VivienSophieMarionette im Wind

Aufwachen. Das Bewusstsein aus dem Schlaf widererlangen.

Es ist ein schmaler Grat, bevor sich die Augen öffnen und der Kopf anfängt, wieder all seine Sinne erwachen zu lassen. Nach intensiven Träumen dauert es dann sogar oft noch eine kurze Weile, bis man sich im Klaren darüber ist, wo man sich befindet. Das Umfeld wird vorsichtig beobachtet. Gewissheit setzt ein, umgeben von den eigenen Wänden zu sein.

Aus irgendeinem Grund fiel es Selma seit einigen Tagen besonders schwer zu verstehen, dass sie aufgewacht ist. Auch die Nachmittage und Abende waren immer mehr von einer quälenden Müdigkeit gejagt, die sich nicht abschütteln ließ. Es fehlte ihr an Konzentration. Dauerhafte Kopfschmerzen waren ein ständiger Begleiter. Sie konnte kaum an neuen Ideen für ihr Projekt arbeiten und noch weniger konnte sie langen Gesprächen folgen. Und genau jetzt hatte die Geschäftsführung eine Notfallsitzung einberufen. Ein Todesfall. Ein junges Mädchen hatte sich ins Unglück gestürzt. Alles spricht dafür, dass sie nicht mehr zwischen der virtuellen Welt von FantasmeV und der Realität unterscheiden konnte. Ein tragischer Unfall, der das gesamte Unternehmen in Aufruhe versetzte. Das Mädchen war eine der ersten Testspielerin und das Werbegesicht des Jahrhundertspiels. Sie war ein tragender Teil für all das, was über Jahre aufgebaut wurde und für Selma die inspirierende Muse. Viele Ideen entstanden durch Fina, durch ihre lebensfrohe Art und ihrer grenzenlosen Fantasie und vor allem ihrer Begeisterung für Neues. Niemand wusste damit umzugehen. Fragen über Fragen häuften sich. Fragen, die niemand beantworten konnte. Es fehlten Erklärungen, Zusammenhänge. In den Gesichtern jedes Einzelnen konnte man Trauer vernehmen. Einige Augen waren gerötet und andere sahen leer und verlassen aus. Es war ein trauriger Tag, ein Schicksalstag. Nach vielen Stunden des Redens und keinem Ergebnis wurde die Sitzung beendet, alle bekamen, wenn gewünscht, frei. Zeit zum Trauern, zum Verarbeiten. Mit niedergeschlagenen Körpern verließen die Anwesenden nach und nach den Sitzungssaal. Selma wollte es ihnen nachtun, doch ihr Körper ließ sie nicht. Sie war so schwach, dass selbst ihr Herz beinahe unmerklich schlug.

„Frau Aalto, gönnen Sie sich eine Auszeit. Gehen Sie nach Hause und verarbeiten Sie diese Tragödie. Ich brauche Sie mit voller Aufmerksamkeit hier, nicht als diesen Schatten.“ Ertönte die Stimme des Geschäftsführers mit einem Hauch von Ärger und Mitgefühl zugleich. Langsam richtete Selma ihren Kopf empor und sah nun direkt in das Gesicht des älteren Mannes. Tief atmete die junge Frau ein und mit einem Seufzer aus. „Ich muss noch zu viel machen.“ Mit diesen Worten schwang ihr Gesicht zum Fenster und ihre Augen verloren sich in der Weite des Horizonts. „Ihre Entscheidung.“ Ein kurzes Räuspern. „Aber wir sind kurz vor der Veröffentlichung der Erweiterung. Wir müssen schnell wieder einen kühlen Kopf bewahren.“ Dann war er auch schon verschwunden.

