Dreamer95Marionette

Du wirst dafür bezahlen. Dafür, dass du mir alles in meinem Leben genommen hast. Noch weiß ich nicht, wer du bist. Aber ich werde dich finden, koste es, was es wolle. Das ist mein neues Ziel: dich ausfindig machen und zu Fall bringen. Dir alles zu nehmen, was dir lieb und teuer ist. Du sollst den gleichen Schmerz erleiden wie ich, sollst durch dieselbe Hölle gehen, wie du sie mir beschert hast. Und das wirst du. Glaube mir. Und wenn es das Letzte ist, was ich in diesem Leben tun werde. Du wirst fallen. Tiefer und tiefer, bis der Abgrund dich verschlingt und rein gar nichts mehr von dir übrig bleibt. Erst dann werde ich Ruhe geben.

*~*~*~*~*~*~*

Mr. Everdeen?“

Der Angesprochene hob seinen Kopf, ließ eine Augenbraue in die Höhe wandern. Mit seinen Fingerspitzen hatte er einen rhythmische Takt auf die Eichenholzplatte seines Schreibtisch getrommelt. Für einen Herzschlag lang blieb es still, bevor Timothy Everdeen einen schnelleren Takt anschlug. Eben noch abgelenkt und in Gedanken, dieses Mal ungeduldig, fordernd. „Was gibt es Sally?“

Ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich den Ordner für Ihren ersten Termin morgen … also …“ Sally betrat den Raum und kam mit einem Ordner in ihrem Arm auf ihn zu. Sie war eine junge Frau, gerade einmal 26 Jahre jung. Gerade einmal zwei Jahre jünger als mein ältester Sohn … Der Gedanke war nur ein kurzes Auftauchen in seinem Kopf, doch fühlte es sich an wie Gift. Sein ältester Sohn – die Schande für seine Familie. Timothys Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf seine junge Angestellte. Sally machte einen guten Job, dies ließ sich nicht abstreiten. Sie war der typische blonde Engel mit ihren Locken, die ihr heute offen über die Schultern fielen und klaren blauen Augen. Auch ihr Wesen war rein und unschuldig. Sie machte ihre Aufgaben wirklich fleißig und anständig. Doch manches Mal war sie ihm zu unterwürfig und ergeben. So als wäre sie noch eine Schülerin und keine erwachsene junge Frau. „Danke, Sally. Leg in mir auf den Schreibtisch. Mach jetzt Feierabend und geh nach Hause, verstanden?“

Jawohl, Mr. Everdeen.“

Und damit war sie aus dem Raum verschwunden.

Ein kaum wahrnehmbares genervtes Seufzen kam über Timothys Lippen, als er sich in seinem Bürostuhl zurück lehnte. Das Leder gab einen quietschenden Laut von sich. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und genoss den Moment der Ruhe. Immerhin war er, wie meistens, der letzte in diesem Gebäude. Der Chef kam als erster und verließ als letzter sein Reich. Genauso handhabte Timothy es auch mit seiner Versicherungsagentur. Die noch meine Agentur ist …

Mit einem leichten Ächzen, in dem der Bürostuhl erneut quietschend einstimmte, erhob er sich und trat an das große Panoramafenster. Von seinem Büro im dritten Stockwerk hatte er einen guten Blick auf das London Eye. Normalerweise war dieser Anblick beruhigend, vor allem, wenn gerade die letzten Runden gedreht wurden. In den letzten Tagen jedoch waren seine Gedanken unruhig. Schon seit einigen Wochen spürte er eine gewisse Unruhe in seinem Inneren. Seine Rente stand bald vor der Tür und bisher hatte er noch keinen Nachfolger für die Agentur gefunden. Sein Goldsohn, Samuel, hatte sich entschieden den Weg eines Lehrers einzuschlagen. Nicht das, was Timothy sich gewünscht hatte, doch war es ein guter Beruf. Es ließ die Kasse klingeln. Seit zwei Jahren war er sogar verheiratet mit einer wunderhübschen Frau. Ashley war eine kluge Frau, ebenfalls Lehrerin wie sein Sohn. Eine gute Partie. Und, wie Timothy vor zwei Tagen nun, erfahren hatte, würden sie ihm auch sein erstes Enkelkind schenken. Samuel hatte etwas in seinem Leben erreicht und Timothy empfand etwas, was sich wohl Elternstolz nannte. Auch, wenn dieses Gefühl spät eingesetzt hatte. All seine Hoffnung war Samuel gewesen, dass die Agentur im Familienbesitz blieb. Doch Samuel hatte ihn enttäuscht. Genauso, wie sein Bruder …

Nein, nein, nein!, schallte er sich selbst. Solche Gedanken durfte er nicht haben. Sie waren wie Gift. Ich habe nur einen Sohn – Samuel. Einen Sohn. Nur einen.

