charlykrahlyM.A.R.C

(1)

Das kann doch nicht wahr sein.

Das soll es jetzt gewesen sein? Ich kann es einfach nicht fassen. Ich habe mein Abitur mit 17 Jahren gemacht, dann ein duales Studium zur Gesundheits- und Krankenpflegerin begonnen und war nun seit 5 Jahren – immer engagiert und motiviert – im Süd-Krankenhaus tätig. Ich habe einen einwandfreien Lebenslauf, meine Noten waren nie schlechter als 1,3 und ich war auch sonst immer sehr gewissenhaft in meiner Arbeit. Ja, ich hatte zurzeit ein paar Probleme, war dadurch unkonzentrierter als sonst und war häufig krank, aber wer kann schon immer leistungsfähig sein? Außerdem rührten meine Probleme nicht zuletzt wegen einer ganz bestimmten Person her – Marc.

Noch immer verpasst mir der Gedanke an seinen Namen eine gehörige Gänsehaut. Der Marc, der vor drei Jahren auf unserer Station anfing und mit dem ich mich auf Anhieb fantastisch verstand. Wir hatten von Beginn an eine besondere Verbindung zueinander und haben uns blind verstanden. Wir hörten zum einen die gleiche Musik, weshalb ich ihm zum Geburtstag letztens sogar noch Konzerttickets für unsere Lieblingsband schenkte und wir da gemeinsam hinwollten. Außerdem mochten wir dieselben Filme und trugen zufälligerweise sogar manchmal die gleichen Klamotten. Selbst die Patienten bemerkten das und nicht selten bekamen wir Sprüche, was wir für ein tolles Paar abgeben würden, zu hören. Zwischen uns lag ein sinnlicher Schleier, der unserer Freundschaft einen Hauch von schwärmerischer Aufregung verpasste. Wir beide spürten die Leidenschaft zwischen uns, aber wir wussten, dass wir uns – der Arbeit wegen – professionell verhalten mussten. Ein Liebesdrama auf der Arbeit würde alles nur kompliziert machen.

Gratulation Bettina Leiser.

Jetzt sitze ich in meinem Wohnzimmer auf dem Sofa, mit dem Laptop auf dem Schoß, arbeitslos und – schwanger. Von Marc.

Ich habe beschlossen mir nichts vorzuwerfen. Dass ich auf Liebeskummer mit einem schlechten Immunsystem reagiere, ist nichts neues und Übelkeit ist keine Seltenheit während einer Schwangerschaft. Wenn meine jahrelange treue Arbeit nicht geschätzt wird – auch wenn ich mal private Probleme habe – dann werde ich wegen einer Kündigung auch keine Träne vergießen. Herausforderungen gehören zu meinen Stärken, denn nicht umsonst wollte ich schon immer Krankenschwester werden.

Jetzt suche ich nach Stellenausschreibungen und muss nicht lange recherchieren, da stoße ich auf die Stellenausschreibung im katholischen Krankenhaus. Perfekt! Ich schreibe noch am selben Tag meine Bewerbung und schicke sie ab. Nur einen Tag später werde ich zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Mein einwandfreier Lebenslauf und mein aufgeschlossener Charakter ließen mich die Personaldirektion überzeugen – Man muss auch mal Glück haben.

(2)

Als ich am Tag meiner ersten Schicht im neuen Krankenhaus 4:00 Uhr früh Tee kochte, erwischte ich mich dabei, wie meine Gedanken um Marc kreisen. Ich hole den alten Dienstplan raus, suche Marc Achmann auf der Liste und sehe, dass er heute auch Frühdienst hat. Er hat wahrscheinlich gerade zum zweiten Mal den Snooze-Button betätigt. 4:30 Uhr wird er dennoch entspannt aus dem Bett steigen, sich anziehen, die Zähne putzen und ein Brot mit Erdnussbutter – für später – schmieren. Ich fand es damals immer total süß, wenn er völlig verschlafen 5:55 Uhr – 5 Minuten vor Dienstbeginn – auf Station ankam und seine Haare in alle Richtungen standen. Um ihm seinen unausgeschlafenen Morgen ein wenig zu versüßen, backte ich häufig extra für ihn seine Lieblingskekse, die ich liebevoll und überpünktlich auf dem Dienstzimmertisch anrichtete. „Guten Morgen Sippe“, sagte er dann in die Runde und lief schweren – aber gelassenen – Schrittes zur Kaffeemaschine, um sich seine Dosis Koffein abzuholen. „Dieser Körper kann jetzt gestartet werden.“, hörte ich ihn daraufhin sagen. Er beteuerte unzählige Male, dass er ohne den Kaffee nicht überleben würde, weshalb ich immer dafür sorgte, dass genug Personalkaffe auf Station ist. Jetzt soll er sehen, wie er ohne meine Kaffee-Koordination überleben will.

