glueckspunktesammlerinLöwenmutter

„Nein“, sie starrte nun schon zum dritten Mal auf das Display. „Nein, das kann nicht sein.“ Manja war gerade auf dem Heimweg. Nach ihrem 24-Stunden-Dienst im Krankenhaus war sie immer völlig geschafft und wollte einfach nur nach Hause. Dort fühlte sie sich wohl, konnte auftanken. Sie wohnte in einer modernen Maisonettewohnung am Stadtrand. Im Grünen und doch war sie mittendrin im Leben. In ihrem Leben, das sie sich in all den Jahren aufgebaut hatte. Endlich war sie dort angekommen, wo sie sein wollte. Hatte eine Position inne, die ihr Respekt und das erforderliche finanzielle Polster einbrachte und genoss zudem alle Freiheiten, die ihr als Singlefrau offen standen.

Und dann das. Ein Moment und sie hatte das Gefühl als ob ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen hätte. Der Boden, auf dem sie gerade noch fest mit beiden Beinen stand. Hatte das Gefühl, als ob eine Hand aus dem Nirgendwo sie an den Fußfesseln packte und sie mit heftigster Gewalt in die Vergangenheit zog. Eine Vergangenheit, in die sie nie mehr zurückkehren wollte. In die sie noch nicht einmal mehr hinsehen mochte. Sie hatte mit ihr abgeschlossen.  Aber auf einmal war alles wieder da. Es waren diese Augen. Ihre Augen. Und doch waren sie es nicht. Denn es war ein anderer Mensch der sie ansah. Eine Fremde.

 Manja hatte eine Entscheidung getroffen. Damals. Und die kam nicht aus einer Verzweiflung heraus, so wie es alle dachten. So wie sie es die anderen glauben ließ. Sie tat es aus purem Egoismus. Weil sie Karriere machen wollte. Weil sie ihre Unabhängigkeit nicht aufs Spiel setzen wollte. Und sie hat diesen Entschluss nie bereut. Dann lag da auf einmal dieses Handy auf der Straße, einfach so. Einfach so? Das konnte sie sich nicht vorstellen. Doch ihr Kopf ließ keinen Platz, um sich Gedanken darüber zu machen, wo es herkam. Zu sehr übermannten sie die alten Erinnerungen. Sie spürte weder Trauer noch Reue, aber Angst. Angst, dass die Wahrheit ans Licht kommen würde. Dann wäre alles verloren, was sie sich in den Jahren aufgebaut hatte.

Manja war damals gerade 20 Jahre alt gewesen, als sie schwanger wurde. Noch bevor es ihr selbst klar war, wusste ihre Mutter Bescheid. Denn die las in ihr wie in einem offenen Buch. Kein Wunder, arbeitete sie doch schon seit Jahren in einer Frauenarztpraxis  und hatte somit feine Antennen für das, was sich in einem weiblichen Körper so abspielt. Für Manja war es ein Schock. Für ihre Mutter das pure Glück. Endlich war es die Schwangerschaft ihrer Tochter, die sie begleiten durfte. Ihrer einzigen Tochter.

Es war weniger so, dass Manja sich nicht vorstellen konnte ein Kind großzuziehen. Auch nicht die Tatsache, dass es das Ergebnis eines One-Night-Stands war. Es waren ihre Pläne, die sie zu diesem Zeitpunkt bereits festgelegt hatte und an denen es nichts zu rütteln gab. Ihr Medizinstudium, welches sie gerade begonnen hatte. Eine Traumwohnung in der Großstadt. Ihre Freiheit, die sie zu nichts zwang und durch die sie von nichts und niemandem abhängig war. Im Gegensatz zu ihrer Mutter wollte sie es besser machen. Sich nicht durch Kind und Kegel an die Kette legen lassen.

Hätte Ines damals ihren späteren Ehemann nicht kennengelernt und ihre Familie mit Manja vervollständigt, hätte sie ihr Potential nicht einfach so verschenkt. Dann würde sie dem Gynäkologen nicht einfach nur zuarbeiten, sondern hätte vielleicht sogar selbst ein „Dr. med.“ vor ihrem Namen stehen. Das war Manjas Sicht auf die Dinge. Ihre Mutter hingegen betonte immer, wie glücklich sie doch sei und dass nichts mehr im Leben zählte als die eigene Familie.

