Madita NoldesNächstenliebe

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Langsam sah sie die Flüssigkeit vom Infusionsbeutel in den Infusionsschlauch und somit in die Vene laufen. Endlich hatte sie es geschafft! So lange hatte sie auf exakt diesen Moment hingearbeitet und nun lag er wortwörtlich vor ihr! Mit einem Lächeln und feuchten Augen verließ sie unter piependen Lauten das Krankenzimmer, jedoch nicht ohne noch einen kurzen Blick nach hinten auf den Monitor zu werfen, der nun nur noch eine gerade Linie anzeigte.

 

Dieser Tag war nun schon knapp fünf Jahre her und Marie führte seitdem ein unbeschwertes Leben ohne Sorgen. Niemals hätte sie damit gerechnet, dass sich daran jemals etwas ändern würde. Es war ein kalter Morgen im Oktober. Der Himmel zeigte sich wolkenverhangen und die Sonne ließ sich schon seit Tagen nicht mehr blicken. Von wegen goldener Herbst. In einen dicken Wollmantel gehüllt fuhr Marie mit dem Rad zu ihrer Frühschicht in das Elisabeth Hospital. Das Krankenhaus befand sich direkt inmitten der Stadt. Gerade zu dieser Jahreszeit herrschte voller Betrieb in der Notaufnahme, denn es waren Herbstferien und viele Ärzte hatten ihre Praxen geschlossen. Da wimmelte es nur von Erkältungen im Wartezimmer der zentralen Aufnahme und blockierten somit den Platz für wirkliche Notfälle. Heute hatte sie ausgerechnet mit Justus Dienst. Er musste kurzfristig einspringen, weil sich Klaus mal wieder krank gemeldet hatte. Klaus wäre Marie allerdings zehnmal lieber gewesen. Klar, Justus war ihr Alter und auch sehr gutaussehend, hatte einen gestählten Körper, aber im Köpfchen war nicht allzu viel hängen geblieben. Wie hatte er nur sein Examen geschafft, vielleicht durch die Nachhilfe, die sie im jahrelang gegeben hatte. Darum ist wohl aus ihnen beiden auch nichts geworden. Marie stellte ihr rostiges Fahrrad am Seiteneingang der Klinik ab und betrat durch die antike dunkle Holztür das Krankenhaus. Abschließen brauchte sie nicht, denn das olle Ding wurde hier eh nicht geklaut. Das Quietschen der Kette würde jeden Dieb verraten. Desinfektionsmittelgeruch stieg ihr sofort in die Nase und ein Gefühl von Heimat überkam sie. Seit ihrer Ausbildung arbeitete sie nun schon im Elisabeth Hospital, das war nun acht Jahre her. Sie kannte hier jeden Winkel und die Kolleginnen und Kollegen gehörten auch schon alle zum Inventar. Nun musste sie sich aber beeilen. Nach einem hastigen Blick auf ihre Fitnessuhr, Statussymbol mehr nicht, hechtete sie in die große Eingangshalle zu den drei Aufzügen. Davon waren natürlich, wie sollte es auch anders sein, zwei außer Betrieb und der dritte dümpelte in der sechsten Etage herum und machte keine Anstalten herunter zu fahren. Nun stand sie sich schon seit fünf Minuten die Beine in den Bauch und musste endgültig zugeben, dass sie zu spät zum Dienst erscheinen würde. Endlich nach erneuten fünf Minuten Wartezeit sah sie das leuchtende „E“ und die Türen öffneten sich und sie konnte den Aufzug betreten. Allerdings musste sie sich zwischen einen Rollstuhlfahrer mit Gipsbein, der mit Sicherheit zum Rauchen wollte, und einem Bett in dem eine ältere Frau lag, quetschen. Diese Frau trug ein goldenes Medaillon um ihren dicklichen Hals. Die Frau erinnerte Marie sehr stark an ihre Großmutter, die vor acht Jahren eine Krebsdiagnose bekam. Viel zu früh für Marie und genau der Grund um eine Ausbildung als Gesundheits- und Krankenpflegerin