Timothy drehte sich um und nahm sich seine Aktentasche. Mit zügigen Schritten verließ er sein Büro, vergaß jedoch nicht, es einmal abzuschließen.

Nur einen Sohn.

Mit diesem letzten Gedanken verließ er seinen Arbeitsplatz um sich auf den Weg zu machen. Zuhause wartete seine Frau bereits mit dem Essen auf ihn.

*~*~*~*~*~*~*

Seit acht Monaten bin ich auf der Suche nach dir. Am Anfang war ich wie betäubt von dem Schmerz, den du mir zugefügt hast. Meine Welt brach in sich zusammen. Noch immer spüre ich diesen Schmerz wenn ich daran denke, was damals geschehen ist. Noch immer ist es wie ein brennendes Stück Eisen tief in meiner Brust. Doch anstelle im Nichts zu schwimmen, habe ich ein neues Ziel, welches mich am Leben hält. Dich zu finden. Für dieses Ziel laufe ich stundenlang durch die Straßen von London, in der Hoffnung, irgendwo einen kleinen Hinweis auf dich zu finden. Die Möglichkeit, dass du nicht von hier bist, schiebe ich weit von mir. Dass du wie ich aus London bist, dieser Strohhalm ist alles, an das ich mit klammern kann. Seit acht Monaten.

Auch heute bin ich wieder durch die Straßen gelaufen, doch keine Spur. Nicht ein kleinster Hinweis auf dich. Die Polizei hat den Fall schon längst ad acta gelegt. Für sie war es nur ein verrückter Kerl oder eine durchgeknallte Lady, welche den Anschlag damals verübt hat. Motiv: Homophobie. Die einzige plausible Erklärung, wieso unschuldige Menschen in einer Bar angegriffen und getötet wurden, welche der Regenbogen-Community – auch bekannt als LGBTQ-Community -, ein Zufluchtsort war. Vielleicht hätte eine Kugel von dir auch mich getroffen, wenn ich zu diesem Zeitpunkt dort gewesen wäre.

Doch ich kam zu spät.

Die letzten Atemzüge meines Verlobten hatte ich noch erlebt, hatte ihn in meinem Arm halten können bevor er verstarb. Durch deine Hand. Du hast es veranlasst und dafür wirst du bezahlen. Dafür, dass du meinen Verlobten und so viele andere Menschen auf dem Gewissen hast. Jede Nacht bete ich, dass die Schuldgefühle an dir nagen. Dass sie dich auffressen und einen Vorgeschmack darauf geben, welche Leiden ich dir zufügen werde. Fühl dich ruhig noch sicher und geborgen, wo auch immer du bist.

Ich werde dich finden.

*~*~*~*~*~*~*

Der Duft, welcher ihm entgegen schlug, kam ihm mehr als nur bekannt vor. Und ließ seine Laune an diesem Abend um einige Minusgrade sinken. Fish & Chips – klassisches britisches Essen, keine Frage. Doch eigentlich nichts, was bei den Everdeens im eigenen Haus auf den Tisch kam. Heute schien seine Frau es jedoch anders zu sehen.

Vielleicht lag das an dem Besuch, den sie anscheinend bei sich willkommen hießen.