Müde richtete Selma sich auf. Ihre beiden Arme stütze sie helfend auf dem Tisch vor sich und dann trottete sie aus dem Saal heraus. Sie wollte ein paar Minuten die frische Luft um ihrem Kopf wehen lassen, Energie gewinnen. Damit sie dann versuchen konnte ihre Gefühle, wie so oft, für die Arbeit zu nutzen. Ohne ihre Emotionen und einer ebenso großen Fantasie, wie die des gerade verstorbenen Mädchens, wäre das gesamte Projekt nie das geworden, was es heute ist. Ein Spiel das die Menschen in vielen Ländern auf der Welt veränderte. Ihnen gibt was sie begehren, ihre Träume wahr werden lässt. Nie zuvor waren die Menschen so glücklich. Nie zuvor gab es eine solche Harmonie. Das Spiel, das alles veränderte, lieferte durch Elektroden die mit den Gehirnströmen verbunden wurden, eine virtuelle Welt, in der jeder sich sein ganz eigenes perfektes Leben schaffen konnte. Blinde Menschen konnten sehen, gehörlose Hören. Jeder konnte ein Pilot sein, oder eine Sängerin. Malen war noch nie so leicht und auch das Spielen eines Instrumentes verlangte kein jahrelanges Üben mehr. Wer lieber wollte, dass die ausgefallensten Gegenstände, anstatt von einfachen Autos, die Menschen auf den Straßen von einem Ziel zum anderen brachten, der ließ dies mit seinen Gedanken geschehen. Einzigartige Technik, Fähigkeiten, Orte. Der Fantasie waren keine Grenzen gesetzt. Das einzig wichtige war, dass man nie allein spielen durfte. Eine Aufsicht war notwendig. Es galt auch die vorgegebene Zeit nicht zu überschreiten, ein Schutzprozess für die Spieler. LANcorp hatte dafür gesorgt, dass ein System zur Überwachung erstellt wurde, damit niemand zu Schaden kommt. Selbst der eigene Verstand wurde überwacht. Es gab Energieaufzeichnungen, die das Spiel zur rechten Zeit gemäßigt abrachen, ohne die spielende Person abrupt aus der imaginären Welt zu reißen. Aus diesen Gründen saß der Schock tief. Jegliche Sicherheitsmaßnahmen wurden kontrolliert und es gab keinen Ausfall, keinen Fehler. Die Tragödie fand keine Erklärung und Zweifel waren groß, ob wirklich die neuartige Erfindung schuld an dem Elend war.

Selma war kaum an ihrem Lieblingsplatz unter der großen Weide angekommen, schon war sie froh wieder sitzen zu können. Heute ging es ihr noch schlechter als in den letzten Tagen. Ihr Körper arbeitete kaum noch, hatte keine Energie mehr. Ihr Kopf wurde von Minute zu Minute schwerer auf ihren Schultern und die Welt um sie herum war kaum noch wahrnehmbar. Ruhe war das einzige, was sie jetzt gebrauchen konnte. Langsam, fast wie in Zeitlupe, platzierte sich Selma im weichen Gras und schloss ihre Augen für einen Moment. Der Wind sendete eine leichte Brise und lies die junge Frau entspannt atmen und ihren Körper zur Ruhe kommen. Sanftes Vogelgezwitscher verhalf das Gefühl der inneren Harmonie zu verstärken und mit Hilfe ihrer letzten Vorstellungskraft, bildete sich Selma den Klang des Meeres ein. Plötzlich durchbrach ein Lachen den gelassenen Moment. Ein Lachen, welches Selma die Augen ruckartig aufreißen lies. Ein Lachen, welches sie unter hunderten erkannt hätte. Fina´s Lachen.

Erschrocken drehte Selma den Kopf von links nach rechts. Sie durchsuchte jeden sichtbaren Punkt nach dem jungen Mädchen, doch da war nichts. Nur ein paar Mitarbeiter des Unternehmens, die ähnlich wie Selma im Rasen saßen, sonst war niemand zu sehen. Ein Seufzer entfleuchte den roten Lippen der jungen Frau. Ihr Kopf spielte ihr einen Streich. Ihre grünen Augen füllten sich mit Tränen, bis eine verlorene den Weg nach draußen über die glatte Haut von Selmas Wangen fand. Jetzt war die Nachricht erst richtig in ihrem Bewusstsein angekommen. Der Schock übermannte sie. Selma zog die Knie an und versuchte ein Schluchzen in ihren harten Kniescheiben zu verstecken. Binnen weniger Momente war ihre Hose getränkt von der salzigen Flüssigkeit. Einige Minuten gab Selma sich ihren Gefühlen hin, bis sich ihre Atmung wieder beruhigt hatte und sie wieder klare Gedanken fassen konnte. Sie wusste, es war nicht der richtige Ort um sich ihren Emotionen hinzugeben, weshalb sie versuchte, ihre Gefühle wieder zu zügeln. Doch ihr Körper wollte nicht hören. Immer wieder überkamen sie Schübe, die ihren gesamten Korpus beben ließen und ihr mehr und mehr die wenige gebliebene Energie raubten. Selma wusste nicht wie lang sie so da saß. Aber irgendwann verschwanden die Menschen um sie herum und der Tag verabschiedete sich mit einem rötlichen Sonnenuntergang. Die junge Frau zitterte mittlerweile am ganzen Leib und ihre Vernunft setzte ein. Würde sie noch länger inmitten von feuchtem Grass in dem Einbruch des Abends verweilen, würde sie ihrem ermüdeten Körper nur mehr schaden. Die Septemberabende erlaubten nur in luftiger Kleidung kein langes Rasten mehr.