zu beginnen. Sie sah sich in der Pflicht dieser Dame, auch wenn sie sie gar nicht kannte, zu helfen. Schnell wurde Marie aus ihren Gedanken gerissen, denn der Mann mit dem Gipsbein zwängte sich noch bevor sich die Türen wieder schlossen schnell nach draußen in die Eingangshalle. Bevor Marie nun endlich in die Umkleide konnte, musste sie erst noch einen Stopp in der zweiten Etage im Wäschelager einlegen, um sich noch eine neue Garnitur Arbeitskleidung zu organisieren. Nach weiteren zehn Minuten stand sie vor der geschlossenen Tür die zur Umkleide führte. Sie sortierte den Schlüsselbund der sich in ihrer rechten Hand befand und suchte daran nach ihrem Türpieper. Als sie die Tür entsperrte schoss ihr ein Geruchsgemisch aus Schweiß und billigem, süßlichem Deo in die Nase. Sie würgte und schaffte es gerade noch rechtzeitig zu einem Fenster, welches sie aufriss. Frische Luft schoss es ihr durch den Kopf. Nachdem sie drei tiefe Atemzüge genommen hatte, schloss sie das alte Holzfenster unter quietschenden Lauten wieder. Maries Spind war in der hintersten Reihe. Sie war alleine in der Umkleide. Vor den Spinden standen jeweils Holzbänke. Jeder der Spinde war mit dem Namen des jeweiligen Mitarbeiters gekennzeichnet. Manche der Kolleginnen, die Geschlechter waren im katholischen Hause natürlich getrennt, hatten private Fotos oder Postkarten an die Türen geklebt. Maries Spind-Tür war nackt. So ein Chichi empfand sie als unnötig. Als ihr Blick so zu ihrem Spind schweifte, sah sie unter der Bank etwas. Ad hoc fasste sie sich an ihre rechte hintere Jeanstasche und spürte dort ihr Handy. Okay, ihr Handy war schon mal an Ort und Stelle wo sie es auch vermutet hatte. Wäre es ihr herunter gefallen hätte sie das ja auch schließlich mitbekommen. Auf dem PVC Boden, der frisch gewienert wurde, hätte sie den dumpfen Aufprall wahrgenommen. Zumal in der Umkleide außer ihr immer noch niemand zu sehen war. Sie war ja eh schon zu spät, da könnte sie auch das Handy aufheben und zur Pforte bringen. Vielleicht sprang ja noch ein Finderlohn heraus, dann wäre die Pizza heute Abend gesichert. Also ging Marie in die Hocke, nicht bevor sie sich ihren teuren Wollmantel ausgezogen hatte, und fischte das Handy zu ihren braunen Wildlederstiefeletten. Ihren Schlüsselbund pfefferte sie auf die Holzbank. Sollte man in ein fremdes Handy schauen? Na ja in der heutigen Zeit sowieso eher unmöglich durch PIN Eingaben, Gesichtserkennungen, Fingerscan oder sämtliche Muster die man auf den Bildschirm malen musste um das Handy zu entsperren. Außerdem blieb nun keine Zeit mehr dafür, denn Marie war nun schon zwanzig Minuten zu spät, somit hatte sie die Hälfte der Übergabe schon mal verpasst, worüber sie eigentlich auch nicht böse war. Das Handy ließ sie für den Anfang in ihren Rucksack plumpsen und zog sich schnell um. Sie knallte die Tür zur Umkleide zu und hastete, diesmal durch das denkmalgeschützte Treppenhaus, nach unten zu ihrem Arbeitsplatz, der zentralen Aufnahme. Dort tummelten sich schon ihre Kollegen aus der Nachtschicht und Justus um einen PC und diskutierten über die Liegezeiten der verbliebenen Patienten in der Notaufnahme. Justus` Haare fielen ihm in die Augen und er pustete sie aus seinem Gesicht. Schmalzlocke, dachte sich Marie und verdrehte innerlich die Augen. Aber auch diese acht Stunden Dienst haben irgendwann ein Ende! „Marie, du bist ja schon wieder zu spät! Wir wiederholen aber jetzt nicht extra alles für dich!