Joerg RattayWenn der Vater mit dem Sohne…

 

Wenn der Vater mit dem Sohne…

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Wenn Markus Koohrs in den zwölf Jahren, die er in der JVA Werl verbrachte, eins gelernt hat, dann, dass man seine Umgebung immer genau im Blick haben sollte. Diese Lektion musste er allerdings erst schmerzhaft erlernen. In den ersten Tagen, als er der Neue im Gefängnis, also Frischfleisch war, machten sich die anderen Häftlinge einen Spaß daraus ihn einzunorden, wie sie es nannten. Wann immer er einen Raum betrat oder verließ, musste er damit rechnen überfallen und misshandelt zu werden. Die Narben erinnerten ihn jeden Tag daran.

So sah er sich auch an diesem Morgen aufmerksam in seiner Hertener Wohnstraße  um, als er sich auf den Weg zur Arbeit machte. Die Autos und Fahrräder der Nachbarn kannte er genau. Auch den gelben Mustang, der wie immer gegen die Fahrtrichtung parkte. Der gehörte dem neuen Lover der Frau gegenüber. Er war immer da, wenn ihr Mann auf Geschäftsreise war. Markus erwägte ernsthaft, dem Ehemann eine Info zukommen zu lassen, da ihm dieses ständige Falschparken des selbstgefälligen Affen auf den Geist ging.

An seinem weißen Picanto angekommen, stutzte Markus Koohrs und sah sich irritiert um. Irgendwas störte ihn. Irgendetwas war nicht wie sonst. Zuerst kam er nicht drauf, was es sein könnte. Markus konnte das Gefühl nicht so recht fassen. Er wusste, dass etwas anders war, kam aber beim besten Willen nicht darauf, was ihn so irritierte. Es half alles nichts, er musste sich beeilen, um noch pünktlich auf seiner Arbeitsstelle anzukommen. Sollte er sich verspäten, rief sein Chef, der ihn sowieso nur eingestellt hatte, weil er durch ein Förderprogramm für ehemalige Häftlinge keine Kosten hatte, seinen Bewährungshelfer an. Und das wollte Markus unbedingt vermeiden. Bisher ist es ihm gelungen, Gunnar Richter nicht auf sich aufmerksam zu machen. Und das sollte auch so bleiben.

In seinen Gedanken versunken schrak Markus zusammen, als unvermittelt ein PLING ertönte. Erschrocken trat er auf die Bremse. Da er beim Autofahren grundsätzlich nie Radio hörte, um sich nicht ablenken zu lassen und sein selten genutztes Handy irgendwo in einer Schublade seines Küchenschranks lag, konnte er sich nicht erklären, wo das Geräusch herkam. Das Fahrzeug hinter ihm hupte und zog links an ihm vorbei, zeigte ihm dabei den Mittelfinger. Verunsichert fuhr Markus weiter. Dabei hörte er mit einem Ohr auf Geräusche, die das Auto machen könnte. Hat der Bordcomputer eine Störung gemeldet? Auf den Armaturen blinkte jedenfalls kein Zeichen auf. Nach ein einigen Minuten bog er rechts auf eine Schnellstraße ab. Auf der Beschleunigungsspur plingte es wieder. Markus Koohrs dachte daran, dass er vielleicht eine Art Tinitus  erlitt und überlegte, ob er mal zum Arzt gehen sollte. Als er von der Schnellstraße in Recklinghausen abfuhr und an einer roten Ampel warten musste, bekam er fast einen Herzriss, als plötzlich ein Telefon klingelte. Markus vergewisserte sich, dass hinter ihm keine Autos warteten und sah sich dann im Inneren seines Fahrzeugs um. Obwohl er genau wusste, dass sein Handy zu Hause lag und es deshalb gar nicht hier klingeln konnte, hörte er es ganz deutlich. Es war zwar nicht sein Klingelton, sondern ein altmodisches Klingeln, aber trotzdem klingelte irgendwo in seinem Fahrzeug ein Handy. Als die Ampel auf Grün umsprang, fuhr Markus rechts um die Kurve und stellte sein Fahrzeug direkt am Straßenrand ab, zog die Handbremse fest und machte den Motor aus. Anschließend drehte er sich, da er sich mittlerweile sicher war, dass das Geräusch von hinten kann. Und jetzt wusste, er plötzlich, was ihn vorhin gestört hatte. Auf dem Rücksitz lag ein Handy, das klingelte und im Display sah er sein eigenes Gesicht aufleuchten!

