JannikaSchattenseiten

                                             Kapitel 1

 

Die schwere Wagentür seines Postautos quietschte beim Öffnen.

Viele würden es als ein störendes Geräusch empfinden, doch ihn beruhigte es irgendwie. 

Er mochte seinen Beruf, auch wenn es für viele Menschen ein selbstverständlicher, kaum wahrnehmbarer Beruf war und man nicht große Aufstiegschancen vorweisen konnte, so hatte er doch seinen Reiz.

Denn wer würde schon einen Postboten verdächtigen?

Sie sind zwar immer da und präsent, aber dennoch haben sie durch ihre Regelmäßigkeit und Normalität eine gewisse Unscheinbarkeit.

Dies genoss er auch sehr. Einfach nicht aufzufallen, „normal“ zu sein.

Wobei man nicht wirklich sagen könnte, dass er im Privatleben eine auffällige Person wäre. Ihn würde man als den, gesellschaftlichen festgelegten, typischen Standardbürger beschreiben, der immer freundlich und diskret ist, aber nie so das es komisch wirken würde. Einer der für alles ein geregeltes Mittelmaß gefunden hat und sich nichts  zu Schulden lassen kommen würde.

Ein angenehmer Zeitgenosse sozusagen, der nicht sonderlich auffällt, aber dennoch wahrnehmbar  ist.

Vielleicht war er auch deshalb bei seinen Mitmenschen einer der gern gesehenen Postboten, die an Festtagen immer ein kleines Geschenk mit etwas Trinkgeld bekamen. Einfach weil die Leute für sie eine gewisse Sympathie und ein vertrautes Gefühl entwickelten. 

Er konnte es auf eine gewisse Art und Weise verstehen, denn schließlich belieferte er seit Jahren dieselbe Gegend und seine Route hatte sich deshalb auch nie groß verändert. Für den ein oder anderen mag es eintönig und langweilig klingen, doch ihm gab es Sicherheit. Sicherheit die er ganz dringend brauchte.

Jetzt war er erstmal damit beschäftigt ein großes Paket aus dem Wagen zu hieven. Er betrachtete die Adresse des Pakets. „Achim Brandt, Gladiolenweg 35A“, stand auf dem Aufkleber.

Komisch, die Adresse kenne ich noch gar nicht. Habe ich sie schonmal beliefert?

Er sah sich um. Nein, tatsächlich hatte er in den ganzen letzten Jahren noch nie eine Auslieferung für diese Adresse gehabt. Allerdings kam ihm der Name recht bekannt vor, aber da es kein außergewöhnlicher Name war, kann das gut sein, dass er ihn früher auf einer anderen Route vielleicht schon mal gehört hatte.

Die Hausnummer fand er relativ schnell. Es war ein kleines Haus, versteckt auf einem Hinterhof, sodass es von der Straße aus sehr unscheinbar wirkte und man schon zweimal hingucken musste, um einen kleinen Teil des Hauses zu sehen. Soweit er wusste, hatte es jahrelang leer gestanden, weshalb es ihm auch plausibel erschien, dass er noch nie eine Lieferung für diese Adresse hatte. Er stemmte das Paket vor die Haustür. Als er gerade klingeln wollte, bemerkte er ein Smartphone, was ordentlich auf der Fußmatte drapiert war.

Merkwürdig. Hatte es jemand dort verloren?

Er beschloss, erst einmal zu klingeln. Vielleicht konnte ihm ja der Herr Brandt weiterhelfen, zu wem es gehörte.

Auf jeden Fall würde er ihn darauf aufmerksam machen.Doch es rührte sich nichts. Er hörte nur das klassische Leuten der Klingel, aber die Geräusche von Türen, Schritten oder anderweitiges Getöse blieben aus. 

Vielleicht schläft er ja?

Eigentlich unwahrscheinlich, denn es war bereits früher Nachmittag, doch als Postbote hatte er schon viel erlebt und dass die Menschen zu unterschiedlichsten Zeiten schliefen oder ein so genanntes Nickerchen machten, war häufiger der Fall als man es vielleicht denkt.

Oder ist er gar nicht zu Hause? Ist er vielleicht auf der Arbeit oder beim Einkaufen oder anders unterwegs?

Das passierte ebenfalls recht häufig und dennoch hasste er es immer noch nach all den Jahren, Pakete einfach so abzustellen.

In der Hoffnung, dass Herr Brandt wirklich nur schlief, klingelte er erneuet, doch wieder regte sich nichts. Als er sich gerade nach einem geeigneten Platz für das Paket umsehen wollte, fiel ihm plötzlich ein kleiner gelber Notizzettel ins Auge, der an der  Haustür klebte und ihm zuvor gar nicht aufgefallen war. 

Er überlegte kurz und nahm ihn schließlich ab, um ihn zu lesen, da bemerkte er ein ungutes Gefühl im Magen.

Darf ich es überhaupt lesen? Womöglich ist es ja gar nicht an mich gerichtet?

Aber vielleicht ist es auch eine Information, wo ich das Paket abstellen soll?

Und wenn schon, damit muss der wehrte Herr eben rechnen, wenn er einfach so einen Zettel an seine Tür klebt.

Er begann zu lesen und schon nach dem ersten Satz, den er laß, verschlug es ihm die Sprache. Sein Magen drehte sich um und er verkrampfte sich am ganzen Körper und fing an zu zittern.

„Hallo Tobias, du kennst mich zwar nicht, aber dafür kenne ich dich!…“ lautete die erste Zeile die mit etwas verschmierter Schrift auf den gelben Zettel geschrieben war.

Woher kannte er seinen Namen und wieso, besser gesagt woher kannte er ihn???

Er wartete bis sich der erste Schock etwas gelegt hatte und beschloss weiterzulesen:

„… Du fragst dich jetzt sicherlich woher, doch dazu später mehr, lieber Tobias. Das Smartphone, was vor deinen Füßen liegt, ist für dich bestimmt. Öffne bitte die Galerie und schaue dir die Bilder an. Ich werde dir im Laufe des Tages Nachrichten schicken mit weiteren Informationen,Fragen und Antworten.“

Was zum Teufel?…

Was soll das alles bedeuten? Was für Bilder und wer zur Hölle ist dieser Achim Brandt?!

Ein Gefühl von Angst machte sich in ihm breit. Er fing an zu schwitzen und sein Puls fing an sich zu beschleunigen. Möchte er wirklich wissen, was er da zu sehen bekommt?

Ja, denn seine Neugierde war jetzt ebenfalls geweckt.

Mit zitternden Händen nahm er das Handy und setzte sich vor die Tür.

Er konnte es problemlos öffnen, denn es war mit keinem Code oder ähnlichem gesichert .

Es befand sich allem Anschein nach noch im Werkszustand. Der Hintergrund stellte ein schlichtes Bild vom Meer dar, was ein typisches Standardhintergrundbild war und er konnte auf den ersten Blick keine persönlichen Einträge oder neu hinzugefügte Apps erkennen. Auch die Kontakte waren nur mit den Standardkontakten, wie dem ADAC-Pannenservice ausgestattet. SMS und Anrufverläufe waren leer. 