Timothy ließ die Haustür hinter sich ins Schloss fallen und betrat die Küche. Seine Frau Mary stand am Herd, neben ihr seine wundervolle Schwiegertochter Ashley. Die Stimmen der beiden Damen waren, wie auch der Essensgeruch, bereits zu ihm herüber geweht. Ashley war die Erste, welche ihn erblickte. Mit einem breiten Lächeln kam sie zu ihm, hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Guten Abend, Schwiegervater. Du kommst passend zum Abendessen.“

Ashley, meine Liebe. Was bringt dich zu uns?“

Du hast vergessen, dass Samuel und Ashley heute zum Abendessen von mir eingeladen waren, nicht wahr?“ Mary sah zu ihrem Mann und musterte ihn mit einem nicht zu deutenden Blick, den Timothy in derselben Art erwiderte. Er löste sich von Ashley und trat zu ihr um sich einen Kuss seiner Frau zu holen. Mit ihren 59 Jahren war Mary noch wunderschön. Das Alter hatte sie bisher wenig gezeichnet. Nicht anders hätte er es von seiner Ehefrau auch erwartet. „Du hattest sie zum Essen eingeladen, Liebling?“

Das habe ich.“ Mary musterte ihren Mann. „Samuel hatte sich Fish & Chips gewünscht, Ashley einen Salat dazu. Du kennst die beiden. Geh und begrüße deinen Sohn, er ist schon im Esszimmer.“

Das Esszimmer? Wieso nicht in der Küche.“

Ich hielt es angemessen, für heute das Esszimmer zu nutzen.“ Marys Tonfall ließ keinen Widerspruch zu, während sie sich weiter um das Essen kümmerte. Der Tonfall einer Rechtsanwältin, welche keinen Widerspruch duldete. Timothy zwang sich zu einem ergeben Lächeln. „Natürlich, mein Liebling.“ Mit diesen Worten ließ er die beiden Frauen wieder alleine. Seinen Aktenkoffer stellte er im Flur ab, bevor er aus seinem Anzug schlüpfte. Der Sommer hatte die Stadt erreicht, doch konnte er es sich nicht leisten, keinen Anzug während der Arbeitszeit zu tragen. Nun jedoch tat es gut, das kurze Hemd zu tragen. Sich für das Essen umziehen? Nein, so musste es reichen.

Mit leicht widerwilligen Schritten betrat er das Esszimmer. Samuel, welcher vor den Bildern auf der Kommode gestanden hatte, drehte sich um, als er die Schritte vernahm. Vater und Sohn nickten einander zu, als Timothy auf ihn zutrat und ihm eine Hand auf die Schulter legte. Dabei vermied er selbst es, einen Blick zu den besagten Bildern zu werfen. Stattdessen fixierte er seinen Sohn. Samuel hatte Marys schwarze Haare geerbt, jedoch seine grünen Augen. Ein attraktiver junger Mann, der es in seinem Leben zu etwas gebracht hatte. Ein wahrer Everdeen.

Samuel – was für eine Freude dich zu sehen, mein Sohn.“

Die Freude ist ganz meinerseits, Papa.“

Darf ich dir ein Bier anbieten?“ Kaum ausgesprochen, hob Samuel schon eine Hand und schüttelte den Kopf. „Nein, danke, Papa. Ich bin heute der Fahrer. Zudem möchte ich mit Ashley zusammen auf Alkohol verzichten.“ Timothy nickte langsam. Ein Zeichen des Verstehens. Auch, wenn es nicht wirklich verstand. Doch das war Samuels Entscheidung.

Wie läuft die Arbeit, mein Sohn?“

Gut. Es ist in Teilen noch ungewohnt Lehrer, die mich vorher unterrichtet haben, nun als Kollegen zu betrachten. Aber daran werde ich mich gewöhnen.“

Aber natürlich. Und die Suche nach der größeren Wohnung?“

Wir sind dabei.“ Samuel ließ sich auf einem der Stühle wieder nieder, sah zu seinem Vater nun auf. „Ashley ist da sehr anspruchsvoll, was unsere zukünftige Bleibe betrifft. Immerhin soll unser Kind dort aufwachsen, in einer sicheren Umgebung.“

Wenn mir etwas zu Ohren kommt, gebe ich dir Bescheid.“

Danke.“

In diesem Moment betraten beide Damen den Raum. Mary stellte die Fish & Chips zusammen mit Ashleys Hilfe ab. Der Salat hatte schon vorher in der Mitte seinen Platz gefunden. Und Platz nahmen auch die letzten beiden in der Runde. Timothy selbst hatte sich so gesetzt, dass er die Bilder in seinem Rücken nicht sah, auch wenn er das Gefühl hatte, die Blicke der Personen auf diesem Bild, würden sich in seinen Rücken brennen.

