sueyVincent

An jenem lauen Frühsommerabend, an dem die Luft schwer war vom süßlichen Duft der Jasminbüsche, saß ich mit einem Glas Wein und einem Buch auf der Terrasse. Behaglich in meine Wolldecke gekuschelt lauschte ich abwechselnd dem leiser werdenden Vogelzwitschern, den zirpenden Grillen und der Stille, die sich langsam über die Häuser breitete. Ich liebte diese Stunde der Dämmerung zwischen dem schwindenden Tageslicht und der beginnenden Dunkelheit der Nacht. Oft saß ich zu dieser Zeit auf meiner Terrasse und genoss den Anblick meines Gartens. Gedankenverloren gähnte ich, blätterte meinen Thriller auf, lehnte mich zurück und versank in der Geschichte.

Ein dumpfes Rascheln riss mich aus meinen Gedanken. Ich blickte auf. Inzwischen war es stockdunkel geworden, nur das fahle Licht meiner Terrassenlampe tauchte die Umgebung in graugelbe Schatten. Das Geräusch schien von der rechten Gartenseite gekommen zu sein, wo die Jasminbüsche hoch und dicht gewachsen waren. Vermutlich war eine Maus zu später Stunde noch auf der Suche nach Futter oder einem Unterschlupf für die Nacht.

Ich blickte auf die Uhr und zuckte zusammen – so spät war es schon geworden? Ich war so tief in mein Buch versunken gewesen, dass ich die Zeit vergessen hatte. Ich gähnte laut und streckte mich. Es war Zeit, ins Bett zu gehen, die lange Arbeitswoche hatte mich ganz schön geschlaucht.

Als ich aufstand und die Decke zusammenlegen wollte, knackte es laut im Gebüsch, und ich fuhr unwillkürlich zusammen. Ich kniff die Augen zusammen und starrte auf die schemenhaften Büsche in der Dunkelheit. Für eine Maus war das ganz schön laut gewesen, vielleicht war es ein größeres Tier? Oder… schlich da jemand durch das Unterholz?

Ich schüttelte den Kopf und stieß ein nervöses Lachen aus. Der spannende Thriller und die Müdigkeit ließen meine Gedanken verrückt spielen. Ich sollte wirklich ins Bett gehen.

In diesem Moment gab es ein dumpfes Geräusch. Ich erstarrte. Im Gebüsch knackten Äste, als würden sich Schritte entfernen. Menschliche Schritte.
Mein Herz setzte einen Schlag aus. „Ha… hallo?“, krächzte ich und ließ die Decke fallen. Verbarg sich da jemand in der Dunkelheit? Hatte mich jemand beobachtet, während ich auf der Terrasse saß? Auf einmal fröstelte ich.
Blitzschnell wog ich ab – sollte ich ins Haus gehen und die Türen hinter mir verschließen, oder sollte ich dem Geräusch zur Sicherheit auf den Grund gehen? Vermutlich würde ich mit dem Gedanken, dass hier vielleicht jemand herum schlich, kein Auge zu tun können.

„Hallo?“, fragte ich, diesmal schon etwas lauter in die Dunkelheit. „Ist da jemand?“
Doch es blieb still.

Da sah ich es. Zwischen den weißen, duftenden Blüten und von den dichten Blättern halb verdeckt, drang aus den Jasminbüschen ein schwaches Leuchten durch die Dunkelheit.

Ich nahm all meinen Mut zusammen und trat an die hohen Büsche heran. Mit zittrigen Händen angelte ich in Richtung des Leuchtens, ertastete einen glatten, kühlen Gegenstand, und griff danach. Schnell richtete ich mich wieder auf, schaute noch einmal in die Dunkelheit, konnte aber keine Bewegung ausmachen.
Ich betrachtete meinen Fund im Schein der Terrassenlampe. Es war ein unscheinbares dunkles Smartphone, wie es heutzutage fast jeder besaß. Das Display war inzwischen erloschen. Ich drehte es in den Händen, fand die Entsperrtaste, und drückte. Der Bildschirm leuchtete auf, das Handy wurde entsperrt, und ich erstarrte.
Das Bild zeigte eine Frau Mitte dreißig mit langen blonden Haaren, ein Buch lesend auf einer dunklen Veranda sitzend. Mich.

Ich zuckte zusammen. Was zur Hölle…?

Das Bild musste gerade eben aus dem Gebüsch aufgenommen worden sein. Erneut starrte ich in die Dunkelheit und lauschte, doch es blieb still, und keine Bewegung war zu sehen.