Mit Hilfe des Weidenstammes richtete Selma sich auf. Ein kurzer Blick schweifte durch das Gelände und sie stellte fest, wie allein sie mittlerweile war. Selbst in den Fenstern der verschiedenen LANcorp Gebäude waren kaum noch Lichter zu vernehmen. Selma hatte solange an dem alten Baum verweilt, dass sie den kompletten restlichen Tag versäumt hatte. Sie schüttelte verärgert über ihr Verhalten den Kopf.

Und da war es wieder. Das Lachen. Das gleiche Lachen, was sie vorhin die Kontrolle verlieren ließ und ihr nun einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Ohne es zu wollen schaute sie sich wieder verzweifelt um, mit dem sehnlichen Wunsch danach Fina zu sehen. Dem Wunsch aus ihrem Kummer zu erwachen und feststellen zu können, dass alles nur ein schlechter Scherz, ein böser Traum war. Doch wieder konnte Selma das Mädchen nicht entdecken. Immer und immer wieder hallte das Lachen durch Selmas Kopf und spielte mit ihrem Verstand. So musste sich Wahnsinn anfühlen.

Einen Schritt nach dem anderen tätigte Selma schleppend und bewegte sich so über das große nun nicht mehr einladend wirkende Gelände, bis sie endlich an Ihrem Volvo ankam. Ein kurzes Gefühl von Wärme empfing sie beim Einsteigen, denn endlich spürte sie den Wind nicht mehr durch die dünne Bluse pfeifen. Der Motor heulte auf und mit einem leichten Ruck fuhr Selma zu ihrer Wohnung, welche am anderen Ende der Stadt lag. Nach wenigen Minuten wurden ihre Augen schwerer und sie hatte kaum noch Konzentration für den Verkehr um sich. Jetzt wäre eigentlich der Moment, an dem sie anhalten und ihren Mann anrufen würde. Sie würde ihn bitten sie abzuholen. Ihr Kopf wollte das auch, aber irgendetwas sagte ihr, sie sollte weiterfahren. Etwas was sie nicht beschreiben konnte. Es war beinahe ein stiller Zwang.

Die Lichter der Scheinwerfer verschmolzen mit der Straße und es war als würden nicht mehrere Autos unterwegs sein, sondern ein einziger Lichtstrahl an Selma vorbeiziehen. Und dann war alles dunkel.

Ein lautes Hupen weckte Selma aus dem Sekundenschlaf und ruckartig riss sie das Lenkrad herum. Sie hatte ihre Fahrbahn für eine kurze Sekunde verlassen. Panisch stoppte Selma ihren PKW und sprang aus ihm heraus. Übelkeit machte sich in ihrem Körper breit und schon musste sie sich übergeben. Nichts als Gallenflüssigkeit fand seinen Weg in die Freiheit. Wieder liefen Tränen über Selmas Gesicht und sie bemerkte, dass sie kaum noch Kraft hatte sich auf ihren müden Beinen zu halten. Sie musste sich an ihrem Auto abstützen, um nicht zu fallen. Die ganze Situation überforderte sie so sehr, dass sie verzweifelt in ihrem Verstand nach einer Lösung suchen wollte, aber da war nichts. Keine Idee, kein Gedanke. Nur eine Schwere die so unbeschreiblich war, wie die junge Frau es sich nie hätte vorstellen können. Ohne es wirklich zu beeinflussen griff sie in ihre Hosentasche und suchte vergebens ihr Telefon. Doch es war nicht dort. Sie musste es in ihrem Labor vergessen haben. „Verdammt“ murmelte sie durch geschlossene Zähne und wollte wieder zurück ins Auto steigen, als sie die Tür plötzlich nicht mehr aufbekam. Verwundert suchte Selma nach ihrem Schlüssel, doch sie hatte ihn nicht. Ein Blick wanderte in das Wageninnere. Aber auch dort war nichts zu sehen. Das Zündschloss war leer. Statt in die Hosentasche musste Selma ihn vor Schreck einfach irgendwo im Auto fallen lassen haben, denn auch in ihrer Umgebung konnte sie ihn nicht vernehmen.