“, giftete Walburga, eine der alteingesessenen Krankenschwestern sie an. Marie winkte einfach nur ab, das musste sie sich jetzt am frühen Morgen wirklich nicht geben. „Es ist ja auch alles gesagt!“, mischte sich nun Justus an seinem Kaffee nippend ein. Wie er da schon auf dem Schreibtischstuhl lungerte! Walburga erhob sich von ihrem Platz und stiefelte in die Teeküche. Nadine, ebenfalls aus dem Nachtdienst, lief ihr hinterher wie ein Hundewelpe. Kurz darauf verließen die Zwei die Notaufnahme und ließen Justus und Marie am PC zurück, die auf den Monitor starrten. „Welchen Bereich übernimmst du?“, fragte Justus. Marie zuckte nur mit den Achseln, war ihr sowas von egal welchen Bereich sie übernehmen sollte. Sie machte drei Kreuze wenn der Dienst mit ihm vorbei wäre! Seit wann war die Situation so angespannt zwischen ihnen? Wann war der Zeitpunkt gekommen, dass sie so ungern in seiner Nähe war? Warum empfand sie plötzlich so eine Abneigung gegen ihn? Sie hatte ihn doch schließlich vor fünf Jahren abblitzen lassen. Vielleicht gerade deswegen? Um ihn auf Abstand zu halten? Sie konnte sich das selbst nicht erklären. Augen zu und durch und den Arbeitstag gut über die Bühne bringen! „Mir egal, such`s dir aus.“, antwortete sie, verließ damit die Unterhaltung und ging in das erste Behandlungszimmer. Als sie die Tür hinter sich schloss nahm sie den Duft von Zigaretten wahr und prompt sah sie den Mann aus dem Aufzug wieder. Wieder einmal zeigte sich Maries gute Menschenkenntnis! Na klaro, er brauchte einen neuen Gips! Der jetzige sah auch ganz schön abgeranzt aus. Sie musste unbedingt einen Moment abpassen, in dem sie allein war und sich nochmal in aller Ruhe dem gefundenen Handy widmen konnte. Zur Pforte konnte sie es ja auch immer noch bringen. Maries Neugierde wurde nun doch immer stärker. Wie gut, dass Justus der Meister im Gipsen war. Sie verabschiedete sich schnell von dem Mann im Rollstuhl und ging auf Justus zu, der immer noch vorm PC hing und seinen Kaffee schlürfte. Der hatte ja wohl die Ruhe weg! „Justus kannst du in der zwei einen Gips neu an wickeln? Ich würde dann einmal schnell zum Labor flitzen!“ Justus sah nicht auf und nickte. Marie ging zu der Laborkiste, in welcher sich die Blutröhrchen stapelten und machte sich auf den Weg zum Labor, welches sich im Nebengebäude befand.  Vorher huschte sie allerdings noch schnell in die Teeküche, die sich auf demselben Flur befand. Dort hatte sie ihren Rucksack geparkt, bevor sie sich den Schlusssatz der Übergabe angehört hatte. Ein Duft von frisch gekochtem Kaffee stieg ihr in die Nase. Das musste nun warten! Sie fingerte das fremde Handy aus ihrem Rucksack und lies es mit zitternden Händen in ihrem Kasack verschwinden. Mit der Laborkiste unter dem rechten Arm verließ sie die Notaufnahme und ging in Richtung Eingangshalle. Hier herrschte reges Treiben. Es war neun Uhr morgens und das Café in der Halle war gut besucht. Marie huschte mit einem kurzen Nicken an den Mitarbeitern der Pforte vorbei und verließ das Hauptgebäude durch eine Seitentür aus Milchglas. Der kalte Wind streifte ihre nackten Arme und sie suchte sich eine geschützte, ruhige Ecke. Eigentlich trafen sich hier die Kolleginnen und Kollegen aus dem Haus zum Rauchen, aber nun war zum Glück niemand in Sicht- und Hörweite. Marie stellte die Laborkiste zwischen ihre Füße und griff nervös nach dem fremden Handy. Es handelte