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Markus wurde bleich wie ein frisch gestärktes Bettlaken. Das war ganz eindeutig nicht sein Handy. Erstens lag sein Telefon zu Hause und zweitens war das nicht sein Klingelton. Markus hatte sein Handy grundsätzlich auf „lautlos“ stehen. Das Mobiltelefon klingelte und klingelte. Es hörte einfach nicht damit auf penetrant einen eingehenden Anruf zu melden.

Warum war sein Gesicht im Display? Niemand ist je als Beifahrer in diesem Auto gewesen, so dass auch niemand zufällig das Gerät hätte verlieren können. Aber alles Nachdenken brachte nichts. Da sich keine Mailbox aktivierte, klingelte das Handy Nerv tötend weiter. Also streckte Markus seinen Arm aus und nahm das Handy hoch. Nur sein Gesicht füllte das Display aus, keine Rufnummer und kein Name. Das kam ihm höchst seltsam vor, wie so ziemlich alles. Markus überlegte, ob er drangehen sollte. Aber da das Telefon immer noch klingelte, drückte er einfach auf den grünen Hörer, mit dem man das Gespräch annehmen konnte.

„Ja, hallo?“

„Warum hast Du die Nachrichten noch nicht gelesen“, fragte eine eindeutig künstlich verfremdete Stimme.

„Was? Welche Nachrichten? Wer sind Sie überhaupt“, stotterte Markus völlig überrumpelt.

„Du hast genau eine Minute, um Dir die Nachrichten anzusehen!“ Mit dieser Aufforderung wurde das Gespräch beendet.

Markus starrte auf das Handy, auf dessen Display der Hinweis auf zwei ungelesene Nachrichten stand. Unentschlossen sah er auf das Telefon ohne zu wissen, was gerade geschah und was er tun sollte. Mittlerweile waren bestimmt schon 20 Sekunden verstrichen und noch immer war er zu keiner Reaktion fähig. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Markus hatte keine Lust, sich die Nachrichten anzusehen. Aber er hatte auch keine Lust auf einen erneuten Anruf des Unbekannten. Markus gab sich einen Ruck und öffnete die Erste Nachricht.

Sieh Dir die Fotos an!

Verwundert überlegte Markus, was das wohl für Fotos sein mögen und warum gerade er sich die Fotos ansehen sollte. Vielleicht war es eine Verwechslung. Vielleicht war das Handy gar nicht für ihn in seinem Auto deponiert worden. Es wusste doch so gut wie niemand wo er jetzt wohnte. Noch während er daran dachte, öffnete er die zweite Nachricht und glaubte nicht, was da stand.

Sie Dir die verdammten Fotos an, Nobby!

Niemand von seinen Arbeitskollegen und schon gar keiner der Nachbarn, zu denen er keinen Kontakt wollte, konnte wissen, dass Nobby sein Spitzname aus Jugendzeiten war.

Was war hier los? Wer wollte, dass er sich irgendwelche dummen Fotos ansah? Und viel wichtiger war: Wie hatte jemand seine neue Adresse herausbekommen? Nach seiner verbüßten Haft hatte er sowohl seinen Wohnort als auch seinen Namen geändert. Was also war hier los? Und noch etwas machte ihn stutzig: Die zweite Nachricht. Woher wusste der Absender, dass er sich die Fotos bis dahin noch nicht angesehen hatte? Wurde er beobachtet? Automatisch sah sich Markus um. Autos fuhren vorbei, Kinder und Jugendliche waren auf dem Weg zur Schule. Ein, zwei Leute führten ihren Hund aus. Sollte einer von ihnen die Nachricht geschrieben haben? Mittlerweile kam Markus definitiv zu spät zur Arbeit. Aber daran dachte er nicht einmal.