Also gut, dann werde ich mal die Galerie öffnen.

Es befanden sich fünf Bilder in der Galerie und bei ihrem Anblick erstarrte Tobias. Ihm wurde ganz flau im Magen.

Das kann…, nein das darf nicht wahr sein! 

Woher hatte dieser Brandt diese Bilder von ihm?

Wut kochte plötzlich in ihm auf. Er war doch damals nicht zum Spaß umgezogen, hierhin in dieses kleine unscheinbare Dörfchen. 

Alles was ihm damals lieb war, hatte er verlassen müssen. Damals, in einem anderen Leben… Vor zehn Jahren. Er hatte alles hinter sich lassen müssen. Seine geliebte Kleinstadt, seine schöne Altbauwohnung Nähe Stadtzentrum, seine Arbeitsstelle und Sandra.

Moment Mal! 

Wie hieß Sandra noch gleich mit Nachnamen? Becker, Bender, Bauer, … Nein, so nicht aber es fing mit „B“ an…

Und dann traf es ihn plötzlich wie ein Schlag ins Gesicht. 

BRANDT

Er schauderte. 

Sandra Brandt war damals seine Geliebte gewesen. Die Beziehung zu ihrem Mann war etwas schwierig, denn er wurde ihr gegenüber oft gewalttätig. Dies geschah aufgrund eines nicht verarbeiteten Kindheitstrauma seinerseits, weshalb er während ihrer Beziehung selbst zum Täter wurde. Es hatte nie jemand etwas dagegen unternommen, weil Sandra sich stets sehr bemühte es geheim zu halten. Bis zu dem einen Tag an dem sie es nicht mehr verheimlichen konnte, da es sie sonst ihr Leben und das ihres ungeborenen Kindes gekostet hätte. 

An diesem besagten Tag hatte er sie wieder geschlagen, wobei sie unglücklich fiel und sich schwere Verletzungen, wie Rippenfrakturen und eine Lungenprellung zuzog. 

Man nahm ihren Mann daraufhin fest und kam zu der Erkenntnis dass er gar nicht zurechnungsfähig war, woraufhin er in eine geschlossene Psychiatrie eingewiesen worden ist.

Und wenn er sich richtig erinnerte hieß er Achim. Achim Brandt.

Aber das kann nicht wahr sein!

Tobias hatte ihn in der Vergangenheit vielleicht mal flüchtig gesehen, aber wirklich unterhalten hatten sie sich nie. 

Doch woher kennt er meinen Namen? Und woher weiß er, dass ich hier arbeite und vor allem hier wohne?

Er beschloss, sich die Bilder noch einmal genauer anzuschauen und ihm wurde bewusst, dass sein dunkles Geheimnis, welches er nur mit Sandra teilte, mittlerweile kein Geheimnis mehr war.

                                               Kapitel 2

Inzwischen saß Tobias wieder in seinem Postauto. Er musste das ganze einfach sacken lassen. Seine Vergangenheit, die er in den letzten Jahren beruhigt hinter sich lassen konnte, hatte ihn eingeholt, so viel stand fest. Seine Gedanken kreisten wild umher, sodass Tobias gar nicht bemerkte, wie sehr er in sie verwickelt war, bis ihn plötzlich eine Vibration gefolgt von einem pfeifenden, schrillen Ton aus seiner Gedankenwelt riss. Ihm fiel auf, dass er das Handy fest umklammert in den Händen hielt und begann, es vorsichtig zu drehen, sodass er das Display erkennen konnte.

Auf dem Display war ein Banner zu sehen, das ihn auf eine neue Nachricht hinwies. Seine Übelkeit trat schlagartig zurück. Behutsam entsperrte er den Bildschirm und öffnete die Nachricht.

„Hallo Tobias!

Ich hoffe, du hast die Bilder gefunden und sie dir gut angesehen. Gefällt dir, was du dort siehst?“

Ob die Bilder mir gefallen?

Naja, er musste schon zugeben dass sie ihm in irgendeiner Art und Weise gefielen. Zumindest hätten sie es früher weitaus mehr getan, doch nach seiner jahrelangen Therapie und dem Neuanfang in seinem Leben schockierten diese Bilder ihn viel mehr, als dass sie ihm gefallen würden.

Aber das war ja nur der Anfang der Nachricht, also beschloss er weiterzulesen.

„…Du fragst dich jetzt sicherlich, woher ich sie habe. Nun ich muss dir leider mitteilen das Sandra vor rund einer Woche von uns gegangen ist.“

Er erstarrte.

Nein, das… Das kann nicht wahr sein.

Auch wenn es bereits zehn Jahre her war und sie sich seit dem aus den Augen verloren hatten und man anmerken muss, dass Sandra auch nur eine von vielen seiner Affären war, die er zu dem Zeitpunkt hatte, traf es ihn trotzdem, diese Nachricht zu lesen. Denn sie war anders. Einfach eben besonders. Schließlich hatte er wegen ihr überhaupt erst die Therapie begonnen. Wegen ihr hatte er die Chance ergriffen, in seinem Leben neu anzufangen und aus seinen Fehlern zu lernen.

Doch wieso war sie jetzt tot? Sie war doch nur drei Jahre jünger als er selbst und er war erst letzte Woche 38 geworden .

Vielleicht steht es ja in der restlichen Nachricht…

Er fokussierte sich wieder auf den Text.

„Sie hat sich das Leben genommen. Es war kein Unfall oder eine unheilbare Krankheit, nein. Sie hat sich dazu entschieden, alles zu beenden. Und DU, lieber Tobias, bist daran Schuld.“

Das war´s. Mehr hatte dieser Achim nicht geschrieben.

Tobias merkte, wie sehr er zitterte und schwitzte. Ihm hatte es komplett die Sprache verschlagen. 

Sie hat sich umgebracht… wegen mir? Aber wieso? Was habe ich damit zu tun? Wegen der Sache damals? Nein, das kann nicht sein, denn schließlich war es doch ihr Wunsch gewesen! 

Seine Gedanken rasten wild umher.Was hat das alles zu bedeuten und was will dieser Achim von mir? 

Wie viel weiß er? 

Völlig gedankenverloren saß Tobias auf seinem Sitz und starrte ausdruckslos auf sein Lenkrad. Er hatte sich lange nicht mehr so mies gefühlt wie gerade. So viele verschiedene Gefühle kamen abwechselnd in ihm hoch. Angst, Wut, Trauer, Ekel, Schock, Ungewissheit. Seine Gefühle wechselten im Minutentakt und wieder einmal riss ihn ein plötzliches Geräusch aus seiner Gedanken- und Gefühlswelt. Diesmal war es aber kein Handyton, der ihn zusammenzucken ließ, sondern ein Klopfen an seiner Fensterscheibe.

Er sah eine ältere zierliche Dame mit schulterlangen grauen Haaren die ihn lieb anlächelte, aber in ihrem Blick erkannte er einen Hauch von Sorge. Tobias kannte diese Frau; es war Frau König, die seit Jahren zu seinen Stammkundinnen gehörte und er hatte sie auch mittlerweile ein wenig in sein Herz geschlossen, da sie so eine liebe und ruhige Art an sich hatte, die er sehr zu schätzen wusste.