sich um ein schlichtes Modell ohne viel Schnickschnack, was sie aufatmen ließ, denn somit fiel Gesichtserkennung und Co. schon einmal weg. Das machte Marie allerdings nur noch neugieriger. Der Bildschirm blitzte auf, nachdem sie die Starttaste an der Seite drückte. Plötzlich wurde ihr schlecht und ihr Gesicht fahl. Was sie dort auf dem Bildschirm sah, kam ihr vor wie ein Alptraum. Ein Foto von sich selbst, einen Infusionsbeutel in der linken Hand haltend und eine Spritze in der rechten. Im Bildausschnitt konnte man gut leserlich eine Ampulle Morphium erkennen. Wer zur Hölle hatte dieses Bild gemacht? Schnell ließ sie das Handy wieder in ihre Tasche zurück sinken. Schaute sich um, aber sie war immer noch allein. Sie musste weg, ganz schnell weg und erst einmal einen klaren Kopf bekommen. Da kam ihr die Laborkiste zu ihren Füßen wieder in den Sinn über die sie fast gefallen war. Diese krallte sie sich und brachte sie schnell zum Labor. Wer hatte dieses Bild von ihr gemacht? Warum tauchte dieses Bild plötzlich nach fünf Jahren auf? Marie war schon ganz schwindelig von diesen ganzen Gedanken und auf einmal merkte sie nur noch wie ihr schwarz vor Augen wurde. Als sie wieder aufwachte befand sie sich auf einer Liege im Behandlungszimmer der Notaufnahme. Justus stand am Kopfende und beugte sich mit einem Schmunzeln im Gesicht über sie. „Na, biste wieder unter uns?“ Es war kein Alptraum… Es war leider kein Alptraum, was sie erlebt hatte… Es war real… Und dass man ihr nun vermutlich auf die Schliche gekommen war, machte ihr Angst. „Geht schon wieder.“, versuchte sie hervor zu pressen. Leise gelang ihr dies auch. Auf gar keinen Fall durfte sie sich anmerken lassen, dass etwas nicht stimmte. Nach ihrem Dienst würde sie sich Gedanken bezüglich des Problems machen. Plötzlich bemerkte sie ein Vibrieren in ihrer rechten Kasack-Tasche. Ihr Handy war in der Teeküche in einem Schrank eingeschlossen. Es musste also das fremde Handy sein. Marie merkte wie ihr Herz schneller begann zu schlagen. Ihr wurde heiß und kalt zu gleich. Zum Glück hatte Justus schon seit einiger Zeit das Zimmer verlassen, sie sollte sich erst einmal sammeln, waren seine Worte bevor er ging. Mit einem flauen Gefühl zog sie das Handy aus der Tasche. Seit dem ersten Bild war genau eine Stunde vergangen. Zitternd starrte sie erneut auf ein Foto auf dem nur ein Infusionsbeutel zu sehen war. Wieder ein Vibrieren. Diesmal eine Textnachricht: WIEGE DICH NICHT IN SICHERHEIT. Ihr drohte offenbar jemand. Aber wer?, schoss es Marie durch den Kopf und warum nach so langer Zeit? Sie musste ihren Dienst zu Ende bringen, dieser ging nun noch vier Stunden. Immer noch leicht zitternd erhob sie sich von der Liege, strich ihren Kasack wieder glatt, ließ das Handy schnell in der Tasche verschwinden und betrat den Flur der Notaufnahme. Justus hatte schon enorm was weg gearbeitet, sodass er gerade Pause in der Teeküche machen konnte. Er richtete seinen Blick von der Zeitung auf, als Marie die Küche betrat. „Was war denn mit dir los? Die Tussi aus` m Labor rief auf einmal an und meinte du bist kollabiert!?“ Marie setze sich ihm gegenüber und nahm sich einen Keks aus der Dose, die eine Patientin als Dankeschön vorbeigebracht hatte. „Hab noch nix gegessen.