JackyliLebendige Tote

 

Ihre Schritte beschleunigen sich drastisch, während ihr Blick immer wieder gehetzt nach hinten wandert. Immer wieder zu dem Mann mit dem Fahrrad, der es schon seit einigen Straßen hinter ihr herschiebt. Sie fühlt sich verfolgt. Ob die Abkürzung durch den kleinen Park eine gute Idee ist, wagt sie mittlerweile zu bezweifeln. Der Park ist menschenleer. Niemand würde es bemerken, wenn der Mann sie plötzlich angreift. Aber was ist das für ein Geräusch? Es hört sich nach einem klingelnden Handy an. Ein Glück, sie ist doch nicht allein. Schnell biegt sie um die nächste Ecke, dem sicheren Geräusch entgegen. Doch da ist niemand. Wieder ein Blick nach hinten. Der fremde Mann scheint langsamer geworden zu sein. Immer noch das Klingeln des Handys. Da entdeckt sie es. Gottverlassen liegt es auf einer Parkbank. Jemand scheint es vergessen zu haben, oder vielleicht verloren. Vorsichtig nähert sie sich der Bank. Möglicherweise ist es der Besitzer, der sich selbst versucht anzurufen, um sein Handy wiederzufinden. Ihr Blick wandert gehetzt umher. Keine Menschenseele ist zu sehen. Schnell greift sie nach dem Handy und nimmt den Anruf entgegen. Doch am anderen Ende hört sie nur ein tiefes Atmen. „Hallo? So sagen Sie doch etwas“, ruft sie verzweifelt in den Hörer. Als Antwort jedoch, folgt nur ein Klicken. Der Anrufer hat aufgelegt. Wütend will sie das Handy auf die Bank werfen und weiter nach Hause laufen, da entdeckt sie etwas auf dem Sperrbildschirm. Ihr Atem stockt. Sie sieht genauer hin. Tatsächlich, das ist sie selber. Irritiert starrt sie den Bildschirm an. Neben ihr auf dem Foto steht ihr Mann Peter. Es wurde auf ihrer letzten gemeinsamen Reise, einer Kreuzfahrt, aufgenommen. „Wie zur Hölle kommt ein Foto von uns auf ein fremdes Handy?“, schießt es ihr durch den Kopf, „Wem gehört dieses Handy?“ Mit einem Wisch hat sie es entsperrt, tippt sich bis zur Galerie durch und sieht hunderte Fotos von sich und Peter. Ihr ganzes gemeinsames Leben scheint auf diesem Handy in Bildern festgehalten worden zu sein. Wie kann das sein? „Schöne Fotos, nicht wahr?“, hört sie eine Stimme ganz dicht an ihrem Ohr. Erschrocken fährt sie herum und blickt direkt in das Gesicht des Mannes mit dem Fahrrad. Vor lauter Aufregung hat sie ihn ganz vergessen. Der Kloß in ihrem Hals ist so riesig, dass sie nur gezwungen nicken kann. „Das Leben kann sich so schnell verändern. Nie läuft es wie geplant. Und ganz plötzlich kann es vorbei sein“, sinniert der Alte, „das kennst du, oder?“ Doch sie kann nicht antworten, starrt einfach nur auf die Fotos von sich und ihrem Mann auf dem fremden Handy. „Komm mit, ich möchte dir etwas zeigen“, spricht der Mann und macht sich los. Alles in ihr schreit danach wegzulaufen. Sich einfach umzudrehen und zu rennen, nach Hilfe zu rufen oder die Polizei. Doch etwas anderes in ihr drin, will dem Mann folgen. Es ist die Neugier, woher dieses Handy stammt. Hat der Alte etwas damit zu tun? Und was will er ihr zeigen? Und nicht zuletzt das Gefühl, dass ihr Leben seit einigen Jahren nicht mehr lebenswert ist, bringt sie dazu, ihm zu folgen. Der Weg dauert nicht lange. Erst, als der Mann das quietschende Friedhofstor öffnet, ist ihr bewusst, wo sie sich befinden. „Ich gehe da nicht rein“, sagt sie mit festerer Stimme, als sie sich zugetraut hätte. „Du warst lange nicht mehr hier, Laura. Meinst du nicht, dein Mann würde sich freuen, wenn du ihn besuchen kommst?“, der Alte wirkt fast schelmisch, während er diese Worte spricht. „Woher wissen Sie das alles?