4:45 Uhr. Wo ist die Zeit geblieben? Ich schütte meinen nun bitteren Tee weg und mache mich für die Arbeit fertig.

Während der Dienstübergabe konzentriere ich mich, aber bemerke gleichzeitig, wie ich von meinen neuen Kollegen ausführlich beäugt werde. Ein neuer Patient bedarf unsere besondere Aufmerksamkeit. Dr. Sebastian Braun – ein 41- jähriger Familienvater – wurde mit starken Kopfschmerzen, Übelkeit und sporadischem Sehverlust heute Nacht eingeliefert. Ich soll mich besonders um ihn kümmern und im 30- Minuten Takt in seinem Zimmer vorbeischauen, weshalb ich heute nicht viel vom Stationsgeschehen mitbekommen werde. Meine Kollegen wollen mich vermutlich erst einmal testen. Mir soll es recht sein, am ersten Tag etwas kürzer treten zu dürfen. Auch wenn das gegen meine hohen Selbstansprüche und meinen Ehrgeiz spricht. Herr Dr. Braun liegt in Zimmer 263 – Ein Einzelzimmer für Privatzahler.

Ich betrete das Zimmer und nehme einen Geruch wahr, der mich an irgendetwas erinnert. „Guten Morgen, Herr Dr. Braun. Ich bin Schwester Bettina und würde gerne den Aufnahmebogen mit Ihnen zusammen durchgehen und ihre Vitalwerte messen.“ Er betrachtet mich neugierig und sagt dann mit einem verstehenden Blick auf meinen nicht-vorhandenen Bauch: „Sie sind schwanger.“

Das war keine Frage, sondern eine Feststellung.

„Woher wissen Sie?“, frage ich entsetzt. „Ach, dafür habe ich ein Gespür.“, sagt er und gleich darauf: „Aber ja, bitte lassen Sie uns zusammen den Aufnahmebogen durchgehen.“ Ich merke, wie Unbehaglichkeit in mir aufsteigt und versuche mir dieses Gefühl mit einer guten Intuition seinerseits zu erklären.

Am Mittwochabend bereitete ich mich gerade für den bevorstehenden Nachtdienst vor, als mein Telefon klingelt. Ich halte nicht viel von Smartphones und besitze daher nur ein konventionelles Festnetztelefon. Ich bin der Meinung, dass die Handys größtenteils für den Trend von oberflächlichen zwischenmenschlichen Beziehungen verantwortlich sind. Außerdem habe ich auf der Unfallchirurgie nicht selten Patienten behandelt, die sich aufgrund von mangelndem Interesse im Straßenverkehr und maximalem Interesse an ihr Smartphone verletzten.

Anna – meine Arbeitskollegin – ist krank und kann mich deshalb heute nicht im Nachtdienst unterstützen. „Bekommst du das alleine hin oder soll ich versuchen noch einen Ersatz für mich zu finden?“, fragt sie mich. „Nein, das ist kein Problem. Ich schaffe das schon alleine.“, was vielleicht ein wenig zu übermütig von mir war. Das ist immerhin erst mein zweiter Tag auf der Station.

Die ersten zwei Stunden meines Dienstes verlaufen bedeutungslos und ich wollte gerade mit dem Stellen der Tabletten beginnen, als es in Zimmer 263 klingelt. Herr Dr. Braun ist eigentlich mobil. Warum er wohl klingelt? Mich durchfährt ein unangenehmes Gefühl. Dieser Patient ist einfach seltsam. Ich öffne die Tür von seinem Zimmer und drücke auf den Nachtlichtschalter, in der Hoffnung mein unbehagliches Gefühl mithilfe von gewohnter Helligkeit zu dämpfen. Komischerweise passiert aber nichts. In diesem Zimmer ist es furchtbar kalt und der Wind lässt die Tür hinter mir mit einem lauten Geräusch zufallen. Ich erschrecke mich und stoße einen kurzen Schrei aus, dessen Ursache nicht allein das Knallen der Tür war. Herr Braun steht direkt vor mir. Ich kann seine Umrisse und seinen markanten Geruch wahrnehmen. Diese Situation ist gerade mehr als zufällig, da bin ich mir sicher.