“, tat sie ab und hoffte, dass er es dabei belassen würde. Und tatsächlich er versank wieder hinter seiner Zeitung. Nun hatte sie wenigstens etwas Zeit nachzudenken, aber ihre Gedanken fuhren gerade Karussell. Sie konnte sich keinen Reim auf das Ganze machen. Schon wieder merkte sie wie sich Übelkeit in ihrem Körper breit machte. Der Keks trug da auch zu keiner Besserung bei. Sie versuchte tief durch die Nase zu atmen und es half zum Glück. Den Kampf gegen die Übelkeit hatte sie schon mal gewonnen. Würde sie vielleicht schon bald im Gefängnis sitzen? Vorher müsste sie noch vor Gericht… Was würde ihr Chef sagen? Und die Kollegen? Ja, genau was würde wohl Justus sagen, wenn sie aus dem Weg wäre? Hätte Justus einen Grund ihr so etwas anzutun? Eigentlich nicht, oder etwa doch? Klar, sie hatte ihn vor einigen Jahren abblitzen lassen, aber war das ein Grund? Sie konnte die Gedanken in ihrem Kopf einfach nicht sortieren. Sie wurde noch wahnsinnig! Die Zeit verging sehr schleichend. Es war auch eher ein ruhiger Vormittag, nicht so wie zu Dienstanfang angenommen. Was wäre wenn sie dieses Handy einfach verschwinden lassen würde? Obwohl der Erpresser mit Sicherheit eine Kopie von den Bildern besaß…, ging es Marie durch den Kopf. Es fraß sie innerlich auf… Sie wollte doch nichts Böses anstellen, geschweige denn jemanden umbringen… Hatte es aber getan… Sie hatte jemanden umgebracht, jeder Richter würde es so sehen und sie dafür bestrafen. Noch drei Stunden Dienst lagen vor ihr. Und da war es schon wieder. Dieses Vibrieren und mit ihm die Angst. Was würde nun kommen? Sollte sie es einfach ignorieren? Es war noch nicht zu spät das Handy an der Pforte abzugeben, oder etwa doch? Allerdings musste sie nachsehen. Ein Gemisch aus Neugierde gepaart mit Existenzangst lag in der Luft. Mit diesem Gefühlschaos entnahm sie das Handy und starrte auf den Bildschirm auf dem sie ein erneutes Foto sah. Auf diesem Foto stand sie in einem Krankenzimmer über eine alte Frau gebeugt. Unter dem Bild war wieder eine Textnachricht zu lesen: ICH WEISS WAS DU GETAN HAST! Ein kalter Schauder lief Marie über den gesamten Körper. Sie kam aus der Sache nicht mehr heraus. Sie würde ins Gefängnis gehen und alles verlieren. Ihren Job, ihr Ansehen, ihre Familie, ihre Freunde und sich selbst! Keiner konnte ihr glaubhaft versichern, dass ein Gefängnisaufenthalt die Persönlichkeit nicht verändern würde! Was konnte sie nur machen? „Marie, alles gut? Du ziehst ja schon wieder so weiß ab.“, machte sich Justus bemerkbar. Oh Gott, den hatte sie ja ganz vergessen, er saß ihr ja die ganze Zeit gegenüber. Und er war momentan nicht mehr mit seiner Zeitung beschäftigt, sondern hielt ein Handy in der Hand. Das war allerdings nichts gegen den alten Knochen von Handy, den sie gerade in ihrer rechten Hand hielt. Immer noch starrte sie geistesgegenwärtig auf den Bildschirm. „Marie? Ich rede mit dir, hallo?“, tönte es von ihrem Gegenüber. Als sie vom Bildschirm aufblickte, sah sie Justus winkend mit seinem Smartphone. „Mir geht es nicht so gut.“, entgegnete sie ihm und hoffte, dass er Ruhe gab. „Sollen wir Zwei mal raus an die frische Luft gehen? Können dem Praktikanten ja sagen er soll anrufen, wenn hier was kommt?“, schlug Justus vor, welcher sich schon von seinem Platz erhoben hatte. Marie nickte nur. Sie war so durcheinander, sie konnte gar keinen klaren Gedanken mehr fassen. Also folgte sie Justus nach draußen in den Innenhof, welcher gleichzeitig die Krankenwageneinfahrt war. Die Automatiktür hatte sich gerade hinter ihnen geschlossen da baute sich Justus vor ihr auf. „So, jetzt reden wir mal Tacheles!