Manchmal, wenn er Zeit hatte, unterhielten sie sich und als sie einmal mit einem gebrochenen Bein das Bett hüten musste, hatte er regelmäßig für sie eingekauft und sie ab und an mal besucht. Obwohl er dabei sehr viel über sie erfahren hatte, wusste sie nur das nötigste von ihm. Aber das störte sie nicht, denn sie war froh, dass sie überhaupt jemanden hatte, der sich um sie sorgte und ihr ein offenes Ohr schenkte.

Tobias drückte langsam auf den Knopf, der das Fenster öffnete.

„Hallo Herr Neumann, ist alles gut bei Ihnen?“, ihre Stimme klang sanft und ein wenig unsicher.

Wie lange stehe ich hier schon?

„Ehm, ja. Ja, bei mir ist alles gut … ich eh… also ich… ich habe gerade nur etwas… also etwas nachgeschaut.“

Er krächzte beim Sprechen. Es fühlte sich so an, als hätte er einen dicken Kloß im Hals.

„Achso, kann ich Ihnen denn dabei in irgendeiner Form behilflich sein? Sie stehen hier nämlich schon eine ganze Weile und ehrlich gesagt scheinen Sie mir etwas angeschlagen, also ich möchte Ihnen selbstverständlich nicht zu Nahe treten, aber Sie schauen so aus als hätten Sie gerade einen Geist gesehen.“

„Nein… schon gut, aber trotzdem danke.“

Er hatte sich wieder etwas gefangen. Zumindest was das Reden betraf, konnte er immerhin wieder etwas gefasstere Antworten geben.

„Na gut.“, Frau König klang nicht sonderlich beruhigt oder zufrieden, aber sie akzeptierte seine Antwort und fügte noch hinzu:

„Ich weiß das Sie nicht gerne über sich sprechen, was ich natürlich auch akzeptiere, aber falls Sie Ihre Meinung ändern sollten und doch noch meine Hilfe beanspruchen möchten, haben Sie ja meine Nummer. Ich bin jetzt erst einmal los und mache mich auf den Weg zum Einkaufen. Machen Sie es gut“, sie schenkte ihm noch ein flüchtiges Lächeln und ging dann davon ohne überhaupt erst eine Reaktion von ihm abzuwarten. Das schätzte er ebenfalls an ihr. Sie wusste, wann man ihn besser alleine ließ und wann man ihm seinem Raum lassen sollte, was eigentlich fast immer so war.

Er schaute auf das Handydisplay um zu sehen wie spät es bereits war. 

Ach du scheiße!Zwanzig Minuten waren bereits vergangen. Wie sollte er mit dieser Verzögerung seinen Zeitplan weiter einhalten können? Das ist nicht mehr möglich und dazu war er auch gar nicht mehr in der Lage. Er fühlte sich auf einmal unfassbar müde und erschöpft und am liebsten würde er sich einfach nur noch übergeben und danach schlafen.

Was mache ich jetzt nur? 

Vielleicht schaffte er es noch, seine Route zu beenden, aber in dem Zustand und der Gewissheit, dass es nicht die letzte Nachricht von Achim war, entschied er sich dazu, dass es keine so gute Idee war. 

„Das Zauberwort lautet Selbstfürsorge! Bestehend aus der Frage: Was würde mir gerade gut tun ? Und damit meine ich etwas konstruktives und wohltuendes und nichts was Ihnen schadet.“

Tobias hatte auf einmal die Stimme seines Therapeuten im Kopf, der ihm im Laufe der Zeit viele solcher Ratschläge, wie diesen gegeben hatte, damit er nicht rückfällig wird.

Irgendwo hatte er doch sein Handy hingelegt. Er schaute sich um und fand es dann schließlich in seiner Hosentasche und beschloss sich kurzfristig bei seinem Chef krank zu melden und seinen Kollegen anzufragen, ob er seine Lieferung beenden könnte.

Gesagt, getan. Zum Glück hatte er einen netten und verständnisvollen Chef und so war es kein Problem. Sein Kollege war innerhalb von fünfzehn Minuten da. Er wohnte glücklicherweise in der Nähe.

„Hey Mann, was´n mit dir los? Du siehst echt net gut aus.“

Mir geht es auch nicht gut. Wie auch?  Mich hat ein alter Bekannter, wobei das eigentlich schon zu hoch gegriffen ist, kontaktiert und ist dabei mich mit meiner dunklen Vergangenheit, von der ihr nicht mal ansatzweise einen Plan habt, zu konfrontieren und ich weiß nicht, was er von mir will. Ach und nebenbei habe ich eben erfahren, dass eine mir damals sehr nahe stehende Person sich das Leben genommen hat.

Aber das konnte er natürlich nicht so sagen. 

Stattdessen antwortete er nur: „Hallo Heiko, ja ich glaube ich habe mir irgendetwas eingefangen. Ich muss mich einfach ein bisschen auskurieren.“

„Najut, wenn de meinst. Jute Besserung! Kommst de jut nach Hause?“

„Ja, ich nehme den Bus.“

„Alles klaro, bis denne.“

Heiko stieg in den Postwagen ein, lächelte ihm noch einmal zu und setzte die Tour fort. 

                                              Kapitel 3

Irgendwie hatte es Tobias geschafft in seine Wohnung zu gelangen. Als er ankam ließ er die Tür ins Schloss fallen und setzte sich auf sein Sofa, ohne sich groß auszuziehen. Seine Wohnung war zwar klein, aber er hatte sie sich rustikal und gemütlich eingerichtet und fühlte sich hier sicher und geborgen. 

Er schaute sich noch einmal genau die Bilder an, die Achim ihm hinterlassen hatte.

Die Bilder passten wie eine Serie aneinander und stammten offensichtlich aus einem Video.Natürlich kommen sie aus einem Video. Du hast es damals noch gesehen.

Doch dieses hatte Sandra damals gelöscht, nachdem sie es gefunden hatten. Da war er sich sicher, denn schließlich war er dabei gewesen.

Genau, wie auf den Bildern.

Sie zeigten nämlich Sandra und ihn! 

Im ersten Bild standen sie beide gebeugt über einem Kinderbett, wo auch ein kleines, höchstens sechs Monate altes Kind drinnen lag. In den nächsten beiden Bildern sah man dann wie er und sie abwechselnd ein Kissen auf das Gesicht des Babys pressten.

Das vierte Bild zeigte wie Tobias das Kind hochnahm und es schien so, als würde Sandra den Puls des Kindes tasten. Im letzten Bild sahen dann beide direkt in die Kamera, wobei man erkennen konnte, dass beide ziemlich fertig aussahen. Sandras Augen waren von dunklen Ringen umrundet und er sah sehr blass und schweißgebadet aus. Aber man konnte sie beide eindeutig identifizieren.

Scheiße, was hat er nur damit vor?

Wollte er ihn etwa anzeigen? Was wusste er noch? 