Die Bilder, welche der Grund waren, wieso er ungern im Esszimmer speiste.

Was ihm nebst dem Salat aber nun noch nachträglich ins Auge sprang, der fünfte Platz. Fast so, als wäre noch eine weitere Person eingeladen, die bisher nicht erschienen war. Timothy beschlich eine leise Vermutung, wer diese Person sein könnte.

Mary füllte allen Anwesenden etwas auf den Teller, bevor sie selbst Platz nahm. Ashley war die Erste, die das Wort wieder erhob, als sie eine Tomate vom Salat mit ihrer Gabel erfasste und sie sich in den Mund schob.

Sag mal, Mary – für wen ist eigentlich der fünfte Teller?“

Ihr ist es also auch nicht entgangen … Sie hatte aber wohl keine Vorahnung. Woher auch. Samuel hielt inne, doch Mary nahm ungerührt einen Bissen von ihrem Teller, bevor sie ihrer Schwiegertochter eine Antwort gab:

Für Lewis.“

Ashley schien einen Moment zu überlegen, bevor sie sich an ihren Mann wandte. „Dein Bruder, oder?“

Samuel nickte. Sein Blick leicht traurig. „Ich und Mama hatten ihn eingeladen, ob er uns nicht beiwohnen will. Weißt du, Ash, heute ist sein Geburtstag. Ich dachte … vielleicht würde er ihn in dieser Runde verbringen wollen.“

Doch Lewis hat auf unsere Einladung nicht reagiert. Zwar hat er die Nachricht gesehen, doch keine Antwort gegeben. Ich habe für ihn gedeckt, falls er dennoch vorbei kommt.“ Mary schenkte Ashley ein sanftes Lächeln. Timothy hatte nun das Gefühl, sein Rücken würde langsam in Flammen aufgehen, so sehr brannten die Blicke von den Bildern.

Ashley ließ ihren Blick durch den Raum schweifen, und schien an besagten Bildern hängen zu bleiben. „Warum habe ich deinen Bruder bisher nicht kennen gelernt, Sam?“

Es ist … kompliziert, Schatz.“

Samuels Blick wurde immer trauriger. Timothy räusperte sich leicht und legte sein Besteck zur Seite.

In diesem Moment klingelte sein Handy. Er hatte es in seiner Hosentasche gelassen. Mary warf ihm einen vernichtenden Blick zu. Timothy wusste, wie wenig sie es leiden konnte, wenn er sein Diensthandy mit am Tisch hatte. Allgemein mochte sie kein Handy am Tisch, doch dieses Exemplar besonders nicht. Doch dieses Mal überging er sie, froh über die Chance den Raum verlassen zu können. Mit einer gemurmelten Entschuldigung stand er auf und trat auf den Flur hinaus. Entkam so den braunen Augen, die der seiner Frau so ähnlich waren und die ihn von den Bildern hinter sich angesehen hatten.

Nur ein Sohn. Nur. Ein Sohn.

Everdeen?“

Am anderen Ende der Leitung war nur schwere Atemgeräusche zu hören. Timothy merkte, wie seine letzten Nerven heute strapaziert wurden. Er wusste, wer dort am anderen Ende der Leitung war. Einen kurzen Blick auf die Nummer hatte er noch erhascht und sie sofort zuordnen können. Oder eher die Tatsache, dass nur ein Unbekannt aufgelaufen war. Auf diesem Handy gab es nur eine einzige Person, die ihn mit unterdrückter Nummer anrief.

Spuck aus warum du mich anrufst.“

Noch immer war nur die schwere Atmung zu hören, bevor endlich die Stimme erklang. Rasselnd, als wäre die besagte Person Kilometer gelaufen. Oder ein Kettenraucher. Timothy hatte es niemals hinterfragt. Ihre Beziehung war immerhin rein geschäftlicher Natur.

Das Handy ist verschwunden.“

Danke, dass ihr da wart. Kommt gut heim, ja?“

Timothy stand neben seiner Frau, die den beiden Gästen zuwinkte, bevor das Auto sich entfernte. Nach dem Telefonat hatte er sich wieder zu den dreien gesellt, doch seine Gedanken waren bei dem Anruf.