Unvorstellbar für Manja. Sie wollte sich keine Sorgen ums Geld machen müssen. Und vor allem wollte sie sich die mitleidigen Blicke der Leute ersparen, die ihr sagen sollten „Schade, dass du nicht mehr aus dir gemacht hast.“ Genau das dachte sie nämlich über ihre Mutter. Darum hat Manja ihr Kind damals abgegeben. In einer Babyklappe. Sie wusste, dass ihre Mutter diesen Schritt nicht nachvollziehen konnte. Nicht damit einverstanden war. Doch sie ließ ihre Tochter gewähren. Manja war erwachsen und traf eigene Entscheidungen. Und ihr Vater schwieg sowieso zu allem. Da Manja wenig Wert auf Beziehungen legte und eigentlich nur sich im Fokus hatte, gab es auch nur wenige Nachfragen von außen. Und den wenigen, die sie ansprachen, spielte sie die trauernde Mutter vor, die ihr Kind verloren hatte und sich nun aus einem Schockzustand heraus in purem Aktionismus verlor. In Wirklichkeit hatte sie jedoch schnell mit der Sache abgeschlossen. Konzentrierte sich voll und ganz auf ihr Studium und zog dann auch bald aus ihrem Heimatdorf in die nahegelegene Stadt, um einen endgültigen Schlussstrich zu ziehen.

Ihr Plan ging auf. Sie schloss das Studium mit sehr gut ab, erhielt ihre Approbation und unmittelbar danach eine Festanstellung in einer Privatklinik. Nicht dass die Arbeit dort weniger stressig sei, die Rahmenbedingungen ließen sich mit Manjas Lebensplänen jedoch eher vereinbaren als sie es in einem Städtischen Klinikum getan hätten. Die Rolle als Assistenzärztin stellte dabei nur eine Zwischenetappe dar. Ihr Ziel war es, Oberärztin zu werden. Daher verschwendete Manja keine Zeit und machte ihren Facharzt in der Urologie. Und zwar nicht, weil sie damit eine ähnliche Richtung wie ihre Mutter einschlagen wollte, sondern weil diese Fachabteilung ihr in finanzieller Hinsicht attraktiv erschien. Mit der Zeit war sie den verantwortungsvollen Aufgaben einer Oberärztin gewachsen und konnte sich sogar eine stellvertretende Position in ihrer Abteilung vorstellen. Weiterhin zählte für sie der Erfolg. Und der gebührte ganz allein ihr. Zu teilen hatte sie als Einzelkind nie gelernt. Sie war es gewohnt, die Einzige zu sein.

Und so war sie auch allein, als sie auf dem Weg nach Hause das Handy fand. Es lag mitten auf dem Gehweg, nicht zu übersehen. Als hätte es jemand bewusst dort platziert. Das wurde ihr später bewusst. Doch im ersten Moment war es reine Neugierde, die Manja das Teil aufheben und näher betrachten ließ. Sie tippte auf den Home-Button, doch wie zu erwarten war das Handy gesperrt. Das Hintergrundbild, das sich dabei zeigte, reichte jedoch aus, um Manjas volle Aufmerksamkeit zu gewinnen. Obwohl sie nicht wissen konnte, wie ihre Tochter heute aussah, erkannte sie sie sofort. Es waren die Augen. Ihre Augen, die sie ihrer Tochter weitervererbt hatte. Und so friedvoll und unschuldig sie auch wirkten, sie gaben den Blick frei in Manjas tiefste Abgründe. „Wie kann das sein?“, fragte sie in die Dunkelheit der Straße hinein. Laut genug, dass man sie hören konnte, doch zu leise, um eine Antwort zu erhalten. Selbst wenn der Besitzer des Smartphones – ihre Tochter? – sich noch in der Nähe befunden hätte.