Mit zitternden Fingern suchte er im Menu die Fotogalerie. Er sollte sich ja unbedingt die Fotos ansehen. Dann wollte er es jetzt auch endlich hinter sich bringen. Das erste Bild zeigte ihn beim Verlassen seines Wohnhauses, das zweite zeigte wie er sein Auto aufschloss. Mit diesen Bildern bekam er die Gewissheit, dass er tatsächlich beobachtet wurde. Der Kleidung nach zu urteilen, wurden die Bilder an verschiedenen Tagen aufgenommen. Das dritte Foto zeigte den Haupteingang der Firma, für die er arbeitete. Auf dem nächsten Bild betrat er das Haus, in dem sein Bewährungshelfer sein Büro unterhielt. Die nächsten Fotos sorgten dafür, dass Markus Koohrs Gesicht erst ungläubiges Staunen zeigte, dann blass wurde, bevor es errötete und Markus letztendlich in seinem Auto am Straßenrand saß und seine Wut und seine Angst gegen die Windschutzscheibe schrie.

***

Der junge Mann grinste zufrieden vor sich hin. Er saß auf seinem Roller und schoss Serienfotos von seinem schreienden Opfer.

„Ja, schrei Du nur“, murmelte er, “ Schrei wie ich geschrien habe. Aber für Dich wird das erst der Anfang sein.“

Mit diesen Worten startete er den Motor und fädelte seinen Roller in den fließenden Verkehr ein.

****

 

Durch anhaltendes Klingeln geweckt, sah sich Markus Koohrs verschlafen um. Er war in seinem Wohnzimmer. Auf dem Sofa sitzend lag sein Kopf auf seinem Unterarm, der  auf dem Tisch abgelegt war. Wie war er hierhergekommen? Das letzte, an das er sich erinnerte, war, dass er auf dem Weg zur Arbeit war. Wieso lag er jetzt in seinem Wohnzimmer?

Noch immer klingelte jemand Sturm. Markus schlurfte zur Tür und betätigte den Türöffner. Dabei merkte er nicht einmal, dass er sich, entgegen seiner sonstigen Gewohnheit, nicht vorher durch einen Blick aus dem Küchenfenster darüber informiert hatte, wer da vor der Tür stand. Schnaufend walzte sich Gunnar Richter die Treppe in den ersten Stock hinauf. Der Bewährungshelfer schwitzte wie immer, wenn er sich bewegen musste. Durch sein massives Übergewicht war jede Form von Bewegung für ihn zu viel. Dass er jetzt auch noch Treppen  steigen musste, sorgte dafür, dass sein Gesicht rot angelaufen war und der Schweiß seine Gesichtshaut glänzen ließ.

„Warum bist Du heute Morgen nicht zur Arbeit erschienen? Hast wohl was Besseres vor, “ fuhr er Markus atemlos an. „Dein Chef hat mich angerufen. Wegen Dir habe ich noch nicht einmal gefrühstückt.“

Dabei war es schon 11 Uhr, wie Markus durch einen schnellen Seitenblick auf die Digitaluhr im Herd bemerkte. Wenn Richter jetzt noch nicht gefrühstückt hatte, wann stand er dann normalerweise auf, fragte sich Markus.

„Also was denkst Du Dir dabei, “ fragte Gunnar Richter und schob Markus mit seinem enormen Gewicht in die Wohnung.

„Ich…ich… mir war schlecht“, stammelte Markus, vor dem Schweißgeruch seines Bewährungshelfers zurückweichend.

„Ach was. Und wieso hast Du dann nicht in der Firma angerufen? Warum hast Du Dich nicht bei mir gemeldet? Du weißt, dass Du der verdammten Meldepflicht unterliegst. Und zwar immer und überall.“ Der übergewichtige Mann redete sich in Rage.“Warst Du wenigstens beim Arzt oder hast zumindest schon einen Termin gemacht? Und verarsch mich nicht, ich merke, wenn ich angelogen werde.

Markus fragte sich, wie Gunnar Richter Bewährungshelfer werden konnte. Er zweifelte nicht daran, dass er ein entsprechendes Studium vorweisen konnte und die Ausbildungseinheiten absolviert hatte. Er konnte sich nur nicht vorstellen, dass Richter die erforderliche moralische Reife dafür besaß. Richter war eher jemand, dem die ihm anvertrauten Mandanten lästig waren. Sie störten einfach seinen Tagesablauf. Für ihn waren die ehemaligen Häftlinge nur Ungeziefer. Sie sorgten für seinen Lebensunterhalt. Alles andere war ihm egal.