Für einen kurzen Augenblick überlegte Tobias, ob er mal eine Nachricht an Achim schicken sollte, doch das war gar nicht mehr nötig. Er spürte, wie das Handy wieder zu vibrieren begann, doch diesmal war es länger und der Ton hielt auch an. 

Ein kurzer Blick auf das Display verriet ihm, das gerade ein Anruf von einem unbekannten Teilnehmer einging. Sollte er rangehen?

Vielleicht würde er dann ja die Chance bekommen, selber fragen zu stellen. Langsam bewegte er seine Finger zum Bildschirm, um den Anruf entgegen zu nehmen. Er fröstelte am ganzen Körper.

„Hallo?“, Tobias Stimme klang brüchig und sehr leise, was eigentlich untypisch für ihn war.

„Hallo Tobias, hier ist Achim. Ich dachte es wäre vielleicht einfacher, wenn wir mal persönlich sprechen würden, anstatt die ganze Zeit Nachrichten hin und her zu schicken.“ überraschender Weise hatte Achim eine deutlich angenehme und warme Stimmfarbe, anders als Tobias es sich vorgestellt hatte. Ja, es hatte fast schon etwas beruhigendes an sich. Doch die Fassung, die er in seinem Sprechen hatte, machte ihn ein wenig nervös. Es hatte etwas unheimliches an sich.

„Was wollen Sie von mir?“, Tobias entschied sich dazu gleich zur Sache zu kommen.

„Ach Tobias, kannst du dir das nicht denken? Wobei, nein, wahrscheinlich nicht, denn ich habe mir sagen lassen, dass du ja nicht gerade die hellste Leuchte auf der Kerze bist, so ganz ohne Abschluss.“

Was zur H…. Woher wusste er so viel über ihn und offensichtlich über seine Vergangenheit?„Woher wissen Sie das?“

„Ich habe da so meine Kontakte…“, das stimmte…

Achims Vater war ein berühmter und erfolgreicher Anwalt. So brauchte er einfach dessen Kontakte ausnutzen, um Tobias durch einem Privatdetektiv beschatten zu lassen. Daher wusste er alles über ihn. Er wusste von seiner dunklen Vergangenheit, seiner Therapie und dem Neuanfang. Nur von dem dunklen Geheimnis hatte er schon bereits früher erfahren, nämlich nach Sandras Tod.

„…Und eines kann ich dir garantieren, Tobias, es sieht nicht gut für dich aus.“

„Heißt das Sie wollen mich anzeigen?“

„Aber mit Verlaub, das wäre doch zu einfach. Außerdem, wie du ja sicherlich weißt, bin ich auch nicht gerade sauber, aber lange nicht so schmutzig wie du mein Lieber.

Was hatte dieser Achim ständig mit diesem Wort? 

Ich bin nicht lieb, zumindest war ich es damals nicht. Aber das scheint er ja bereits zu wissen und ehrlich gesagt dieser ironische Unterton gefällt mir nicht.

Aber vielleicht hatte er auch die Absicht, Tobias damit zu provozieren.

Was sollte er jetzt tun?Was hatte Achim vor?

Tobias tigerte unruhig durch seine Wohnung.

Das darf alles einfach nicht wahr sein. Er war sich so sicher, dass sein Geheimnis sicher war und jetzt das. 

Als er nachdenklich aus seinem Wohnzimmerfenster starrte, sah er zwei Kinder, die in seiner Nachbarschaft wohnten und gerade im Garten spielten. Sie schubsten sich hin und her und es schien so, als würden sie sich anschreien.

Nachdem er den Kindern den Rücken zukehrte und sich wieder in die Richtung seines Sofas begab, merkte er, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wenn er sich nicht durch seine Wohnung bewegt hätte. Denn seine Gefühle fuhren Achterbahn und er merkte langsam aber sicher, wie ihm schwindelig wurde und der Druck in ihm stieg.

Nein, ich darf nicht rückfällig werden!

Eines war sicher: Achim wollte sich an ihm rächen, nur wie, wenn er ihn nicht anzeigen würde?

Erneut rasten seine Gedanken wild umher als ihn plötzlich ein heftiger Schmerz der Trauer durchrannte, als er an Sandra dachte.

Sandra, was hatte sie gemacht? Und wie hatte Achim davon erfahren?

Völlig zusammenhangslos fragte er deshalb:

„Wie ist Sandra eigentlich gestorben?“

Achim war für einen Augenblick lang ganz still.

Mit dieser Frage hatte er im Augenblick nicht gerechnet, vielleicht später, aber nicht jetzt. Vor allem nicht so plötzlich, so kontextlos.

Er merkte, wie er schlagartig traurig wurde. Alte Erinnerungen drängten sich an die Oberfläche seines Bewusstseins.

Nach seiner Entlassung vor drei Jahren hatte er sich mit ihr ausgesprochen und sie wollten ihrer Beziehung nochmal eine Chance geben, denn trotz allen Strapazen hatte er sie geliebt. Mehr als alles andere, doch beide merkten leider relativ schnell dass es keinen Sinn hatte. Sandra war innerlich zu sehr gebrochen und verletzt und er, er musste sich auch erstmal wieder neu sortieren. Sie blieben im Kontakt, aber dieser war eher so wie von zwei Bekannten. Ab und zu telefonierten sie mal oder trafen sich zum Essen, aber zu mehr kam es dann auch nicht.

Vielleicht würde es später wieder was werden.

Das hatte sich Achim immer wieder gesagt, doch es sollte kein später mehr geben. Als er dann letzte Woche die Nachricht von Sandras bester Freundin erhielt, traf es ihn wie ein Schlag. All seine Hoffnungen wurden zerstört. Sein Traum, die alten Pläne wieder aufzugreifen, kaputt, denn sie waren damals verlobt und hatten gemeinsam vor, sich eine Familie, ein gemeinsames Leben aufzubauen.Aber das würde jetzt nie wieder Thema sein.

Daher nahm es ihn sehr mit, als er von ihrem Tod erfuhr. Vor allem, wenn man bedenkt, dass er damals als Jugendlicher bereits seine Mutter bei einem Autounfall verloren hatte.

„Sie hat sich erhängt. Ihre Freundin Lena hat sie gefunden.“, antwortete er knapp.

„Wann?“

„Am 04.05.“

Das… Nein!

Tobias riss es den Boden unter den Füßen weg. Er war sprachlos.

Das darf doch alles nicht wahr sein…

Der 04.05. war sein Geburtstag. Sie hatte sich an seinem Geburtstag aus dem Leben verabschiedet…Aber warum ausgerechnet da? War das ihre Absicht? Wollte sie ihm damit irgendetwas mitteilen?

In seiner Fassungslosigkeit und seinem Gefühlschaos ergriff Achim wieder das Wort: „Ich weiß, dass das dein Geburtstag ist, Tobias…“

Seine Stimme klang sanft, fast schon ein wenig mittleidig, doch dann schlug sie auf ein Mal in Wut um. Er schrie fast als er sagte: „Hast du dich nie gefragt, wie es ihr mit eurem dreckigen Geheimnis ging?! Das sie es vielleicht gar nicht wollte? Natürlich wollte sie es nicht! Verdammt nochmal; SIE WOLLTE ES NICHT! Und du Penner hast sie dazu animiert!“

„Also, so… So kann man das nicht… es war nicht…“

Tobias fehlten die Worte. Ihn erschreckte Achims plötzlicher Wutausbruch. 