Mit der wenigen Kraft, die sie noch besaß, ruckelte sie hilflos an der Tür herum. Doch nichts tat sich. Immer wieder riss sie am silbernen Griff, trat immer wieder mit den Füßen gegen die Tür. Verzweifelt rüttelte sie in allen möglichen Varianten an der Tür, bis sie mit beiden Fäusten gegen diese schlug, als würde diese dann plötzlich aufspringen. Ein Schmerz machte sich in ihren Händen breit und erstarrt blickte sie zu ihnen herunter. Sie hatte so hysterisch versucht die Tür zu öffnen, dass ihre Knöchelchen dunkel gefärbt waren und die Fingerkuppen blutige Risse aufwiesen. Wie benommen starrte Selma das langsam fließende Blut an und hob ihre Hände, um die dickflüssige Substanz dabei zu beobachten, wie sie ihren Weg bis zu den Unterarmen fand. Und dann erhaschte sie durch ihre Finger hindurch einen Blick auf blondes Haar. „Fina?“ Rief Selma geschwächt und erwachte aus ihrer Trance. Hinter dem Auto auf dem Feld konnte sie klar den Hinterkopf des vermeintlich toten Mädchens erkennen. Selmas Körper wurde von einem Energieblitz durchzogen und sie preschte an ihrem Auto vorbei, um zu dem Mädchen zu gelangen. Immer schneller eilte sie voran, doch sie kam einfach nicht näher. Mit jedem Schritt vorwärts war auch Fina wieder einen Schritt weiter entfernt. Je länger sie rannte, desto weniger wollten ihre Beine sie tragen und sie stolperte fast mehr, als das sie lief. Selma rief mehrmals vergeblich den Namen Fina, doch es kam keine Reaktion. Das Einzige, was zu vernehmen war, war das Lachen, das sie schon mehrmals heute verfolgt hatte. Doch mit jedem weiteren Lachen verwandelte sich das sonst so sanftmütige Geräusch in einen unheimlichen Ton. Wie eine Wiedergabe, die dunkler und dunkler wurde. Die Erkenntnis darüber, dass sich die heitere Melodie gewandelt hatte, ließ Selma klarer denken und sie nahm ihre Umgebung wieder besser wahr. Mittlerweile war Selma so weit gelaufen, dass sie sich inmitten eines Feldes wiederfand. Erschrocken von dem hohen Mais überall neben sich und der Dunkelheit, die sie nun anstelle der Abenddämmerung umgab, blieb die junge Frau stehen. Ihre Lunge schmerzte von dem anstrengenden Lauf und ihre Atmung war kaum mehr als ein hektisches Ringen nach Luft. Auch ihre Beine wollte nicht mehr arbeiten. Diese große Anstrengung hatte Selma den Rest gegeben und voller Schmerzen brach sie zusammen. Mit einem dumpfen Laut prallte ihr Körper auf den erdigen Boden. Der Wind heulte durch die Pflanzen und flüsterte eine düstere Melodie. Das Szenario machte Selma Angst. Grillen zirpten laut von allen Seiten, ein Ton der Selma noch mehr Angst einflößte.

Sie verstand die Welt nicht mehr. Verstand nicht, warum sie so mitgenommen war. Warum sie so schwach war. Warum Fina ihr erschien und das Lachen durch ihren Kopf hallte, als wäre das Mädchen direkt neben ihr. Sie hatte so viele Fragen in ihren Kopf, die in einem Band immer wieder nach Antworten verlangten, doch sie konnte keine finden. Sie war zu schwach um überhaupt klar an irgendetwas zu denken. Jeder Gedanke verweilte nur kurze Millisekunden, eher er von einem anderen verjagt wurde. Die Kälte der Nacht machte sich in Selmas Korpus breit und sie begann hemmungslos zu zittern. Der jämmerliche Versuch ihres Körpers, sie bei Bewusstsein zu behalten. Aber jede weitere Minute, die Selma ausgelaugt mitten im Maisfeld lag, war eine Minute zu viel. Sie verlor immer mehr an Energie und Wärme. Durch die niedrigen Temperaturen der Herbstnacht konnte sie kaum ihre Gliedmaßen spüren. Ihre Augen waren schon geschlossen, da sie die Lider nicht mehr halten konnte, und ihr Kopf schmerzte so sehr, dass sie ihn am liebsten einfach abgeworfen hätte. Geradeso konnte sie noch mit beiden Händen an ihre Schläfen fassen und mit den Fingern in ihren Kopf krallen, als würde es ihr Helfen den stechenden Schmerz zu vertreiben. Aber es war zwecklos.

Mittlerweile stand der Mond schon im Zenit des Himmels und erleuchtete das Szenario in einem schaurigen Licht. Der Mais wirkte wie düstere Gestalten, die angetrieben von dem wehenden Wind um die junge Frau herumtanzten. Selma kauerte sich mit letzter Kraft auf dem feuchten Boden zusammen. Sie hoffte sich so noch etwas wach und warm halten zu können. Zur Verstärkung umschling sie ihre Schienbeine mit ihren Armen und verschränkte die Finger miteinander. Ein Versuch sich zu schützen.