„Ich wollte anrufen, aber mir war so schlecht, dass ich mich hinlegen musste. Dabei bin ich dann wohl wieder eingeschlafen“, versuchte sich Markus an einer Erklärung.

„Willst Du mich auf den Arm nehmen? Dein Chef hat Dich zigmal angerufen, ich habe Dich zigmal angerufen. Und der Herr schläft so tief und fest, dass er das Telefon nicht hört? Für wie blöd hältst Du mich eigentlich“, regte sich Richter weiter auf. „Weißt Du, was ich jetzt mache?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er fort.“Ich werde Dich jetzt als eigenmächtig abwesend melden. Mal sehen, was der Richter davon hält, der Dich frühzeitig wieder raus gelassen hat.“

Markus wurde blass. Wenn Gunnar Richter ihn jetzt tatsächlich als eigenmächtig abwesend meldete, konnte es passieren, dass er wieder in den Knast musste. Voraussetzung für die Bewährung war das regelmäßige Erscheinen an seinem Arbeitsplatz, der ihm von der JVA zur Verfügung gestellt wurde. Er musste Richter unbedingt davon abbringen ihn zu melden. Nur wie? Sollte er ihm von dem Handy und den Fotos darauf erzählen? Aber was hatte er schon zu verlieren?

„Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Ich würde Ihnen gern erzählen, warum ich heute nicht zur Arbeit gegangen bin. Abert eigentlich ist das ja nicht richtig, ich war ja schon auf halbem Weg zur Firma, als alles aus dem Ruder lief.“ 

Markus stellte seine Senseo an, zog einen Stuhl vom Küchentisch zurück und bedeutete seinem Bewährungshelfer, sich zu setzen.

„Wenn´s schnell geht. Ich habe noch besseres zu tun“, maulte Gunnar Richter. Aber da Markus zwischenzeitlich eine Dose mit Buttergebäck auf den Tisch gestellt hatte, schien der übergewichtige Mann besänftigt.

„Es lohnt sich, glauben Sie mir.“

Mit zwei Tassen Kaffee kam Markus zum Tisch, stellte eine vor Richter ab und setzte sich ihm gegenüber.

„Wie fange ich am besten an“, fragte sich Markus und pustete in seine Tasse.

„Wenn Du schon so anfängst, hat das gar keinen Zweck hier“, mit diesen Worten stand Gunnar Richter auf. Markus sprang auf und legte dem dicken Mann eine Hand auf die Schulter.  

„Ok, setzen Sie sich wieder. Ich bin nicht der, für den Sie mich halten“, begann Markus.

„Schon klar, Du bist unschuldig und eigentlich ein ganz Lieber, der nur aufgrund eines Verfahrensfehlers eingebuchtet wurde, Kenn´ ich schon.“

„Nein. Ich bin schuldig und ich habe die Strafe verdient, zu der ich verurteilt wurde. Eigentlich hätte ich noch mehr verdient. Ich bin Norbert Ebert.“

Richter verschluckte sich fast an einem Schluck Kaffee, den er gerade genommen hatte und versuchte Luft zu kriegen. Als er wieder zu Atem kam, sah er Markus/Norbert angewidert an.

„Willst Du mir jetzt erzählen, dass Du DER Norbert Ebert bist? Das perverse Schwein aus dem Pädophilen-Club? Der Perversling, der seinen eigenen Sohn reihum an Kinderficker ausgeliehen und anschließend umgebracht hat?“

Der Ekel troff aus jedem Wort.

„Genau der bin ich. Aber es stimmt nicht alles, was über mich geschrieben wurde. Aber lassen Sie mich jetzt erst mal erzählen. Fragen können Sie mir anschließend stellen.“

Nachdem Richter genickt hatte, fuhr Markus/Norbert fort:“Ich weiß, dass das niemand verstehen kann, der es nicht kennt. Aber ich war ein Pädophiler. Ich will mich jetzt auch gar nicht rausreden, dafür ist weder die Zeit noch der Ort richtig. Meinen Jungen habe ich nicht umgebracht. Als ich verhaftet und verurteilt wurde, lebte er noch. Ich hatte damals massive Schulden bei einem „Freund“, mit dem ich mich öfter auf Sexparties getroffen hatte. Wir standen beide auf junge Mädchen, aber keinesfalls unter 12 oder 13 Jahren.“

Richter grunzte, verzog angewidert das Gesicht und rückte ein Stück vom Tisch ab.