Außerdem machten ihn die Vorwürfe, die ihm entgegen gebracht wurden, ebenfalls sauer.

Es war nicht allein seine Schuld!

Ja, er musste zugeben, dass er seinen Anteil dazu beigetragen hatte, aber sie wollte es doch. Sie hatte ihn doch erst überhaupt auf die Idee gebracht.

Was weiß Achim, was ich nicht weiß? Hat sie im Laufe der Zeit vielleicht ihre Meinung geändert?

Denn das konnte er nicht wissen. Er wusste nicht wie es ihr später, besser gesagt, im Laufe der Zeit damit erging. 

Damals, nachdem sie beide wieder bei klarem Verstand waren und sich dazu entschieden hatten, das Video zu löschen, haben sie beschlossen, dass es das beste wäre, wenn sie ihre Affäre beenden würden. Und ihre grauenhafte Tat ein dunkles Geheimnis bleiben würde.

Das hatte Tobias dann auch drei Wochen später dazu bewegt, umzuziehen; in eine rund 200 km entfernte, etwas ruhigere Gegend und da hatte er sich dann ein neues Leben aufgebaut, eine Therapie begonnen und seine Vergangenheit hinter sich gelassen.

Tatsächlich hatte er in all den Jahren nichts mehr von Sandra gehört und es auch nicht für nötig gehalten, sich bei ihr zu melden. Schließlich wollte er ja mit allem abschließen und er war der festen Überzeugung, dass ihr Geheimnis sicher war. Und sie damit irgendwie auch zurecht kommen konnte, da es ja auch ihr Interesse gewesen war.

Doch anscheinend war das ab einem gewissen Zeitpunkt nicht mehr der Fall gewesen.

 Oh Gott, wie viele wussten denn noch davon?

„Woher weißt du eigentlich, dass sie es nicht wollte?“

Tobias fiel gar nicht auf, dass er Achim mittlerweile nicht mehr siezte, sonder ins „du“ verfallen war.

„Ich weiß es einfach! Und DU wirst dafür bezahlen!“

Mit diesen Worten beendete Achim abrupt das Telefonat.

Ihm war das alles zu viel. Er kochte vor Wut. Was fiel diesem Tobias eigentlich ein? Bereut er seine Tat denn überhaupt nicht? Ist es ihm egal, dass er damals mehrere Leben zerstört hat?

Offensichtlich.

Achim fühlte sich mit einmal unglaublich schwer und setzte sich auf den Küchenboden. Er befand sich in dem kleinen Haus, welches er einst mit Sandra bewohnt hatte.  Sie hatten es sich vor rund elf Jahren kurz nach ihrer Verlobung gekauft und eigentlich hätte es nicht besser laufen können, doch dann nahm das tragische Schicksal seinen Lauf.

Mittlerweile hatte er zwar verstanden, wie es dazu kam, doch das machte den Gedanken daran nicht weniger schmerzhaft. In seiner Kindheit wurde Achim stark gemobbt. Er weiß bis heute nicht genau warum. Ob es an seiner hohen Intelligenz lag, die ihn so besonders und streberhaft wirken ließ, oder an seinen Tagträumen, in die er oft fiel, um dann in seiner eigenen Welt zu leben. Vielleicht eine Mischung aus beidem, dabei konnte er nichts dafür, dass ihm das Lernen so leicht gefallen war und er auf Grund dessen bei den Lehrern so beliebt war. Auch seine Tagträume hatten für ihn eine Schutzfunktion. Er konnte damit der schmerzhaften und tristen Realität entfliehen. Deshalb hatte er sich oft vorgestellt, wie es in einem anderen Leben wäre. In einem Leben, in dem er nicht jeden Tag mit Bauchschmerzen zur Schule ging. In einem Leben indem er respektiert und geschätzt werden würde, für die Person, die er war und er nicht jeden Tag Beleidigungen, dumme Sprüche oder anderes ertragen musste.

In einem Leben indem er sich nicht in den Pausen auf der Toilette verstecken musste, damit er seinen Tränen, die er nicht mehr unterdrücken konnte, freien Lauf lassen konnte.

Doch das genaue „Warum“ spielte für ihn keine Rolle mehr, aber die Tatsache, dass es so war, die tat es. Denn diese Zeit bereiteten ihm einige schmerzvolle Jahre, in denen er sich oft nachts in den Schlaf weinte. 

Einmal wurde er sogar verprügelt, sodass er einen gebrochenen Arm und ein blaues Auge davon trug. Doch er hatte es verschwiegen. Hatte allen, sogar seinen Eltern, erzählt, dass es ein Unfall war, weil er die Hoffnung nicht aufgegeben hatte, vielleicht doch eines Tages dazu zu gehören.

Es war eine wirklich harte Zeit und als er dann noch mit zwölf Jahren so plötzlich seine Mutter verloren hatte, dachte er er würde nie wieder glücklich werden können.

Sein Vater war ein gefühlskaltes Arbeitstier, was nicht immer so war. Früher da war er sehr liebevoll, doch nachdem seine Frau Opfer eines illegalen Autorennens wurde, hatte er sich schlagartig verändert und irgendwo in dieser Zeit hatte er seine Gefühle verloren. So hatte sein Vater seine Trauer kaum bemerkt, weshalb Achim sich seinen eigenen Weg suchen musste, mit seinen Gefühlen umzugehen. Er machte vieles mit sich alleine aus, doch irgendwann hatte er all sein Leiden und seine Überforderung in Aggressionen und Aufmüpfigkeiten umgeleitet. 

Einfach, weil es ihm das Gefühl gab, stark zu sein.

Das ging solange gut bis er auf Sandra traf.

Denn sie verschreckte Achims Verhalten am Anfang sehr, doch Sandra sah mehr in ihm als den „harten Schläger“ und ließ sich auf ihn ein unter einer Bedingung: Er musste sein aggressives Verhalten in den Griff bekommen. Achim war sofort dazu bereit gewesen, denn als er sie kennenlernte, hatte er das Gefühl, endlich wieder lachen zu können und ihm wurde bewusst dass er es irgendwie schaffen musste sich zu ändern, koste es was es wolle. 

Tatsächlich hatte er es vier Jahre lang geschafft. Er hatte eine Therapie begonnen und irgendwie funktionierte alles, doch es hielt nur solange an bis sie zusammen in das neu gekaufte Haus zogen. Achim war damals sehr übermütig gewesen, was dazu geführt hatte, dass er seine Therapie vorzeitig abbrach. Er war sich so sicher gewesen, alles im Griff zu haben, und hatte deshalb auch seine wirklich schweren seelischen Verletzungen kaum angesprochen.

Doch mit dieser Überzeugung fiel er sehr tief.