“, Justus` Miene verschärfte sich plötzlich und er blickte gar nicht mehr so freundlich drein wie bisher. Er stand Marie direkt gegenüber. „Hast du die Bilder bekommen?“, fragte er sie und trat noch einen Schritt näher. Marie nickte. „Gut! So sollte das sein!“ Mit einem süffisanten Grinsen stellte er sich vor Marie. So dicht, dass maximal ein Blatt Papier zwischen sie gepasst hätte. „Also Marie, wie du ja schon gesehen hast, kenne ich dein kleines Geheimnis! Wenn du nach meinen Regeln spielst, dann wird es unser Geheimnis bleiben und niemand erfährt, was du vor fünf Jahren getan hast!“ Nun begann er Marie zu umkreisen, was sie nur noch nervöser machte. Vor allem musste sie erst einmal sacken lassen, dass es wirklich Justus war, der sie da zu erpressen versuchte. Und zum Teufel woher hatte er diese Bilder? „Meine Tante liegt hier seit einer Woche im Krankenhaus. Sie liegt auf Station 3A in einem Einzelzimmer. Ich hatte eigentlich gedacht, dass sie nach ihrer Schilddrüsenoperation nicht mehr lange unter uns weilt, aber leider ist sie sehr zäh! Sie ist gut betucht. Dieses Geld brauche ich! Ich habe damit kalkuliert!“, er machte eine kleine Pause und musterte Marie, der es nun endgültig die Sprache verschlagen hatte. Was war Justus nur für ein Mensch? Wie konnte sie sich in ihm nur so getäuscht haben? Heuerte er sie gerade für einen Mord an? Hatte er Schulden? Wie war sie nur da hinein geraten? „Und da kommst du ins Spiel liebste Kollegin! Eigentlich hatte ich gar nicht damit gerechnet, dass sich diese Situation mal in Realität zuträgt, aber sieh an, da stehen wir zwei Hübschen!“ „Woher hast du diese Bilder?“, fand Marie endlich ihre Stimme wieder. „Ich habe dich vor fünf Jahren beobachtet, es war aber eher zufällig. Zur richtigen Zeit, am richtigen Ort. Hab dich am Schrank mit den Betäubungsmitteln gesehen und wie du damit die Infusionen gepanscht hast! Zu diesem Zeitpunkt stand aber die Abschlussprüfung an und ich war auf dich und deinen Nachhilfeunterricht angewiesen, sodass ich einfach vorsorglich Fotos schoss und diese dann aufbewahrte. Vielleicht kommt ja irgendwann der richtige Zeitpunkt. Und tada hier ist er!“ „Justus, was willst du von mir? Das Ganze ist nun fünf Jahre her! Warum hast du nie was gesagt?“, Marie versuchte die Situation noch irgendwie zu retten. Justus fasste sie an die rechte Schulter so als würde er sie umarmen wollen. „Ach Marie, beruhige dich! Ich verlange doch wirklich nicht viel von dir. Lass einfach meine Tante hops gehen, so wie du es schon mal gemacht hast! Bei dieser alten gebrechlichen Frau von damals hast du auch keine Sekunde mit der Wimper gezuckt und hast die Infusion angehängt. Und deinen Blick als du das Zimmer verlassen hast, dieses Lächeln!“ Darum ging es ihm also! Marie sollte eine Patientin töten? Nur damit er an ihr Erbe kam? Sie war doch keine blutrünstige Mörderin, oder etwa doch? Klar, sie hatte ein Menschenleben auf dem Gewissen, aber war es wirklich so? Sollte sie nun mit der Wahrheit raus? Vielleicht hatte Justus dann ja auch Mitleid mit ihr? Sie konnte es zumindest versuchen, zu verlieren hatte sie ja nichts mehr! „Es war aber nicht irgendeine alte, gebrechliche Frau! Es war meine Oma, die schon seit Jahren gegen den Krebs kämpfte! Jahrelang musste ich mir den tagtäglichen Kampf mit ansehen, tagtäglich habe ich ihre Schreie gehört, weil sie solche Schmerzen hatte. Die Chemotherapie, die Bestrahlungen. Das alles habe ich mitbekommen! Ihre Diagnose war überhaupt der Grund weswegen ich diesen Beruf gewählt habe! Ich habe sie nicht umgebracht, ich habe sie nach acht Jahren Leid erlöst, weil sie mich darum gebeten hat!