„Jedenfalls kam ich von den Schulden nicht mehr runter. Ich schwöre, dass ich meinen Jungen nie angefasst habe. Ich stehe nicht auf Jungs. Eines Tages kam ich von einer Zwei-Tages-Tour zurück, die ich beruflich gemacht hatte. Meine damalige Frau konnte mich nicht erreichen, wir hatten ja damals noch keine Handys. Jedenfalls war unser Sohn verschwunden. In einem an mich persönlich adressierten Umschlag, der perfider Weise in meine Firma geschickt wurde, befand sich ein Foto meines Sohnes inmitten einer Runde nackter, alter Männer. Weiter will ich darauf nicht eingehen. Mein ehemaliger Freund hat aus dieser Männerhorde zwei Zeugen handverlesen, die schworen gesehen zu haben, wie ich meinen Sohn nachts beim Hochseeangeln in der Nordsee nach einer Orgie über Bord geworfen hätte. Aber das stimmt nicht, das habe ich nicht getan. Nach meiner Verurteilung kam mein Freund in den Knast, berichtete mir, dass seine Kollegen sich oft und gut um meinen Jungen kümmern würden und ich meine Schulden somit bei ihm zurückgezahlt hätte. Ab dem Tag war ich einige Zeit in Einzelhaft, weil ich ihn im Besucherraum halb tot geprügelt habe.“

„Komm zu Potte, ich habe nicht ewig Zeit“, warf Gunnar Richter ein.

„Heute Morgen habe ich ein fremdes Handy in meinem Auto gefunden. Irgendjemand rief mich auf diesem Gerät an und sagte mir, ich solle mir die Fotos ansehen.“

Markus schob das Gerät über den Tisch zum Bewährungshelfer. Der rührte es jedoch nicht an.

„Auf dem Handy sind verschiedene Fotos. Einmal ist da das Foto,das ich damals bekommen hatte. Das, auf dem mein Sohn im Kreis der alten Säcke hockte. Dann gibt es verschiedene Fotos von mir, die mich mit jungen Mädchen zeigen. Teilweise in kompromittierender Stellung. Desweiteren Gibt es Fotos von Männern, die damals im Kreis um meinen Jungen standen. Einige von denen wurden gefoltert und getötet. Auch mein damaliger Freund, der mir das Gefängnis eingebrockt hatte. Die letzte Datei war kein Foto, sondern eine pdf-Datei. Vor schwarzem Hintergrund stand in großen Buchstaben, die so aussahen, als würde Blut aus ihnen tropfen:

Du bist der Nächste und der Letzte, VATER!

*****

Sven Ebert beobachtete seinen Vater, der mit dem Dicken in der Küche saß. Alles lief wie geplant. Sein Rachefeldzug hatte neun Monate gedauert. Nach und nach hatte er alle erwischt, die ihn damals misshandelt hatten. Einen nach dem anderen hatte er sich geschnappt. Er dachte daran, dass seine Rache nie funktioniert hätte, wenn er nicht durch Zufall an die Ermittlungsakten gekommen wäre. Naja, Zufall konnte man es nicht nennen. Vielmehr hatte er als Polizeibeamter über seine Dienststelle die Akten angefordert, weil sie in einem Fall von Kindesprostitution ermittelt hatten und einer der Zeugen Mitglied der Gruppe war, die ihn gefangen gehalten hatten.

Sven dachte an die Zeit zwischen seinem Entkommen aus dem Pädophilenring, die ihn monatelang auf einem abgelegenen Bauernhof festgehalten und misshandelt hatten. Er hatte damals keinen von den Perversen an die Polizei verraten. Die Psychologen und Psychiater, die damals ein Gutachten nach dem nächsten über ihn erstellt hatten, gingen davon aus, dass er die Vorgänge und die Gesichter der Männer und Frauen, von denen er gequält wurde, tief in einem Teil seiner Seele eingesperrt und den Schlüssel weggeworfen habe. Sie nannten das dissoziative Amnesie. Jahrelang war er deswegen in Behandlung gewesen, bis er als geheilt eingestuft wurde.