Er hatte sich ein klares Bild erschaffen, eben einen exakten Plan für sein Leben, besser gesagt für IHR Leben. Das führte dazu, dass er von Sandra Sachen forderte, die sie nicht erfüllen konnte. Er zwang sie in eine Rolle hinein, die sie nicht ausfüllen konnte, weil sie das einfach nicht war.

Er schrieb ihr alles vor; was sie anziehen sollte, was und wieviel sie essen sollte, wie sie ihre Freizeit zu gestalten hatte und mit wem sie Kontakt haben durfte.

Mit der Zeit wurde ihr es zu viel… All diese Einschränkungen und Vorschriften setzten ihr zu. Zumal Achim sich das Recht rausgenommen hatte, zu tun und zu lassen, was er wollte. So kam es dazu, dass sie immer häufiger stritten und er aus seiner Überforderung heraus ihr gegenüber immer gewalttätiger geworden ist.

Als Sandra dann schwanger wurde, kam es erneut zu einem Streit. Genau genommen zu dem besagten Streit an dem einen Tag. Sie hatte ihn ein Ultimatum gestellt: Entweder er würde sich ändern oder sie würde ihn anzeigen, was sie zwar viel Überwindung gekostet hätte, doch sie wusste sich in ihrer Verzweiflung nicht anders zu helfen.

Nachdem Sandra im Krankenhaus behandelt worden ist, wurde Achim in die Psychiatrie eingewiesen. Dort hatte er eine Therapie angefangen, um seine Vergangenheit aufzuarbeiten, um dann letzten Endes damit abzuschließen. Außerdem hatte er auch gleich dort seine Haftstrafe auf Grund schwerer Körperverletzung abgesessen.Sandra hatte in der Zeit einen gesunden Jungen zur Welt gebracht, der im Alter von fünf Monaten dann am plötzlichen Kindstod verstarb.  

Zumindest wurde es  damals Achim so von seinem behandelnden Therapeuten mitgeteilt. Weshalb sie sich dann auch diesem schweren Verlust in seiner Therapie gewidmet hatten, doch mittlerweile wusste Achim dass es kein plötzlicher Tod seines Sohnes war…

Denn es war ein grausamer Mord. Ein Mord den Sandra und Tobias gemeinsam begangen hatten.

Und es war jetzt seine Aufgabe, nein eher seine Pflicht, Tobias dafür büßen zu lassen.

Also stand er vom Boden auf, nahm seine Tasche und verließ das Haus…

                                                Kapitel 4

Fassungslos starrte Tobias auf sein Display. 

„Du wirst dafür bezahlen.“

Achims Worte rückten wie in einer Dauerschleife immer und immer wieder in den Vordergrund seiner Gedanken.

Was hatte Achim vor? Würde er Tobias anzeigen? Oder würde er ihm fortan das Leben zur Hölle machen?

Was es auch war, fest stand, dass Tobias etwas dagegen unternehmen musste, wenn er weiterhin in Ruhe leben wollen würde. 

Nur was?

Sollte er ihn nochmal anrufen? Ihm eine Nachricht schreiben oder lieber doch sich selbst bei der Polizei anzeigen? 

Er spürte wie der Druck in ihm stieg.

Nein ich darf nicht rückfällig werden.

Wichtig war, dass er einen klaren Kopf bewahren musste.

Luft, ich brauche frische Luft!

Tobias riss das Wohnzimmerfenster auf und streckte seinen Kopf hinaus. Die klare kalte Luft tat ihm gut, doch mit seinen Gedanken kam er immer noch nicht voran.

Ein Spaziergang würde mir jetzt gut tun.

Er schleppte sich in seine Garderobe und zog sich seine Jacke an. Sicherheitshalber hatte er sich auch noch einen Schal umgelegt, denn in den letzten Tagen waren die Temperaturen stetig gefallen.

Als er vor die Haustür trat, bemerkte er, dass es angefangen hatte zu schneien und es draußen langsam zu dämmern begann.

Jetzt aber schnell bevor es dunkel ist.

Vielleicht war es nicht die beste Idee, seine sicheren vier Wände in so einer Situation zu verlassen, doch wenn Achim offensichtlich so viel über Tobias Vergangenheit wusste, würde er auch mit Sicherheit seine aktuelle Adresse kennen. Zumal er ja auch bereits seinen Arbeitsweg kannte.

Er beruhigte sich mit dem Gedanken, dass Achim oder die Polizei ihn wahrscheinlich schneller in seiner Wohnung ausfindig machen würden als auf einem Spaziergang durch den Wald. Denn er bewegte sich gerade auf den Wald zu, der am Dorf angrenzte.

Tobias ging gerade einen kleinen Trampelpfad entlang als er plötzlich wieder so ein ungutes Gefühl im Magen bekam.

Irgendwie fühlte er sich beobachtet.

Stress machte sich in ihm bemerkbar, denn es erinnerte ihn an seine Vergangenheit.

Jetzt war er in diesem starren Tunnelblick gefangen und trat mit seinen Gedanken weg, was häufig so war, wenn er dieses Gefühl wie gerade hatte. So fiel Tobias gar nicht auf dass er gerade immer weiter in den dichten Wald hinein ging.

Ein Knacksen riss ihn aus seiner Gefühlswelt, gefolgt von einem Ruck.

Jemand hatte ihn von hinten gepackt und auf den Boden gerissen. Das alles passierte so schnell und unerwartet, dass er gar keine Zeit hatte zu reagieren. Tobias wollte schreien doch die Person hinter ihm verhinderte es, indem sie seinem Mund zuhielt.Er konnte nichts dagegen unternehmen. 

Durch die bereits eingetretene Dunkelheit konnte er seinen Angreifer noch nicht mal erkennen, geschweige denn überhaupt etwas sehen.

Krass, wie schnell es dunkel geworden ist.

Tobias bekam auch schlecht Luft, denn die Hand presste ihm immer noch den Mund zu. Zu seinem Erstaunen roch sie aber recht angenehm, irgendwie blumig, aber es war kein aufdringlicher Geruch eher dezent.

Der Duft kam ihm bekannt vor. Er wusste nicht wirklich woher, aber irgendwie hatte er etwas beruhigendes.

Aber dennoch verspürte er Angst. Sein Puls begann sich zu beschleunigen.

Wo werde ich hin gebracht? Was passiert hier mit mir?

Er fühlte sich machtlos. Und das gefiel ihm nicht, denn so hatte er sich lange nicht mehr gefühlt, so schwach und so verletzlich.

Sein Rücken schmerzte, denn der Unbekannte, der ihn auf den Boden gezwungen hatte, schliff ihn über den Waldboden, der nicht gerade weich war. Stellenweise ragten Wurzeln aus dem Boden, die ihm in den Rücken drückten.

Trotz der Schmerzen und dem hilflosen Gefühl, was sich ihn ihm breit machte, gab ihm seine Angst einen ordentlichen Adrenalinschub, was ihn dazu verleitete, zu versuchen, sich loszureißen und so begann er, um sich zu schlagen und zu strampeln, woraufhin der Angreifer ihn noch fester packte und Tobias sich eingestehen musste, dass dieser ihm offensichtlich körperlich überlegen war, weshalb er aufgab und das kommende Geschehen einfach auf sich zukommen ließ.

