausamkeit seiner Tat verstecken. Auffällig bei jedem einzelnen seiner Ausbrüche, die mal wenige Minuten, aber auch schon zwei Stunden und mehr umfassten, dass er unentwegt „Auf ewig, nur die deine“ ruft, meist in einer ohrenbetäubenden Lautstärke, die – auf die unkontrollierte Adrenalinausschüttung zurückzuführen – schon fast unmenschlich wirkt.“

     Dr. Jansen unterbrach seine Ausführungen über den Patienten um die zögernde Wortmeldung aus der dritten Reihe anzunehmen. „Ja bitte, Frau…?“

     „Fleck. Nadine Fleck. Ich bin Psychologiestudentin im zweiten Semester und begleite die Kolleginnen und Kollegen bei ihrer Arbeit, für den praktischen Teil meines Studiums. Heute ist mein erster Tag auf Station 4. Herr Dr. Jansen, erlauben Sie bitte die Frage: Ist bekannt, warum der Patient „Auf ewig, nur die deine“ von sich gibt, wenn er in einen solchen Zustand fällt?“

Dr. Jansen nickte zum Zeichen, ihre berechtigte Frage verstanden zu haben.

     „Als er seinen ersten An- oder Rückfall in die Verarbeitung seiner Tat erlitt, sahen wir uns gezwungen, für die Zeit seines extremen Verhaltens alles aus Herrn Liebrechts Umfeld zu entfernen, mit was er sich oder uns etwas antun könnte; zu seinem und unserem Schutze. So taten wir es gestern Abend nach dem Vorfall im Fahrstuhl also auch.“

     Nadine Fleck konnte den verständnislosen Gesichtsausdruck und die gerunzelte Stirn nicht verbergen und ihre Lippen formten ein stummes „Und?“.

     „Frau Fleck, Herrn Liebrechts Habseligkeiten liegen sicher verwart im Therapiezimmer von Frau Dr. Hinrichs. Werfen Sie einen aufmerksamen Blick auf seine Uhr.“

    

 

Normal
0
21

false
false
false

MicrosoftInternetExplorer4

/* Style Definitions */
table.MsoNormalTable
{mso-style-name:”Normale Tabelle”;
mso-tstyle-rowband-size:0;
mso-tstyle-colband-size:0;
mso-style-noshow:yes;
mso-style-parent:””;
mso-padding-alt:0cm 5.4pt 0cm 5.4pt;
mso-para-margin:0cm;
mso-para-margin-bottom:.0001pt;
mso-pagination:widow-orphan;
font-size:10.0pt;
font-family:”Times New Roman”;
mso-ansi-language:#0400;
mso-fareast-language:#0400;
mso-bidi-language:#0400;}

2 thoughts on “Ina

  1. Stück für Stück finden die einzelnen Geschehnisse zu einem vollständigen Puzzle zurück. Eine, wie ich finde, sehr berührende Geschichte, die mich sehr nachdenklich macht. Auch jetzt ist mein Kopf noch voller Gedanken, die deine Geschichte in mir hervorgerufen hat. Danke dafür! Bleib am Ball, denn das ist wirklich sehr sehr gut geschrieben!

Schreibe einen Kommentar