Manja nahm das Handy an sich. Hielt es fest umklammert an ihre Brust und setzte ihren Heimweg schnellen Schrittes fort, nicht ohne das Display wieder und wieder zu aktivieren und das Foto zu betrachten, bis es von selbst erlosch. Zuhause angekommen nahm sich Manja ein Glas aus dem Schrank, füllte es mit Bourbon, sog den starken Vanilleduft durch ihre Nase und nahm einen kräftigen Schluck. Dass die Person auf dem Foto ihre Tochter war, daran gab es keine Zweifel. Sie musste gerade volljährig geworden sein. Manja hätte es genau ausrechnen können, doch das spielte für sie im Moment keine Rolle. Viel mehr fragte sie sich, wie das Bild auf das Handy gekommen war. Wem es gehörte und warum sie es ausgerechnet heute auf der Straße fand. An einen Zufall glaubte sie nicht. Eine plausible Erklärung hatte sie zum jetzigen Zeitpunkt jedoch auch nicht dafür. War es das Handy ihrer Tochter? Oder hatte jemand anderes sie fotografiert? Vielleicht sogar heimlich? War Lia etwa in Gefahr?

 Lia. Das war der Name, den Manja ihrem Baby gegeben hatte. Auf einem Bändchen, das sie damals um das kleine Handgelenk ihres Babys gelegt hatte, war er zu lesen. Manja war eine strukturierte Frau, bei der alles seine Ordnung haben musste. Ob der Name übernommen wurde, wusste sie nicht. Lia, wie Liane. Eine Schlingpflanze, die sich um andere Lebewesen windet und ihnen so die Luft zum Atmen nimmt. Gleichzeitig eine Abwandlung aus dem Lateinischen. Leo, der Löwe. Und so hat Manja ihrer Tochter doch etwas mit auf den Weg gegeben. Stark sein und kämpfen wie ein Löwe. Das konnte in dieser harten Welt da draußen nicht verkehrt sein, wie sie fand. Doch die erstere Bedeutung wog für Manja mindestens genauso viel.

 „Nun reiß dich mal zusammen“, sagte sie zu sich selbst, als sie sich bei der Frage erwischte. Sorgen kamen in ihrem Leben so gut wie nicht vor. Um sich selbst brauchte sie sich nicht zu sorgen. Für sie gab es keine Probleme, nur Lösungen. Und die Probleme anderer waren ihr egal. Dennoch, sie musste Antworten auf ihre Fragen finden. Vorher würde sie keine Ruhe finden.

Am nächsten Tag wachte sie mit einem Kater auf. Da sie keine große Trinkerin war, setzte ihr der vergangene Abend ordentlich zu. Zum Glück hatte sie heute frei. So war es üblich nach einer langen Schicht. Nachdem sie geduscht und einen Espresso intus hatte, setzte sie sich hin und überlegte, wie sie vorgehen sollte. Das Handy konnte sie nicht entsperren. Sie wollte es auch gar nicht erst versuchen. Technik war nicht ihr Ding. Und jemanden um Hilfe zu bitten war nicht ihre Art. Eigentlich war es ihr auch gar nicht so wichtig, was auf dem Handy sonst noch war. Ob es noch mehr Geschichten aus der Vergangenheit, ihrer Vergangenheit, zu erzählen hatte. Auch wem das Gerät gehörte erschien ihr nur auf den zweiten Blick von Bedeutung. „Warum? Warum jetzt?“ Diese Frage kreiste in ihrem Kopf umher wie ein Tier in einem Käfig, das unerschöpflich von einer Ecke zur anderen irrt und dabei doch keinen Weg herausfindet. Wollte ihre Tochter Kontakt zur ihr aufnehmen? Aber warum ausgerechnet jetzt? Und woher wusste sie, wer ihre Mutter war? Mutter. Dieses Wort fühlte sich für Manja so wenig zu ihr gehörend an wie ein Minus auf ihrem Bankkonto. „Ausgeschlossen“, sagte sie wieder zu sich selbst. Und damit war diese Möglichkeit für sie vom Tisch. Vielleicht wollte sie jemand bewusst mit der Schattenseite ihres sonst so perfekten Lebens konfrontieren. Diese Möglichkeit erschien ihr wahrscheinlicher. Doch zu welchem Zweck sollte das jemand tun? Und vor allem: wer? Es konnte nur jemand sein, der über die Sache Bescheid wusste. Doch Manja hatte nie darüber gesprochen. Es könnte sie jemand beobachtet haben, damals. Das war nicht auszuschließen. Möglicherweise eine völlig fremde Person. Welches Motiv könnte sie haben, Manja nun in Bedrängnis zu bringen? Sie womöglich zu erpressen? Als Opfer käme sie in Frage. Jeder, der wohlhabend ist, jeder, der etwas zu verlieren hat, ist ein potenzielles Ziel von Verbrechern. Dessen war sie sich bewusst. Doch hier ging es nicht allein ums Geld. Das spürte sie tief in ihrem Inneren. Es ging um sie. Darum wer sie war, und was sie getan hatte. Manja überlegte, wie sie Kontakt zu ihrer Tochter aufnehmen könnte. Aber wollte sie das überhaupt? „Sie darf mich nicht finden.“, flüsterte sie in Begleitung einer verneinenden Kopfbewegung. „Niemals.“