Nach einigen Metern kam dieser dann zu stehen und riss seinen Kopf empor. In der Ferne musste eine Laterne oder eine ähnliche Lichtquelle stehen, denn ein Lichtkegel gab nun etwas Sicht auf den Unbekannten frei.

Er sah einen ca. 1,95m großen, breit gebauten Mann vor sich stehen mit dunkelblonden Haaren und ozeanblauen Augen, wobei in dem einen ein brauner Fleck zu erkennen war. Irgendwie hatte es etwas Schönes an sich, aber der Blick des Mannes war alles andere als schön. Es war ein böses Funkeln, mit einem höhnischem und triumphierenden Lächeln darin.

„Hallo Tobias! Weißt du wer ich bin?“, die Stimme kam ihm sehr bekannt vor.

Das ist doch Achim!

Mittlerweile hatte Achim seine Hand von seinem Mund gelöst und drückte ihn nun mit beiden Händen auf den Boden.

Mit seinen schmächtigen 1,75m war Tobias ihm kräftemäßig deutlich unterlegen und er beschloss, sich der Situation einfach zu ergeben und auf den richtigen Moment zu warten.

„Achim!…“, er hatte große Mühe die Angst in seiner Stimme zu unterdrücken

„…wie hast du mich gefunden?“

„Ich habe das Handy orten lassen…“

Oh Gott!

Daran hatte er ja überhaupt nicht mehr gedacht. Als Tobias vorhin seine Wohnung verlassen hatte, nahm er das Handy mit. Er hatte es zuvor in seiner Hosentasche verstaut und gar nicht darüber nachgedacht, dass es seinen Standort verriet.

„… Nun Tobias du hast sicherlich einige Fragen, deshalb lass mich dir ein paar von ihnen beantworten…“

Achim machte eine kurze Pause. Er spürte ein Gefühl von Zufriedenheit, welches sich in ihm ausbreitete.

Bis jetzt lief alles nach seinem Plan. Und er war sich sicher, dass es auch so weitergehen würde.

„…Du musst wissen, Sandra hat ihre Tat bereut. Ich weiß es, weil ich nach ihrem Tod in unserem Haus, was sie bis zum Schluss bewohnt hatte, ihr Tagebuch gefunden habe. In ihm stand alles drin, Tobias. Und das Video lag auch anbei. Sie hatte damals eine Kopie davon angefertigt.

Ich weiß, dass ihr beide eine Affäre hattet seit ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus. Damals lagen wir nämlich auf deiner Route und so habt ihr euch kennen gelernt, nicht wahr?“

Achim wartete seine Antwort erst gar nicht ab, sondern fuhr gleich fort: „Du hast sie mit den Verbänden gesehen und sich nach ihr erkundigt und aus dem anfänglichen Small-Talk wurde dann mit der Zeit immer mehr. Ich weiß nicht, was sie an dir fand, doch es reizte sie und sie fühlte sich bei dir sicher und verstanden.

Vielleicht war es auch eine Schwäche, die sie hatte, für Männer mit einer harten Vergangenheit, die nicht ganz sauber waren. Ich meine, das ich nicht anders war, weißt du ja bereits von ihr und ich glaube sie hatte es sich als Aufgabe genommen das Beste aus ihnen beziehungsweise uns herauszuholen, wobei sie da bei dir als auch bei mir leider kläglich versagt hat.“

Tobias schauderte. Was wusste Achim alles über seine Vergangenheit?

„Anhand ihres Tagebuches und meinen Recherchen weiß ich über deine Geschichte  Bescheid, Tobias.

Wenn du nicht gerade für den Tod meiner zwei wichtigsten Menschen verantwortlich wärst, würdest du mir vielleicht sogar leid tun.“

Er wanderte mit seinem Blick ein wenig umher, so als müsste er sich einmal sammeln, bevor er weitersprach: „Ich weiß, dass du früh deine Eltern verloren hast. Nicht weil sie gestorben sind. Einfach weil sie nicht in der Lage waren, sich richtig um dich zu kümmern…“

Das stimmt.

Alte Erinnerungen keimten in Tobias auf. Seine Mutter war damals durch einen falschen Freundeskreis den Drogen verfallen. Aus einem One Night Stand heraus entstand dann Tobias. Sein Vater starb noch vor seiner Geburt an einer Überdosis und seine Mutter schaffte es irgendwie bis zu seiner Entbindung einige Monate clean zu bleiben, um dann nach seiner Geburt einfach da weiterzumachen, wo sie vor ihrer Schwangerschaft aufgehört hatte.

Von dem Tag an, als er auf diese Welt kam, wurde er ständig zwischen Pflegefamilien und Kinderheimen hin und her gereicht. Im Alter von dreizehn Jahren erlag er dann einem ähnlichen Schicksal wie seine Mutter. Er lebte zu dem Zeitpunkt in einem schwierigen Viertel einer Großstadt und geriet ebenfalls durch falsche Freunde an Drogen. Er war oft in Straßenschlägereien verwickelt, brach die Schule ab und war oft in Kliniken. Nach seinem achtzehnten Geburtstag schlug die Therapie endlich bei ihm an. Er zog um, raus aus seiner alten Stadt und weg von seinem gefährlichen Umfeld. Er machte einen Entzug, begann mit einer Therapie und hatte später die Chance, eine Ausbildung als Fachkraft für Postdienstleistungen anzutreten. Danach zog er in die Kleinstadt, in der er später auf Sandra traf, doch seine Vergangenheit hatte ihn damals wieder eingeholt.

„…Ich kenne deinen Weg und weiß, dass du es nach Jahren dann noch auf die richtige Bahn geschafft hast, doch kurz bevor du Sandra getroffen hast, bist du wieder rückfällig geworden…“

Das stimmte auch wieder. Seine Mutter hatte ihn zu dem Zeitpunkt ausfindig gemacht und versucht, Kontakt zu ihm aufzunehmen, den er aber gar nicht wollte. Tobias versank wieder in eine sehr depressive Phase, was dazu führte, dass er gelegentlich wieder rückfällig wurde, um einfach seiner neuen Arbeit und seinem neuem Leben stand halten zu können.

„… Sandra wusste davon, doch es störte sie nicht. Sie überredete dich sogar zu einer erneuten Therapie. Doch was sie schließlich zerbrach, Tobias, war die Nacht in der ihr meinen Sohn umgebracht habt!“

Achim schluckte. Tränen glitzerten in seinen Augen.

„Aber sie wollte es doch auch!“, protestierte Tobias.

Damals in der besagten Nacht, rief Sandra ihn weinend an. Ihre Nerven lagen blank. Sie war vollkommen alleine mit dem Baby und der Schmerz, den Achim ihr zugefügt hatte, saß noch tief. Das hatte sie Tobias auch erzählt. Denn sie wollte kein Kind von einem Schläger. Sie wusste nicht, wie es weitergehen sollte und war einfach maßlos überfordert und bat ihn um Hilfe. Tobias zögerte nicht lange und machte sich sofort auf den Weg zu ihr, um ihr bei zustehen, was im Nachhinein keine so gute Idee war.