Und dann ein klingeln. Ein Telefon. Zu schwach um direkt zu reagieren, versuchte sie sich langsam aus ihrer Position zu bewegen. Doch vor Schmerz war es ihr kaum möglich. Sekunden wurden Minuten, bis sie endlich verkrampft in ihre Hosentasche greifen konnte, nur um dann festzustellen, dass dort nichts war. Doch das Klingeln tönte weiter durch die Nacht und vertrieb das grelle Zirpen der Insekten. Selma war verzweifelt. Ihr Telefon war doch eigentlich nicht da gewesen, warum klingelte es jetzt? War es überhaupt ein Telefon? Sie wusste es nicht mit Sicherheit. Vom Boden aus blickte sie um sich, für einen kurzen Moment unsicher darüber, ob sie zuvor durch die Müdigkeit nur nicht richtig geschaut hatte und während ihres Zusammenbruchs im Feld ihr Telefon nicht vielleicht verloren hatte. Kaum ersichtlich vernahm Salma dann nur wenige Zentimeter neben sich ein helles Leuchten. Ein Display. Doch sie war eine so erschöpfte Gestalt, dass sie sich nicht zu bewegen vermochte. Und dann verstummte das Klingeln. „Nein“ hauchte Selma. Nun war auch das Licht verschwunden und sie wusste nicht genau, wohin sie greifen soll. Wieder schwirrten unzählige Gedanken durch den Kopf der jungen Frau. Sie wusste sich nicht zu helfen. Sie war zu schwach, zu müde und zu ängstlich. Kurz lag sie einfach da. Spürte, wie das Leben aus ihrem Körper trat und fand sich fast schon mit dem Gedanken inmitten des Feldes den Tod zu finden ab. Aber nein, so wollte sie es nicht zu Ende gehenlassen.

Ihr schmerzverzerrter Schrei durchschnitt die Nacht und Selma hob ihren Arm in die Richtung, in der sie das Telefon vermutete. Sie suchte in kurzen Bewegungen den erreichbaren Boden ab und krallte immer wieder mit ihren Nägeln in den Dreck. Fast schon hatte sie die Hoffnung aufgeben, als das Klingeln erneut den Weg in ihr Ohr fand und damit auch das erleuchtete Display den Weg zu ihren Augen. Ein kurzer Glücksmoment verlieh der kraftlosen Frau die Fähigkeit, sich noch ein bisschen weiter zu strecken und das Telefon zwischen die Finger zu bekommen. Von dem Gefühl der Erleichterung geleitet fing Selma erneut zu weinen an. Hoffnung. Sie hob das Telefon vor ihr Gesicht. Kein Anruf war mehr zu vernehmen. Aber das war nebensächlich, denn sie hatte nun selbst die Möglichkeit sich Hilfe zu rufen. Tief atmete sie ein und aus, um sich zu beruhigen, damit sie noch Worte zum Reden finden konnte, genug Kraft dafür hatte. Und dann der Schock. Es war nicht Selmas Telefon. Und es war gesperrt. Jeglicher übrig gebliebene Hoffnungsschimmer erstarb sofort in Selma. Panik machte sich in ihr breit. Ihr Herz holte zu einem letzten Rasen aus und das Blut pulsierte durch ihre Adern. Selma verspürte, dass ihr Ende gekommen war. Ihre Augen wollten sich wieder schließen. Aber genau dann öffnete sich von selbst ein Video und eine ältere Frau sprach zu ihr. Sie kannte die Stimme, doch fiel es ihr schwer sich zu erinnern. Krampfhaft versuchte ihr Kopf zu arbeiten, bis sie wieder wusste, woher die Frau ihr so bekannt vorkam. Es war Jenna Salo, Assistentin des CEO von LANcorp. Jetzt würde Selma geholfen werden.

Mit einem nahezu friedlichen Gefühl schloss sie ihre Augen und lauschte den Worten, die sie nicht wirklich greifen konnte, die ihr aber dennoch ein Gefühl von Sicherheit vermittelten. Den letzten Teil nahm sie dann klar und deutlich wahr: „So fühlt sich an, was du für deinen Reichtum meiner Tochter angetan hast. Verhungert in der virtuellen Welt.“

Mit dem letzten Gedanken eine Marionette in ihrem eigenen Spiel zu sein, verschwand jegliches Leben aus Selmas Körper.

 

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