Die Frau saß am Küchentisch. Ob Manja es schon gefunden hatte? Wie würde sie reagieren? Sie wusste es nicht. Und das war für sie auch nicht das Wesentliche. Hauptsache sie würde leiden. Sie hatte es ihr nie verziehen. Sie seit diesem Zeitpunkt zu tiefst verachtet, es ihr aber nie gezeigt. Nie spüren lassen. Nicht weil sie sie schützen wollte. Und schon gar nicht aus Angst vor ihr. Sie konnte einfach nicht, war wie gelähmt. Hatte das Ganze völlig verdrängt, als ob es nie geschehen wäre. Doch auf einmal war da dieses Mädchen. Stand plötzlich in der Praxis vor ihr und versetzte Ines in die Vergangenheit. Es überrollte sie wie ein Zug, der plötzlich und mit rasender Geschwindigkeit auf sie zuraste, während sie auf dem Gleis stand. Auf einem Gleis, das schon seit Jahren still lag. Einem Ort, von dem keine Gefahr auszugehen schien.

„Du kannst dann im Wartezimmer Platz nehmen, Lia“, sagte sie ruhig und in einem herzlichen Ton, wie sie ihn zu allen Patienten pflegte. Das war der Tag als Ines ein Familienmitglied hinzugewann: Lia, ihre Enkelin. Wie hübsch sie war, und doch so verzweifelt. Noch keine 18 Jahre alt. Noch ein Kind. Doch eine Sache, eine Person, hatte sie von jetzt auf gleich zur Frau gemacht. Er hatte sie vorher nicht gefragt. Nun war sie hier, um es rückgängig zu machen. War gekommen, um ihre Kindheit zu retten. Sich zu retten. Und Ines würde ihr helfen.

 Manja war für Ines gestorben. Ihre Beziehung zueinander konnte niemand mehr retten und schon gar nicht erst rückgängig machen, was sie zerstört hat. Wer zu so einer Tat fähig war, gehörte nicht zu ihr. Durfte nicht länger Teil ihrer Familie sein. Endlich fühlte Ines sich in der Lage, ihre Tochter büßen zu lassen, für das, was sie getan hatte. Sie sollte leiden. Und sie sollte spüren, was es heißt, etwas zu verlieren. Den Verlust ihrer Tochter scheint sie nie bereut zu haben. Das bereitete ihr offenbar keine Schmerzen. Aber Ines wusste, wie sie sie diese spüren lassen konnte. Für Manja zählte nichts mehr als ihre Karriere und ihr Geld. Das würde sie ihr nehmen. Das Leben ihrer eigenen Tochter zerstören. Bis Manja nichts mehr übrig bliebe außer sie selbst. Dann würde sie erleben, was es bedeutet, wenn man nur an sich denkt.

 „Hoffentlich wirst du es jetzt endlich begreifen“, dachte Ines als sie das Handy an jenem Abend auf dem Gehweg platzierte. „Vorher gebe ich keine Ruhe“.

Der erste Schritt war getan.

Schreibe einen Kommentar