„Deswegen habe ich Sie hergeholt. Irgendwas stimmt mit dem Licht nicht. Ich glaube, ich habe einen Kurzschluss verursacht.“, sagt Herr Braun unschuldig. Ich erwidere leise: „Ich kümmere mich drum.“, obwohl mir bewusst war, dass erst morgen früh ein Elektriker kommen wird. Ich will gerade das Zimmer wieder verlassen, als Herr Braun sagt: „Können Sie mir vielleicht mein Telefon bringen? Die Schwester hat das vorhin zum Laden ins Dienstzimmer gebracht, weil meine Steckdosen alle besetzt sind. Deshalb wahrscheinlich auch der Kurzschluss.“ Und: „Entschuldigen Sie bitte die Umstände.“ „Kein Problem“, stottere ich vor mich hin und verlasse schnell dieses Zimmer.

Ich laufe den langen Stationsflur entlang und frage mich, wo dieses Telefon liegen soll. Tatsächlich entdecke ich auf dem Tisch im Dienstzimmer ein Handy. Komisch, dass mir das bisher nicht aufgefallen war. Ich nehme es in die Hand und will es gerade in Herr Brauns Zimmer bringen, als es sich entsperrte.

Hat das Handy sich gerade mit meinem Gesicht entsperren lassen? Ich drücke den Sperrknopf, nur um es gleich danach wieder zu entsperren – mit meinem Gesicht! Was passiert hier gerade?! Ich schaue auf das mir nun geöffnete Handy und sehe – mich. Lächelnd auf meinem Küchenstuhl und mit einer Tasse Kaffee in der Hand bin ich auf dem Hintergrund dieses Smartphones positioniert. Ich lasse das Handy auf den Boden fallen und merke, wie meine Knie weich werden. Es fühlt sich an, als würde mein Blut aufhören zu fließen. Ich hebe das Handy wieder auf und setze mich auf einen Stuhl im Dienstzimmer, denn ich befürchte ansonsten gleich in Ohnmacht zu fallen. Nach drei tiefen Atemzügen entsperre ich das Smartphone erneut mit meinem Gesicht und tippe auf die einzige App, die das Handy besitzt – Notizen.

Vertraue dir nicht – Du bist nicht schwanger!

Und dann summt das Handy und ich nehme zitternd den anonymen Anruf an.

„Hallo?“, sage ich leise. Der unbekannte Anrufer begrüßt mich ebenfalls und dann war Stille. „Wer ist da?“, frage ich nach einer gefühlten Ewigkeit und die Stimme antwortet mir im selben Wortlaut. Ehe ich wahrnehmen konnte, dass ich die Stimme am anderen Ende der Leitung bin, werde ich ohnmächtig und Herr Dr. Braun betritt das Dienstzimmer, ohne zu klopfen.

(3)

„Bei Frau Leiser lief vieles durcheinander. Da war ihr Vater, der sie als Kind geschlagen hatte, die Mutter, die trank und als Frau Leiser älter wurde und sich anfing zu wehren, wurde sie körperlich und seelisch misshandelt. Elementare Bedürfnisse – wie beispielsweise essen und trinken – wurden ihr pathologisch verwehrt, sodass sie die schlimmsten Erfahrungen von Vernachlässigung durchmachen musste. Die unzureichende Grundversorgung stellte dabei nur einen kleinen Teil der traumatischen Erlebnisse von Frau Leiser dar, weshalb sie fünf Jahre Patientin in meiner psychiatrischen Praxis war.“ Braun kratzt sich nach seiner scharfsinnigen Rede am Kopf und schaut mich an. Ob er mir damit ein Zeichen geben will? Lauf Bettina und halte erst an, wenn du die Polizei abgehängt hast. Ich unterdrücke den Drang laut loszulachen und denke stattdessen weiter über diese konfuse Situation nach, in der ich mich gerade befinde. Marc ist tatsächlich zur Polizei gegangen und hat mich wegen eines Einbruchs angezeigt.