Die Ermittlungen, die in seinem Fall angestellt wurden, weckten seine Neugier für die Polizeiarbeit. Nach den Behandlungen bekam er eine neue Identität. Auf diesem Wege sollte er erstens vor den Geschehnissen geschützt werden und zweitens wollte man ihn durch seinen neuen Namen vor der Öffentlichkeit schützen. Mit dieser neuen Identität absolvierte er eine Ausbildung im gehobenen Dienst bei der Polizei. So kam er an die Namen und Adressen der Bestien, die ihn misshandelt hatten. Und als Sahnehäubchen bekam er frei Haus die neue Identität seines Erzeugers geliefert, der ihn damals an die Kinderschänder verkauft hatte. Fürs Erste hatte er genug gesehen und er verließ die Wohnung, die seiner neuen Freundin gehörte, um die Vorbereitungen für seinen letzten Akt zu treffen.

******

„Was meint er damit? Und was meint er mit Vater? Du hast Deinen Sohn doch damals einer Seebestattung zugeführt oder nicht?“ Gunnar Richter sah Markus verwirrt an.“Ich meine, Du hast zwölf Jahre gesessen wegen des Mordes an Deinem Bengel.“

„Was habe ich Dir denn vorhin erzählt? Hast Du gar nicht zugehört?“ In seiner Aufregung war auch Markus zum Du übergegangen.“Ich habe meinen Sohn nicht umgebracht! Er wurde entführt und als Lösegeld wurden mir meine Schulden erlassen. Das muss man sich mal vorstellen: Die klauen mir mein Kind und sagen damit wären alle Schulden getilgt. Dann gehen sie hin, zeigen mich bei der Polizei an und bezeugen, dass ich mein Kind über Bord geworfen habe. Einer von denen hatte sogar noch einen abgerissenen Ärmel vom T-Shirt meines Sohnes zufällig als Beweismittel dabei. Und dann haben Sie einen Jungen in ihrem Besitz, mit dem die perversen Schweine machen können, was sie wollen!“ Markus hatte sich in Rage geredet. Während des kurzen Vortrags wurde er immer lauter und aggressiver. Er schlug sich mit der flachen Hand mehrfach vor die Stirn.

Durchs offene Fenster hörten die beiden, dass der Sportwagen des Dauerfalschparkers mit aufröhrendem Motor und quietschenden Reifen losfuhr.

„Moment mal, nur damit ich das richtig auf die Reihe kriege“, warf Richter ein,“ Du vermutest, dass die Deinen Sohn verschleppt haben, Dich wegen angeblichen Mordes in den Knast gebracht haben und jetzt denkst Du, dass Dein Sohn Jagd auf Dich macht? Hörst Du Dir auch manchmal zu?“

Markus hielt ihm das Handy mit der Nachricht vors Gesicht.“Du bist der nächste und der letzte, Vater! Was soll das sonst bedeuten?“

In diesem Moment kündigte ein Pling den Eingang einer weiteren Nachricht an. Markus war  so erschrocken, dass er fast das Handy fallengelassen hätte. Gunnar Richter wischte sich mit seinem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

Markus legte das Handy so auf den Tisch, dass beide sehen konnten, welche Nachricht erschien.

Um 23 Uhr treffen wir uns da, wo man gemeinhin Geschäfte macht. Damit kennst Du Dich ja aus. Komm allein ohne den Dicken.

Beide sahen sich stumm an. „Was will dein Sohn von Dir? Wiedergutmachung? Geld? Was? Und wo macht man gemeinhin Geschäfte? Was meint er damit“

„Na ich denke mal den Großmarkt. Er weiß bestimmt, dass ich da als Staplerfahrer arbeite. Warte“, mit diesem Wort stand Markus auf und verschwand im Nebenzimmer. Kurze Zeit später kam er mit einer Mappe zurück und warf sie auf den Tisch. Dabei öffnete sich die Mappe und dutzende Zeitungsartikel verteilten sich über die Tischplatte. „Kinderschänder gefoltert und zerstückelt“, las Gunnar eine Überschrift. Eine andere lautete:“Wer kennt diesen Mann?“ Darunter war ein Foto eines Mannes, der längere Zeit unter Wasser gelegen haben muss. „Rentner tot in seiner Wohnung gefunden!“ war eine weitere Schlagzeile. Gunnar Richter sah sich einen Zeitungsartikel nach dem anderen an. „Was ist das alles?“

„Das sind alles ungeklärte Mordfälle. Das alles sind Beispiele zügelloser Brutalität. Nicht eine dieser Personen ist einfach ums Leben gekommen. Alle wurden vorher gefoltert. Und alle gehörten den Pädophilenkreis an, der meinen Sohn verschleppt hat.“ Markus ließ die Worte wirken. Nach einigen Sekunden sah Richter von den Artikeln auf.