Das Handy ist verschwunden.“

Immer und immer wieder kreiste dieser Satz durch seinen Kopf und die Frage, wie das passieren konnte. Ausgerechnet dieses Handy. Und gleichzeitig die Frage: Warum hatte dieser Typ es noch bei sich gehabt? Sollte er es nicht zerstören? Das Zufallen der Haustür brachte Timothy wieder ins Hier und Jetzt. Mary wandte sich zu ihm um, ihr Blick forschend. Timothy erwiderte diesen mit dem gleichen Ausdruck. Seit einigen Jahren war ihre Ehe nur noch eine Fassade. Sie war immer noch seine wunderbare Frau, doch hatte sich etwas verändert. Bevor sie etwas sagen konnte, war er derjenige, welcher das Wort an sie richtete. „Ihr hättet diesen Namen nicht am Tisch erwähnen sollen. Er hat sich gegen uns gewandt. Er gehört nicht dazu.“

Er ist unser Sohn, wie Samuel auch. Er ist dein ältester Sohn, Timothy.“

Dieser wandte sich nur ab. Für ihn war das Gespräch beendet. Es gab nur eine Kleinigkeit, welche er seiner Frau noch ans Herz legte. Eine wichtige Sache, die schon längst hätte erledigt werden sollen – seit Jahren. „Mary, Liebling?“

Was?“, gab sie zurück. Ihre Stimme leicht kalt. Timothy wandte sich ihr halb zu, die Lippen zu einem Lächeln verzogen. Sein Blick so angewidert, als würde er Dreck an seinem Schuh kleben haben. Und dieser Dreck trug den Namen Lewis. „Wärst du so gut, die Bilder aus dem Esszimmer endlich zu entfernen? Dann sind wir den Schandfleck auch los.“ Bevor sie noch etwas sagen konnte, verschwand er selber ins gemeinsame Schlafzimmer und ließ sie zurück. Verletzt, doch das war ihm egal. Er gab ihr die Chance. Wenn sie es nicht tun würde, dann nahm er sich dem selbst an. Diese Bilder mussten verschwinden. Die letzte Erinnerung, dass Lewis hier jemals gewohnt hatte. Samuel war vielleicht eine kleine Enttäuschung gewesen, als er sich gegen die Übernahme der Firma entschieden hatte.

Lewis war eine Schande. Jemand, der es nicht mehr wert war, als sein Sohn gesehen zu werden.

Nur noch einen Sohn – einen einzigen Sohn.

*~*~*~*~*~*~*

Es war purer Zufall gewesen. Nach Stunden der Suche hatte ich nur noch nach Hause gewollt. Ich war müde, erschöpft. So würde ich wenigstens relativ ruhig schlafen, auch wenn die Erinnerungen mich bis in meine Träume verfolgten. All das Blut, die leeren starren Blicke um mich herum. Und dann sein Blick aus blauen Augen, die mein Herz erobert hatten. Die mich ein letztes Mal mit einem Gefühl angesehen hatten, für das wir in all den Jahren keine Worte fanden. Liebe war es nicht, doch nicht weniger intensiv. Immerhin gehörten wir zusammen, dies war uns klar.

Und dann waren auch seine Augen leer.

Ja, es verfolgt mich bis in meine Träume. Wenn ich jedoch so erschöpft bin wie jetzt, gleite ich meistens in einen traumlosen Schlaf, welcher mir wenigstens den Hauch einer vorgetäuschten Ruhe verspricht. Wenn auch nur für ein paar Stunden. Vielleicht war meine Müdigkeit der Grund, weshalb ich den anderen Mann nicht gesehen hatte. Wir waren kollidiert. Eben noch hatte ich meine Nachrichten kontrolliert, die Einladung meiner Mutter und meines geliebten kleinen Bruders zum Essen. Weil ich an meinem Geburtstag nicht alleine sein sollte. Der 21. Juni – fünf Tage bis zu seinem Todestag. Ja, ich hatte ihre Nachricht noch einmal gesehen, bevor mein Akku den Geist aufgab. Dann war ich um die nächste Straßenecke gebogen und mit besagten Typen zusammen gestoßen. Beide verloren wir unsere Handys, jeder griff in Gedanken nach einem, in dem Glauben, es wäre das eigene. Denn verdammt – es war das gleiche Modell. Exakt das gleiche.