Schnell blickte ich zurück auf das leuchtende Display und wischte nach links. Ein weiteres Bild erschien. Darauf kam ich gerade mit schweren Einkaufstüten beladen aus dem Supermarkt heraus und lächelte einen Mann an, der mir die Türen aufgehalten hatte. Das war heute Morgen gewesen. Ich wischte zum nächsten Bild, diesmal eines, wie ich mein Fahrrad aus meiner Hauseinfahrt schob. Auf dem Weg zum Einkaufen. Mein Herz hämmerte in meiner Brust, und mir stand kalter Schweiß auf der Stirn. Ich wischte weiter, immer neue Bilder von mir erschienen, mit meiner Freundin Erika beim Shoppen in der Stadt, im Eiscafé, bei der Gartenarbeit, in meinem Wohnzimmer schlafend auf dem Sofa, lesend auf der Terrasse … Jemand musste mich beobachtet und verfolgt haben. Wie gelähmt starrte ich auf den Bildschirm, als die Ereignisse der letzten Woche an mir vorbei flogen.

Ich wischte immer schneller, bis ich am Ende angelangt war. Das letzte Bild, was ich nun sah, ließ das Blut in meinen Adern gefrieren. Es war das Bild einer gerahmten Fotografie. Neben mir war darauf ein groß gewachsener Mann zu sehen, dessen stahlgraue Augen in die Kamera starrten. Er hielt ein Ultraschallbild in die Kamera.
Die Erinnerung traf mich wie ein Schock.

***

Bis vor zwei Jahren waren Vincent und ich ein Paar gewesen. Wir hatten schon eine Weile in einer stabilen Beziehung miteinander gelebt, das einzige, was zu unserem Glück noch fehlte, war ein Baby. Oder besser gesagt, zu Vincents Glück.

Vincent hatte schon immer von eigenen Kindern geträumt, schon zu Beginn unserer Beziehung war eine der ersten Fragen, die er mir stellte, wie viele Kinder ich später einmal haben wollen würde. Immer und immer wieder fragte er nach, wann wir endlich eine Familie gründen würden. Schließlich gab ich nach, obwohl ich eigentlich das Gefühl hatte, noch nicht bereit zu sein für ein Kind. Doch da Vincent nicht locker ließ und geradezu besessen war von dem Gedanken, verdrängte ich meine Gefühle, und versuchte, eine gute Partnerin zu sein und ihm seine Träume zu erfüllen.

Nachdem wir es schon eine Weile vergeblich versucht hatten, erhielt ich endlich die frohe Botschaft, dass ich schwanger sei. Wir zogen in eine größere Wohnung, kauften Babyausstattung, wälzten Namensbücher. Nach außen wirkte alles wie das perfekte Glück. In Wirklichkeit war ich einfach nur erleichtert, dass Vincent nun sein Baby bekommen würde, wie er es sich schon immer gewünscht hatte. Insgeheim hatte ich das Wesen, das in mir lebte, den “kleinen Alien” getauft, da ich es eher befremdlich als wundervoll fand, dass da ein Mensch in mir lebte.

Die Monate vergingen und die Schwangerschaft schritt voran. Ich war inzwischen im achten Monat schwanger, von Rückenschmerzen und Wassereinlagerungen geplagt, und sehnte mich danach, meinen alten Körper und mein altes Leben wieder zu bekommen. So richtig hatte ich mich noch immer nicht mit meiner künftigen Rolle als Mutter abgefunden.

Vincents Besessenheit von dem Baby war nicht zu stoppen und mit jeder weiteren Schwangerschaftswoche schlimmer geworden; fanatisch sprach er über Nährstoffe zur optimalen Kindesentwicklung, die korrekten Sitzpositionen zur Durchblutung des Bauches und verbat mir jegliche Aufregung. Ich versuchte mir einzureden, dass es rührend sei, wie fixiert er auf das Baby war; andererseits hatte ich aber das Gefühl, dass er mich als seine Freundin kaum noch wahr nahm. Mein persönliches Wohlergehen interessierte ihn nicht. Wenn ich meine Zweifel an meiner neuen Mutterrolle offen ansprach, reagierte er nur unwirsch, und meistens endeten diese Diskussionen in Streit oder Schweigen.

An dem Abend, an dem sich alles ändern sollte, hatte ich mich mit Erika in einer Bar verabredet. Vincent war den Tag über wie so oft sehr anstrengend gewesen, als er mir zum hundertsten Mal die Vor- und Nachteile verschiedener Geburtspositionen für die künftige Intelligenz des Kindes erläutern wollte. Ich brauchte unbedingt Abstand von Vincent und wollte einfach nur für ein paar Stunden raus aus der Wohnung und den Alltag vergessen.

Als ich Vincent von meinem Plan erzählte, rastete er aus und schrie mich an, ich würde sein Kind gefährden, wenn ich mich nicht schonte. Noch während er mich mit rotem Kopf anbrüllte, hatte ich genervt meine Tasche gepackt, einen Mantel übergeworfen und war aus dem Haus gestürmt, so schnell mein dicker Bauch das zuließ.