„Meinst Du etwa, Dein Sohn hat sich an den Leuten gerächt? Glaubst Du, dass er die alle abgeschlachtet hat?“ Dabei wedelte er mit den Zeitungsausschnitten.

„Ich kannte all diese Toten. Alle waren damals beteiligt. Der erste Mord tauchte vor drei Jahren auf. Immer wieder starb eins der Mitglieder dieses Zirkels. Das ist doch kein Zufall! Sie wurden gezielt gejagt und gnadenlos getötet. Und weil mein Junge annimmt, dass ich ihn damals an diese Schweine verkauft habe, bin ich jetzt dran. Ich frage mich nur, wie er mich trotz Namensänderung gefunden hat.“

„Das ist heutzutage kein Problem mehr, glaub mir“, erwiderte Richter. Was machst Du jetzt?“

„Wir müssen die Polizei einschalten“, verlangte der Bewährungshelfer.“Wenn Dein Sohn wirklich all diese Menschen auf dem Gewissen hat, muss er doch aus dem Verkehr gezogen werden. Wer weiß, wie lange er noch  mordend durch Deutschland zieht.“ Bei diesen Worten kramte er sein Mobiltelefon aus der Jackentasche.

„Ich kann die Polizei nicht informieren“, hörte Gunnar Markus´ Stimme hinter sich.“Schließlich habe ich damit angefangen diese Kinderficker nach und nach umzulegen. Du glaubst gar nicht, wie überrascht ich war, als zwei von der Liste nicht von mir bestraft wurden, sondern von jemand anderem.“

Gunnar Richter ließ wortlos das Telefon sinken und wollte sich auf dem Stuhl umdrehen. Den Schlag, mit dem der Hammer seinen Schädel zertrümmerte, bekam er schon nicht mehr mit. Sein Kopf knallte auf die Tischplatte, Blut und Hirnmasse flossen daraus hervor.

Markus wischte den Hammer an einem Trockentuch ab und grinste vor sich hin.“Ich mache nachher sauber, wenn es Dich nicht stört. Es wird Zeit, dass ich meinen Sohn nach mehr als zwölf Jahren wieder in die Arme schließe.“

 

ENDE?

3 thoughts on “Wenn der Vater mit dem Sohne…

  1. Whaaaaat? Krasse Story! Brutal, verstörend und super spannend! Leider war mir das Ende dann doch etwas zu verdreht oder vielleicht auch zu rabiat, da es so plötzlich kam und endete. Aber dran bleiben!! Du hast echt Potenzial!:)

  2. Tach! Also: Den Plot finde ich gut! Obwohl es mir als Frau und Mutter (eines Elfjährigen) schon schwergefallen ist, diese Brutalitäten zu lesen. Aber das ist ja vielleicht auch ein gutes Zeichen?! Das Ende kommt in der Tat ziemlich schnell, ist aber vielleicht der einen oder anderen Länge geschuldet, die in dem Text ist und die Du durch Dialoge straffen könntest, zB als Du Svens Werdegang erzählst. Das könnte Sven zB später dem Vater erzählen – wenn er ihm denn glaubt.

    Hier ” „Das ist heutzutage kein Problem mehr, glaub mir“, erwiderte Richter. Was machst Du jetzt?“

    „Wir müssen die Polizei einschalten“, verlangte der Bewährungshelfer.”
    musst Du auch noch ein wenig nachbessern: Da gerät man ins Stocken, weil man “Wir müssen …” erst einmal Norbert zuordnet. Das ist aber nur eine Sache der Satzanordnung, also Kleinkram.

    Wie LiaDor bin ich auch der Meinung: Dranbleiben! Da geht noch was!

    Kollegiale Grüße!
    Kathrin aka Scripturine /

    https://wirschreibenzuhause.de/geschichten/die-nacht-in-der-das-fuerchten-wohnt
    … die sich über einen Gegenbesuch natürlich sehr freut! 🙂

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