“ Maries Gesicht war plötzlich puterrot. Tränen liefen ihr über die Wangen. „Und genau das ist der Punkt, ich bitte dich nun auch darum meine Tante zu erlösen!“ Das Wort erlösen, setzte Justus mit seinen Fingern in Anführungsstriche. Klar, er wollte an das Geld. Das hatte rein gar nichts mit Erlösung zu tun! Die Tat von Marie war aus purer Nächstenliebe geschehen. Liebe zu ihrer Großmutter, die sie zum Teil mit aufgezogen hatte, wenn ihre Mutter mal wieder einen neuen Kerl angeschleppt hatte, mit dem es wieder Stress gab. Die Tat bereute Marie nicht. Es war so mit ihrer Großmutter abgesprochen gewesen. Sie wollte nicht mehr und sie hatte auch keine Kraft mehr. Ihre Oma wollte endlich wieder zu ihrem Opa! Sie würde niemanden töten! Aber was wäre, wenn sie es nicht tat? Sie würde ganz leicht an das Morphin kommen. Sie besaß einen Schlüssel zu dem Schrank in dem es aufbewahrt wurde. Es wäre ein Leichtes eine Infusion damit zu versetzen. Es wäre ein Leichtes sich in das Einzelzimmer zu schleichen und die Infusion gegen die die momentan hängt zu tauschen. Dann würde sie frei bleiben. Sie müsste nicht in ein Gefängnis gehen. Sie könnte ihren Job weiter ausführen. Alles würde beim Alten bleiben. Bis auf die Tatsache, dass sie einen Menschen umgebracht hätte… „Auf welchem Zimmer liegt deine Tante?“, stieß Marie nun hervor. „Zimmer 319, ist am Ende des Flurs, das Dienstzimmer ist von dort aus nicht einzusehen.“ Mit einem triumphierenden Lächeln scharwenzelte er um Marie herum. „Ich weiß wo Zimmer 319 ist!“, antwortete Marie genervt. „Ich werde nach unserem Dienst zu ihr gehen, okay? Und dann lässt du mich in Ruhe und löscht diese Bilder! Und dieses Handy wird vernichtet!“, sie winkte mit dem Handy und ihr Gesicht war immer noch so rot wie Feuer. „Ja, alles gut, so machen wir`s! Wenn du deinen Job erledigt hast, lösche ich alles in deinem Beisein!“, Justus machte das Victory Zeichen und machte kehrt. Marie blieb noch einen Moment an der frischen Luft stehen. Was sollte sie nur tun? Ihr Gewissen machte sie fertig… Hatte sie ein Gewissen? Sie hatte ihre Großmutter umgebracht… Aber Marie wurde schließlich von ihr darum gebeten…

 

Maries Knie waren schwer als sie durch das denkmalgeschützte Treppenhaus in die dritte Etage des Elisabeth Krankenhauses ging. Sie war nicht mehr weit vom Zimmer 319 entfernt. In ihrer rechten Hand die Infusion mit dem Morphin. Dieser Weg kam ihr heute endlos vor, so als käme sie gar nicht von der Stelle. Aber sie war getrieben von Angst, weil sie nicht mehr anders aus dieser Situation zu kommen schien, weil sie nicht wusste ob Justus wirklich Wort hielt, weil sie nicht wusste wie es weiter gehen sollte. Vor ihr lag ein Leben in der Freiheit! Marie klopfte an die Tür von Zimmer 319 und schloss dann die Tür von innen. Als sie in das Zimmer trat fiel ihr Blick auf die alte Frau, die selig in ihrem Krankenbett lag und schlief. Ihr Blick schweifte weiter durch das Zimmer und blieb am Nachttisch hängen. Dort auf dem Nachttisch lag, glitzernd in der Oktobersonne, ein goldenes Medaillon. Marie stand neben dem Krankenbett, den Infusionsbeutel in der rechten Hand.

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