“, kreischt sie hysterisch. Brutale Angst hat sich unter ihre Neugier gemischt. „Wenn du mitkommst, erkläre ich dir alles“, antwortet der Mann mit ruhiger Stimme. Er macht eine einladende Handbewegung durch das Tor hindurch. Sie zögert, macht einen vorsichtigen Schritt in Richtung Tor. „Nun zier dich nicht so, das hast du damals auf dem Schiff doch auch nicht gemacht“, zischt der Alte. Erschrocken blick sie ihn an. Was meint er damit? Sie hält noch immer das Handy von der Bank in der Hand. Wenn er zudringlich wird, würde sie damit sofort die Polizei rufen. Dieser Gedanken geht ihr durch den Kopf, während sie das Friedhofstor passiert. Mit langsamen Schritten führt der Mann sie an einigen Gräbern entlang. Sie weiß, wohin der Weg sie führen wird. Und sie behält recht. Sie halten vor dem Grab ihres verstorbenen Mannes. „Was tun wir hier?“, fragt sie ängstlich und umklammert das Handy noch etwas fester. Im Schein einer Laterne sieht sie den Mann lächeln. Irgendetwas an ihm kommt ihr schon die ganze Zeit verdammt bekannt vor. Einige Augenblicke vergehen, ehe der Mann die Kapuze und die Mütze abnimmt, gefolgt von einem gefälschten Bart. „Erkennst du mich denn gar nicht?“, fragt er gespielt gekränkt. „David“, entfährt es ihr, „was soll dieses ganze Spiel? Warum bringst du mich auf den Friedhof?“ Er lächelt nur: „Ich habe dir doch gesagt, dass ich dir alles erklären werde. Und das habe ich auch vor, aber in meiner Geschwindigkeit.“ Sie schüttelt den Kopf. Ihr Herz pocht wie wild. Was will ihr Schwager, Zwillingsbruder ihres verstorbenen Mannes, von ihr? Und das auch noch auf dem Friedhof, am Grab ihres Mannes? „Laura, erzähl mir doch noch einmal, was damals auf der Kreuzfahrt passiert ist. Was war zwischen dir und Peter los?“, bittet David sie. Entgeistert sieht sie ihn an: „Das weißt du doch. Wieso soll ich dir diese grausame Geschichte erneut erzählen?“ „Weil ich sie hören will, meine Liebe“, antwortet David und stützt sich auf seinem Fahrrad ab. Lauras Haut beginnt zu kribbeln. Sie merkt, wie sie zurück in die Vergangenheit fliegt. Ihre Gedanken kreisen. Sie wollte nie mehr über diese schlimmen Ereignisse nachdenken oder gar sprechen, doch nun gibt es kein Halten mehr. Die Worte sprudeln nur so aus ihr heraus: „Es war unser neunter Hochzeitstag. Wir hatten lange für diese Reise gespart. Eine Kreuzfahrt durch die Karibik. Sie sollte unserer Ehe wieder etwas frischen Wind geben. Es lief nicht alles rosig zwischen uns…“ „Nicht alles rosig zwischen euch?“, höhnt David, „es lief gar nicht gut zwischen euch. Peter wollte die Ehe beenden, doch du hast so sehr an ihm geklammert, dass er Angst hatte, du würdest dir etwas antun, wenn er dich verlässt.“ „Das ist nicht wahr“, wimmert Laura, „wir haben uns geliebt. Es war nur etwas schwierig geworden. Wir wollten mit dieser Reise einen Neuanfang wagen. Doch dann kam dieser schlimme Streit. Nach dem Abendessen gingen wir über das Deck zurück zu unserer Kabine. Ich wollte mit Peter noch etwas Zeit im Wellnessbereich verbringen. Ich hatte so sehr gehofft, dass wir uns so wieder näherkommen. Aber auch an diesem Abend war er viel zu müde. Er wollte nicht mitkommen. Da bin ich ausgerastet…“ Lauras Erzählungen werden von ihrem Schniefen unterbrochen. Dicke Tränen rinnen ihr die Wangen hinab. Sie schluckt schwer, ehe sie weiterspricht: „Ich habe ihn angeschrien, dass er endlich wieder der Mann werden soll, in den ich mich verliebt habe. Ich habe mich gegen ihn geworfen, auf ihn eingeschlagen. Er sollte endlich wieder zu Sinnen kommen. Doch plötzlich verlor er das Gleichgewicht und stolperte. Ich habe noch versucht ihn festzuhalten, aber es war zu spät. Sein Hemd entglitt meinen Fingern, während er über die Reling fiel.“ Lauras Stimme ist nur noch ein Flüstern. „Warum grinst du so dreckig?