Haben Sie Marc Achmann nachgestellt und Konzerttickets
seiner Lieblingsband gekauft oder Essen mitgebracht, ohne
dass er diese Vorlieben je namentlich benannte? Haben Sie
Herrn Achmann nachgestellt und gleiche Anziehsachen
getragen? Sind Sie im gleichen Zuge in das Haus von Herrn
Achmann eingebrochen und haben so getan, als wären sie
seine Frau und das in dem Haus lebende Kind wäre Ihr Kind?
Haben Sie eine Schwangerschaft vorgetäuscht, ohne jemals
Geschlechtsverkehr mit der betroffenen Person gehabt zu
haben?

Die Stimmen der Polizisten gehen mir nicht mehr aus dem Kopf. Was wollen diese Menschen alle von mir? Warum sind alle gegen mich? Ich habe verdammt nochmal nichts Falsches getan. Marc und ich waren Freunde. Das dachte ich zumindest.

Dr. Braun antwortet auf irgendeine Frage des dicken Polizisten mit dunklem Schnurrbart: „Frau Leiser ist seit Jahren nicht mehr bei mir in Behandlung, da sie eine gute Einstellung mit Medikamenten bekam und sich damit gut arrangieren konnte. Ich kann mir vorstellen, dass sie ihre Medikamente nicht mehr einnimmt und im Zuge dessen eine Psychose ausgelöst wurde, die ihren Gesamtzustand wieder um einige Jahre zurückwarf.“

„Wie kam es, dass sie Frau Leiser wieder begegneten?“, fragte der Polizist. WIEDER!? Ich habe diesen Mann, der sich als mein verschollener Psychiater ausgibt, noch nie gesehen! „Ich war zufällig auf der Station, auf der Frau Leiser arbeitete, denn ich hatte selbst gesundheitliche Beschwerden. Als ich dann Frau Leiser in mein Zimmer treten sah, habe ich sofort gewusst, dass sie nicht sie selbst war. Zu Anfang unserer Therapie – in den schlimmsten Phasen ihrer Psychose – hat sie sich schon öfter eine Schwangerschaft eingebildet. Sie war bestimmt dreimal im Zuge ihrer Therapie davon überzeugt gewesen, schwanger zu sein. Frau Leisers Wahrnehmung war hochgradig verändert, was sich ebenso auf ihr Denken und Handeln auswirkte. Gedanken lösen Gefühle aus und diese führen zu bestimmten Verhaltensweisen. Ein Ziel ihrer Therapie war es, dass sie sich ihren Gedanken bewusstwird und somit einen größeren Einfluss auf ihre Gefühle und ihr Verhalten bekommt. Das hat sie auch unter Zuhilfenahme von Psychopharmaka jahrelang gemeistert. Sie hat mir damals ihr Smartphone gegeben, damit ich es einerseits für sie aufbewahre und wir andererseits damit in eventuell weiteren Sitzungen weiterarbeiten können. Im Laufe der Therapie haben wir das Handy als Hilfe genommen, um sie mit ihrer Krankheit vertraut zu machen und sie in die Realität zurückzuholen. Als ich Frau Leiser im Krankenhaus sah, habe ich sofort meine Frau angerufen und sie beauftragt mir das Handy zu bringen.“, antwortet Dr. Braun besonnen und wirft mir einen vielsagenden Blick zu. Bullshit. Ich habe weder eine Psychotherapie noch Medikamente zur Bewusstseinsveränderung je eingenommen. Meine einzige Erklärung dafür hat vier Buchstaben und läuft lächelnd am Fenster vorbei.

M.A.R.C

Ich bin gespannt wie die Polizisten auf meine Recherche reagieren, bei der ich herausfand, dass Marc Achmann und Sebastian Braun in Wahrheit Brüder sind und Dr. Braun eigentlich gar kein Doktor ist, sondern Ergotherapeut in einem Reha-Zentrum. Aber bis zu dieser Aufklärung lasse ich Dr. Braun seinen glanzvollen Auftritt und nehme die kühle Oberfläche meines Taschenmessers wahr, welches ich zur Sicherheit in meinem BH aufbewahre.

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