Eine Weile später saßen Erika und ich in einer Nische am Fenster, tranken alkoholfreie Cocktails, aßen Pizza und Tiramisu, und ich lachte so viel wie schon lange nicht mehr. Die Ablenkung tat gut, endlich fühlte ich mich mehr wie ich selbst, und nicht nur wie eine künftige Mutter. Wir sprachen über unsere Träume und schmiedeten die verrücktesten Zukunftspläne, und fast vergaß ich, dass ich bald den ganzen Tag lang Windeln wechseln würde, anstatt durch Schweden zu trampen oder einen Fallschirmsprung zu wagen.

Als wir uns schließlich auf den Heimweg machen wollten und aufstanden, stolperte ich über das Tischbein und stürzte auf den Boden. Ein gleißender Schmerz fuhr mir durch den Bauch, mein Unterleib krampfte sich zusammen, und ich spürte es feucht und warm zwischen meinen Beinen werden. Und dann schrie ich.

Als ich nach der Notoperation wieder zu mir kam, teilten mir die Ärzte mit, dass sie leider nichts mehr hatten tun können. Ich hatte das Kind verloren.

Der Schmerz um den Verlust des Kindes war unbeschreiblich. Von einer Stunde auf den andere war mein Bauch leer, mein Herz zerbrochen, und meine Gedanken kreisten verwirrt zwischen Schock und Schuldgefühlen. Die kommenden Stunden, als ich allein in meinem Krankenhausbett lag und auf Vincent wartete, waren die schlimmsten Stunden meines Lebens – dachte ich. Doch ich irrte mich.

Nach einer unendlich langen Einsamkeit voller Schmerz trat endlich Vincent durch die Tür meines Zimmer im Krankenhaus.

„Vince…“, schluchzte ich atemlos, und streckte ihm meine Arme entgegen, um ihn zu umarmen. Ich sehnte mich nach Trost, nach geteilter Trauer, nach leise gemurmelten Worte des Zuspruchs und der Hoffnung, nach Liebe und Mut – doch er blieb in der Tür stehen. In seinem Blick waren nur Kälte und Wut.

„Du hast unser Kind umgebracht“, flüsterte er und starrte mich hasserfüllt an.

Dann kam er an mein Bett, hob die Hand, und schlug zu.

Seitdem waren zwei Jahre vergangen. Vincent war zu einer Bewährungsstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt worden. Er hatte mich bewusstlos geschlagen, und wenn nicht zufällig zwei Ärzte durch die offene Tür in mein Zimmer geschaut hätten, so wäre ich vermutlich tot gewesen, davon bin ich überzeugt. Zwar hatte ich glücklicherweise keine bleibenden körperlichen Schäden davongetragen, aber die seelischen Wunden waren tief und heilten nur sehr langsam. Die unzähligen Therapiestunden, erst in einer psychiatrischen Klinik, dann ambulant, halfen mir sehr dabei, die Ereignisse zu verarbeiten. Meine Therapeutin lobte mich für meine tollen Fortschritte und sagte mir, sie hätte schon lange keinen so lebensfrohen und starken Patienten mehr gehabt. Trotzdem hatte ich auch heute noch immer mit Angstzuständen und Depressionen zu kämpfen.

***

Tränen rannen mir über die Wangen, als der Verlustschmerz und die Schuldgefühle, so stechend wie am ersten Tag, wie eine Welle über mich hineinbrachen.

Ich ließ das fremde Handy fallen, drehte mich um, durchquerte den Garten, sprang die Verandatreppe hoch, stürmte ins dunkle Haus hinein, verriegelte die Terrassentür hinter mir, raste zur Haustür, drehte den Schlüssel zwei Mal im Schloss herum, lief weiter ins Wohnzimmer, ließ die Jalousien herunterknallen, ebenso in Küche und Bad.

Erst dann fühlte ich mich sicher genug, um inne zu halten. Ich atmete ein paar Mal tief ein und aus, und wischte mir über die tränennassen Wangen. Schluchzend tapste ich zurück ins dunkle Wohnzimmer, direkt auf meine Couch zu, knipste die Stehlampe daneben an und ließ mich in die weichen Kissen fallen.

Aus den Augenwinkeln nahm ich eine Bewegung an der Tür wahr, ich fuhr herum, und schrie laut auf.

Stahlgraue Augen blickten mich an. Sein Mund verzog sich zu einem schmalen, freudlosen Lächeln. Und dann zog er das Messer.

 

3 thoughts on “Vincent

  1. Hey Suey 😉

    mir hat deine Kurzgeschichte gut gefallen.
    Vor allem, dass du das Vergangene in den Fokus gesetzt hast finde ich sehr gut – habe ich hier noch gar nicht gelesen.
    Auch das du das Ende (mehr oder weniger) offen gelassen hast ist sehr spannend und bietet einen gewissen Interpretationsspielraum.
    Dein Schreibstil ist angenehm und “leicht” zu lesen, was immer ein sehr wichtiger Faktor beim Schreiben ist.

    Liebe Grüße und noch viel Spaß beim Schreiben
    Sarah

    Vielleicht hast du ja Lust auch meine Geschichte zu lesen, kommentieren und/oder zu liken – sie heißt “Unschuldskind”.

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