“, fährt sie ihren Schwager an, als sie in sein Gesicht blickt. „Weil das deine Geschichte ist. Und nun will ich dir die wahre Geschichte verraten“, David grinst noch immer. Er blickt gen Himmel und beginnt zu erzählen: „Peter hatte genug von dir, deinen Eifersüchteleien, deiner kleinkarierten Art und überhaupt. Er wollte nicht mehr mit dir zusammen sein. Du hast ihn angewidert.“ Laura schnappt hörbar nach Luft. „Das ist nicht wahr, du lügst“, schnauzt sie ihren Schwager an. „Sei still und unterbrich mich nicht. Du willst doch die Wahrheit hören, oder nicht?“, fragt David. Laure nickt. „Braves Mädchen“, lächelt David, „Peter liebte dich also nicht mehr, darum hat er sich einen Plan überlegt. Als du diese lächerliche Kreuzfahrt vorgeschlagen hast, schien ihm das die perfekte Gelegenheit zu sein. Er weihte seinen Zwillingsbruder in seine Pläne ein und bat ihn um Hilfe. Dem war das Ganze nicht geheuer, doch er wollte seinen Bruder nicht im Stich lassen. Der Plan sah also folgendermaßen aus: David sollte mit dir auf diese Kreuzfahrt gehen. Währenddessen wollte Peter zuhause klammheimlich eure gemeinsame Wohnung räumen. Und bei deiner Rückkehr, hättest du nur die leere Wohnung vorgefunden. Es wäre so gewesen, als hätte unsere gemeinsame Zeit nie existiert. David wäre nach Hause zu seiner Familie gegangen und alles wäre gut gewesen. Doch du musstest ja so dumm sein und meinen Bruder umbringen! Wie konnte das nur passieren? Das frage ich mich jeden einzelnen verdammten Tag. Du hast meinen ganzen Plan zunichte gemacht. Ich bin dich zwar los, aber auch meinen Bruder.“ „Du bist Peter?!?“, fragt Laura völlig perplex. Sie blickt ihren Mann entgeistert an. „Ja, da staunst du nicht schlecht“, lachte Peter, „ich bin es, dein Mann Peter. Den du dachtest umgebracht zu haben. Stattdessen geht es mir richtig gut. Ich lebe nun bei Isabelle, als ihr Mann David. Keiner hat etwas bemerkt. Und mir gefällt es dort richtig gut. Das Einzige, was mir keine Ruhe lässt, ist, dass du David auf deinem Gewissen hast.“ Ein wahnsinniger Ausdruck erscheint in Peters Augen. Lauras Gefühle schwanken zwischen Panik und der immer noch bestehenden Liebe zu ihrem Mann. Sie spürt, dass sein Plan noch nicht beendet ist, dass er etwas vorhat. „Peter, wir können doch über alles reden“, Laura versucht ihren Mann besänftigend zu umarmen. Doch dieser stößt sie weg: „Wir können über gar nichts mehr reden. Du sollst dafür büßen, was du getan hast. Du sollst nicht einfach so ungeschoren davonkommen.“ Peters Augen bekommen einen noch heftigeren Ausdruck. Da bekommt Laura Panik und versucht wegzulaufen. Peter hat allerdings damit gerechnet und wirft sich auf sie. „Meine liebe Laura, dein Leben soll nun endlich ein Ende finden“, er lächelt sie an und gibt ihr einen letzten Kuss, ehe er ihre Kehle zudrückt. Das unheilvolle Handy entgleitet ihren Fingern, während ihre Gedanken immer langsamer kreisen.


Ein paar Stunden später, macht sich Peter stolz auf dem Heimweg. Das Grab auf dem Friedhof ist nun endlich gefüllt. Bisher ist es leer gewesen, da Davids Leichnam nie gefunden wurde. Es wurde allein für die Angehörigen geschafften, damit diese trauern können. Und nun liegt Laura darin. Sogar der Todestag passt, wenn man vom Jahr absieht. Pfeifend schließt er das Friedhofstor, während die Kirchturmuhr den neuen Tag begrüßt. Doch die Glocken kann Laura nicht hören, während sie panisch versucht, sich durch die Erde ans Tageslicht zu buddeln…

2 thoughts on “Lebendige Tote

  1. Hallo. 🙂
    Dein Schreibstil gefällt mir sehr gut und da die Geschichte recht kurz ist, verliert man nicht so schnell den Faden (wie bei vielen anderen Geschichten hier).
    Trotz der Kürze war sie trotzdem sehr spannend mit einem gelungen Twist.
    Vielen Dank dafür und liebe Grüße

    Theresa (“Jahrestag”)

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