Erst daheim fiel mir auf, dass es nicht mein Handy war. Als der Bildschirm aufleuchtete, kaum, dass ich es ans Stromnetz anschloss. Der Hintergrund war einfach nur schwarz. Keine persönlichen Daten. Nicht das Bild von ihm und mir. Auch ließ es sich einfach entsperren. Es war nicht richtig, ein fremdes Handy zu durchstöbern. Ich wusste es. Doch wie sollte ich sonst den Besitzer herausfinden, welcher mein Handy nun bei sich hatte?

Kontakte besaß es keine, auch keine Musikdateien. Nur der Bildordner schien etwas zu enthalten. Und was ich zu sehen bekam, ließ mein Herz schneller schlagen, während mein Magen sich gleichzeitig umdrehte. Auf den Bildern erblickte ich mich selbst. Bei der Ankunft im Club. Mit Ciaran in meinem Arm. So viele Bilder von dem schrecklichsten Moment in meinem Leben. Wie hypnotisiert betrachtete ich die Bilder, klickte sie nacheinander durch.

Und fand dann den ersten Hinweis auf deine Identität.

Oder eine Verbindung zu dir.

Ich kannte das letzte Bild mehr als nur gut. Ein Teil in mir ahnt, dass du es bist. Dass du mein Leben komplett zerstört hast, so wie du es doch all die Jahre wolltest. Auf dem Bild lächelst du mich an. Früher dachte ich, es ist aus Liebe. Wie naiv ich war, wie dumm. Heute weiß ich es besser. Ich war nur die Marionette für dich, die so funktionierte, wie du es wolltest. Ja, ich war dumm, so so dumm. Erst als ich meine Fesseln durchschnitt und mich von dir lossagte, zeigtest du mir, wie ehrlich deine Liebe war: gar nicht. Du hast mich nie geliebt, wie ein Vater seinen Sohn lieben soll. Hast mich niemals so akzeptiert wie ich bin. Warum solltest du mein Leben nicht zerstören um mich zu brechen? Dein letzter schwacher Versuch mich zu deiner Marionette zu machen?

Dafür wirst du bezahlen.“

Und wie du das wirst – noch heute.

Es war spät, ich war müde und doch wach. Jetzt schlafen? Wo ich dir mit einem Mal so nahe war? Oder einen Hinweis auf dich hatte? Ich konnte ihn nicht ignorieren. Auch wenn es Jahre her war, dass ich den Weg zu meinem Elternhaus gegangen war, wusste ein Teil mir dennoch noch, wo er hin musste. Mein Finger legte sich auf die Klingel, löste sich erst, als die Tür aufging. Ich sah in das überraschte Gesicht meiner Mutter, die perplex meinen Namen von sich gab. Ich ließ sie links legen, zwängte mich an ihr vorbei. Ich wollte nur zu dir! Mit zügigen Schritten durchquerte ich den Flur und riss die Tür zum Schlafzimmer auf. Mit einem lauten Knall …

flog die Tür auf. Timothy hatte die Klingel gehört, hatte seine Frau gehen lassen. Hatte sich gefragt, wer um diese gottverdammte Zeit klingeln würde. Die Person im Türrahmen hatte er nicht erwartet. Beide sahen einander an; sein eigener Blick ausdruckslos, in Lewis‘ Augen brannte Wut und Verachtung. Timothy wunderte sich nicht mehr, dass der Anblick des jungen Mannes vor ihm rein gar nichts in ihm auslöste. Das war nicht mehr sein Sohn, ganz egal, was seine Frau behauptete. Seine Frau, die mehr als nur glücklich, wenn auch überrascht, zu sein schien Lewis hier und jetzt zu sehen. Doch dieser schenkte Mary nicht den Funken einer Aufmerksamkeit. Stattdessen trat er näher an das Bett heran. Seine kurzen braunen Haare standen ihm leicht wirr vom Kopf ab, seine braunen Augen fixierten Timothy.