Denn er stand erneut unter dem Einfluss von Drogen und Sandra, naja die hatte aus ihrer Verzweiflung heraus zwei Flaschen Rotwein geköpft.

Eine ganze Weile hatten sie sich einfach nur unterhalten, zumindest so gut, wie es beiden in ihrem Zustand möglich war, doch dann sagte Sandra aus ihrer Verzweiflung  einen Satz der alles veränderte. „Ich will das der Kleine aufhört zu schreien.“

„Damit de ma pennen kannst?“, war Tobias Antwort damals gewesen.

„Nein. Ich will, das er für immer aufhört zu schreien, denn in ihm sehe ich den Mann, mit dem ich nie mehr etwas zu tun haben möchte.“

Nach einer kurzen Pause hatte sie dann Tobias gefragt ob er ihr dabei helfen könne und da er auch nicht er selbst war, stimmte er dem ganzen zu.

„… Nein!…“, Achim hatte anscheinend seine Stimme wieder gefunden.„… Du hast ihn erstickt! Mit einem Kissen! Ja ich weiß, sie hatte dir dabei geholfen, aber sie war nicht sie selbst. Sie war verzweifelt und überfordert und wusste deshalb nicht, was sie tat. In ihrem Tagebuch stand, dass sie sehr darunter litt, weil sie es bereute. Sie wollte ihren Jungen zurück und dieser Lüge, er sei an plötzlichem Kindstod gestorben, die sie danach jedem erzählte, ein Ende setzen. Sie wollte dich und sich selbst anzeigen, doch das hatte sie nie übers Herz gebracht. Zu groß war ihre Angst vor den Konsequenzen, die ihr drohten. Deshalb hatte sie das Video, was ja auch nur Zufall wegen dem videoüberwachten Babyfon war, doch kopiert. Sie wollte es als Beweis!

Und weil sie solange darunter litt, nahm sie sich schließlich das Leben und das wirst du auch tun, Tobias!“

Achim zog einen Beutel gefüllt mit sämtlichen Tabletten aus seiner Tasche.

„Diese Tabletten werden dich töten! Und du wirst sie nehmen! Zur Not mit Gewalt!“

Tobias schluckte.

Das ist jetzt das Ende.

„Du bist für Sandras Tod und den meines Sohnes verantwortlich und das einzig ansatzweise faire an allem wäre, wenn du ihnen nachfolgst!

Für dich ist jetzt eh alles verloren, spätestens wenn ich dich anzeige, doch das will ich nicht. Ich will DICH sterben sehen, so wie du meinem Jungen dabei zugesehen hast, du mieses Schwein!…“

Erneut machte Achim eine Pause, wobei er diesmal einen Brief aus seiner Tasche holte: „Und das ganze lassen wir ebenfalls wie einen Suizid aussehen, damit ich mir nicht die Finger schmutzig machen muss und am Ende noch verdächtigt werde. Der Brief ist übrigens von einem Privatdetektiv auf Grund seiner Erkenntnisse über dich verfasst worden und ich denke dass es dadurch sehr realistisch wirken wird.“

Er grinste frech und plötzlich fegte ein Windstoß durch den Wald, der Achim den Zettel und die Tüte aus der Hand riss. Als er danach greifen wollte und sich für einen kurzen Augenblick zur Seite drehte, nutzte Tobias seine Chance.

JETZT!

Er rammte Achim das Messer in den Bauch, welches er während seiner langen Ansprache langsam aus seiner Gürteltasche gefischt hatte.

Eines schien Achim nicht über ihn gewusst zu haben. Seit seiner Jugend auf der Straße trug Tobias immer ein Messer bei sich und Achim hatte zwei Fehler begangen. Er hatte ihn zum einen nicht nach spitzen Gegenständen abgesucht und der zweite Fehler lag darin, sich von ihm wegzudrehen, was Tobias den Überraschungsmoment und die Chance zum Angriff gab.

Achim schrie auf und ließ abrupt von Tobias ab und hielt sich zitternd die Stichwunde am Bauch.

„W..  … Wa.  … Was hast du getan?“, krächzte er, gefolgt von einem tiefen Stöhnen.

Wut und Entsetzen mit einem Hauch von Angst funkelten jetzt in seinen Augen.

Er sackte auf den Boden und krümmte sich vor Schmerzen.

Tobias musste eine gefährliche Stelle getroffen haben, denn das Blut trat ununterbrochen in einer enormen Menge aus der Wunde aus.

Doch sicherheitshalber müsste er es komplett zu Ende bringen.

Er rappelte sich vom Boden auf, drückte Achim auf den Boden und schnitt ihm die Kehle durch. Dieser schrie noch einmal auf, doch danach wurde er still. 

Einen kurzen Augenblick wartete Tobias, dann fühlte er seinen Puls.

Tot.

Es war kein Puls und keine Atmung mehr vorhanden.

Tobias wurde schlecht. 

Jetzt habe ich drei Menschen auf dem Gewissen…

Für einen kurzen Moment blieb sein Blick noch auf Achims Leiche ruhen. Danach wandte er sich von diesem schrecklichen Anblick ab und ging zurück in seine Wohnung.

Auf dem Weg dahin hatte er seinen Tränen freien Lauf gelassen.

Das darf alles nicht wahr sein. Ich bin ein MÖRDER!

Seine Gedanken rasten wieder einmal wild umher und er fühlte sich wirklich übel.

Schuld, Trauer, Wut, Angst, Verzweiflung und noch viele andere Gedanken und Gefühle quälten ihn.

Als er dann schließlich in seinem zu hause ankam, ließ er sich auf den Boden sinken und griff in seine Jackentasche. Das Messer hatte er unterwegs bereits entsorgt, doch den Brief und den Beutel mit den Tabletten hatte er mitgenommen.

Mit zitternden Händen öffnete er den Brief und begann ihn zu lesen.

Eins musste er dem Detektiv lassen, er hatte wahrlich gute Arbeit geleistet. Besser hätte selbst Tobias ihn nicht schreiben können.

Tobias schaute sich ein letztes Mal in seiner Wohnung um.

Soll ich es wirklich tun?

Aber wenn nicht, was hat das denn alles noch für einen Sinn?

Mit einem Mord, an dem er Schuld war, konnte er irgendwie leben, aber doch nicht mit dreien!

Also setzte er sich auf sein Bett, legte den Brief behutsam neben sich hin, öffnete das Tütchen und nahm den gesamten Inhalt  auf ein Mal ein.

Was auch immer jetzt passieren mag, weiß nur das Schicksal …

 

Und mit diesem Gedanken schluckte er die Tabletten hinunter und schloss seine Augen.

One thought on “Schattenseiten

  1. Meine Herren, das ist starker Tobak! Sehr gut geschriebener, flüssig erzählter Tobak. Du hast mich von der ersten bis zur letzten Zeile abgeholt, die Charaktere und ihre Handlungen plausibel beschrieben. Eine sehr gute Geschichte mit einem doppelt überraschendem Ende.

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