Was bringt dich hier her?“

Lewis antwortete nicht, sondern warf ihm nur ein Handy aufs Bett. Das Display war entsperrt und zeigte ein Bild. Lewis mit einem Mann im Arm. Seinen Verlobten. Timothy hob nur eine Augenbraue, überspielte, dass er das Handy kannte. Das vermisste Handy. „Was soll ich damit?“

Warum sind da Bilder von mir drauf? Warum ist da ein Bild von uns drauf?! Das Bild von meinem neunten Geburtstag?!“

Das Bild, welches auch im Esszimmer stand. Timothy mit Samuel auf dem Arm, seinen anderen um Lewis gelegt. Alle drei Männer lächelten einander an. Bevor Timothy sich das Handy nehmen konnte, war Lewis bei ihm und zeigte das letzte benannte Bild. Seine Stimme war ein Zischen.

Was hat das zu bedeuten. Hast du Ciaran umgebracht?!“

Ciaran – der Verlobte. Der Verstorbene. Timothy musterte den anderen abwertend und rutschte etwas weg. Wollte er dem Dreck unter seinen Schuhsohlen nicht zu nahe kommen. Lewis hatte sich irgendwann von ihnen abgewandt. War ins Ausland gegangen und hatte sich, als er wiederkam, nach einem Jurastudium dazu entschieden, als Strafverteidiger für Amnesty International zu arbeiten. Was aber der endgültige Grund für die Distanz war, war eben besagter Ciaran. Wie konnte sein Fleisch und Blut sich auf einen Kerl einlassen? Einen Kerl, welcher nicht einmal guter Abstammung war, sondern nur so ein daher gelaufener komischer Kauz aus Nordirland. Ein Straßenköter, wenn man es so nennen wollte. Ohne wirklicher Ausbildung, ohne gute Grundlagen für die Zukunft. Lewis war in allen Punkten eine Niederlage gewesen. Bei ihm war alles komplett fehlgeschlagen.

Nur einen Sohn. Nur Samuel – nicht Lewis.

Beide Männer fixierten einander. Timothys Mundwinkel zuckten, doch er blieb ruhig. Lewis hatte ihn erwischt. Ja, er war für den Anschlag verantwortlich. Er hatte Jemanden arrangiert, welcher für ihn die Drecksarbeit erledigt hatte. Er hatte dem Mann vor ihm eine Lektion erteilen wollen. Dass der arrangierte Attentäter Fotos für ihn geschossen hatte war der Plan gewesen. Timothy wollte sie haben. Es war sein Plan, sie Lewis irgendwann unter die Nase zu reiben und ihn so komplett brechen zu sehen. Dass er nun das Handy gefunden hatte war ein wenig tragisch, aber nicht allzu schlimm. Es lief nicht so wie gedacht, doch was machte das schon? Würde er seinen Ass etwas früher ausspielen.

Vielleicht habe ich es, vielleicht auch nicht.“ Nun erlaubte er sich, dass seine Mundwinkel sich zu einem leichten Grinsen verzogen. Er konnte in Lewis‘ Augen sehen, dass er verstand, er konnte sehen, wie in seinem Gegenüber etwas zerbrach.

Und Timothy? Der kostete den Moment aus. Den Sieg, welcher ihm zustand. Er hatte Lewis erschaffen, hatte ihm Leben eingehaucht. Er war derjenige, welcher seiner Marionetten die Fäden trennen und ihr das Leben wieder nehmen konnte. Wenn er sie dafür zerstören musste, dann war es so.

Es war ja nur eine Marionette.

One thought on “Marionette

  1. Hi,
    dir ist eine sehr eindringliche Geschichte gelungen. Hut ab.
    So ganz sind mir die Abläufe aber nicht klar geworden. War der Ich-Erzähler die ganze Zeit Lewis? Welche Rache sollte folgen? Sollte Lewis das Handy bekommen oder nicht ?
    Mich hinterlässt die Geschichte etwas ratlos, was ich sehr Schade finde, da sie wirklich toll erzählt ist und der Stil mir sehr gefällt.
    Wie geschrieben, ich bin etwas ratlos …

    P.S. vielleicht hast Du ja auch Zeit und Lust, meine Geschichte zu lesen : Glasauge

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