BelindaSchuldlos

Ein Wahnsinnsabend lag hinter mir. Ich hatte brilliert, hatte sie alle im Sack. Einmal mehr hatte mich ein grosser Sender zu einer Samstagabendkiste eingeladen. Sie wollten mir, DEM Erfolgsmenschen,  dem ‚ONE AND ONLY MR SUCCESSFUL‘, auf den Zahn fühlen.  Wollten von mir hören, wie ich es anstelle, dauernd auf der Siegerwelle zu reiten. Sie wollten mein Erfolgsrezept knacken. Dazu hatten sie ein paar meiner Kritiker eingeladen. Die stets gleichen Langweiler waren dabei. Auf die musste ich mich nicht einmal vorbereiten. Seit Jahren bin ich der bekannteste und erfolgreichste Coach, Leader zu einem glücklichen, reichen Leben. Tausende besuchen meine Workshops, lesen meine Bücher, hören meine CDs. Wo immer ich auftrete, dirigiere und begeistere ich die Massen. Sie hängen an meinen Lippen, sie springen auf, wenn ich es sage, sie bejubeln jedes meiner Worte,  schreien die zukünftige Erfüllung ihrer Wünsche in die Säle. Wenn ich wollte, würden sie auf Knien zu mir auf die Bühne kriechen. Sie beteten mich, Eric von Au, an.  Ich warte auf den Tag, an dem mich der Papst bittet, ihm meine Geheimnisse zu verraten. Ich bin der grosse Zampano. Daran würde auch diese Show nichts ändern. Sie hatten mich vorführen, mich als Scharlatan und Schaumschläger entlarven wollten. Doch ich war zu Hochform aufgelaufen, konnte die Veranstaltung beinahe in einen meiner Workshops verwandeln. Ich blieb unverwundbar. Den Lügendetektortest konnte ich mühelos bestehen, unter Hypnose sollte ich meine Tricks verraten. Sogar die Schuld für das Schicksal einiger Loser wollten sie mir anhängen. Ich sah die Schweissperlen in den Gesichtern meiner Gegner, sah, wie sie mühevoll die Haltung wahrten. Doch ich schaute mit offenem Blick in die Kamera, wusste, dass mein Lächeln die gewünschte Wirkung hatte. Meine Gewinnermiene blieb mir erhalten, mein Anzug knitterfrei. Ich bewunderte mich selbst in den Monitoren: Ein Mann im besten Alter, gutaussehend, sexy, volles Haar, markante Gesichtszüge, gross, schlank. Es fehlte nur meine Frau. Wie perfekt wären ein paar Kameraschwenker auf sie gewesen. Das schöne Ex-Model, das mir freudestrahlend Beifall klatschte. Doch ich brauchte sie nicht wirklich um das Publikum für mich einzunehmen. Ich konnte die Menschen ganz alleine begeistern. Fast körperlich spürte ich ihre Bewunderung, perfekt beherrschte ich die Show und meine Tricks.  Eben die Tricks, derer sie mich überführen wollten. Das mag ja bei irgendeinem anderen Blender gehen, doch nicht bei einem Eric von Au. Oh ja, ich hatte sie alle in elegantester Weise über den Tisch gezogen. Strahlend und mit grosser Geste trat ich von der Bühne ab. Meiner Bühne. ABBA sangen ‚The winner takes it all‘. So ist es. Verdammt, bin ich gut.  

 

Nun sass ich in meinem Baby Bentley und wartete, bis sich das Tor zu meinem Grundstück geöffnet hatte. Lichter, die die Strasse säumten, gingen an. Sie beleuchten die hohen Alleebäume zu beiden Seiten. Ich genoss die Fahrt zu meinem Haus, hier bin ich der König. ‚My home is my castle‘ heisst bei mir ‚My home is a castle‘. Einem Château aus dem Loiretal nachempfunden, steht mein Schloss in einem riesigen Park. Hohe Mauern lassen weder Besucher, noch Blicke hinein. Grossartig. Geil. Ich stellte meinen Wagen im Garagengebäude ab, ging über den gekiesten Vorplatz und stieg die Treppe zum Eingang hoch. Seltsamerweise ging die Beleuchtung nicht an. Verwundert schaute ich nach oben und stellte fest, dass die Lampe zertrümmert worden war.  Unter meinen Füssen knirschte es, weil ich auf die Scherben getreten war. Ein leichtes Unbehagen beschlich mich, vorsichtig und leise schob ich die Tür auf. Auch die Eingangshalle lag im Dunkeln. Ich blieb stehen und versuchte, irgendetwas zu erkennen. Doch ich sah nur die Schwärze der Nacht, hörte nichts. Ich machte ein paar Schritte Richtung Treppenhaus, als mich ein kurzes Klingeln und ein Aufleuchten eines Handys erstarren liessen. Das Handy lag vor mir auf dem Boden. Ich hob es auf und blickte direkt in mein Gesicht. Offenbar gehörte dieses Gerät meiner Frau. Sie hatte das Bild meines letzten Buchcovers als Hintergrundbild verwendet. Seltsam. Seltsam auch, dass das Handy hier auf dem Boden lag. Unbewusst presste ich meinen Zeigefinger  auf den Sensor. Die Inhalte wurden angezeigt. Wie ging das denn? Warum hatte ich Zugriff auf ein fremdes Handy? Auch hier zeigte das Hintergrundbild mein Gesicht. Doch es war eine ungünstige Aufnahme, ich sah aus wie ein alter, unzufriedener Mann. Eine Nachricht wurde angezeigt.  

 

ERIC VON AU, WILLKOMMEN IN DER HÖLLE

 

Ohne Absender. Das Handy fühlte sich heiss an, beinahe hätte ich es fallen lassen. Ärger stieg in mir hoch.  So eine Frechheit. Wer hatte es gewagt, mir diesen Streich zu spielen? Wütend stieg ich die matt schimmernde Marmortreppe hoch. Vielleicht hatte meine Frau eine Ahnung. Es war mir egal, dass sie schon schlief. Diese Angelegenheit konnte nicht warten.  Doch das Schlafzimmer war leer. Auch in diesem Stockwerk reagierten die Sensoren nicht, es ging kein Licht an. Selbst die Lichtschalter reagierten nicht. Ich leuchtete mit der Handylampe durch sämtliche Räume, fürchtete, auf einen Einbrecher zu treffen. Sicherheitshalber bewaffnete ich mich mit einer kleinen, aber schweren Skulptur von Henry Moore. Doch niemand war hier, alles blieb still. Ich konnte nichts anderes tun, als mich ins Bett zu legen und versuchen zu schlafen. Morgen würde ich der Sache mit dem Handy nachgehen.  Der Hausmeister konnte sich um den Strom kümmern. Und meine Holde würde mir sehr gut erklären müssen, wo sie abgeblieben war. Ich starrte in die Dunkelheit.  Das Handy leuchtete auf, surrte über die Nachttischplatte.

 

ERIC VON AU, DIE LICHTER SIND AUS, SIND SIE ES AUCH BALD FÜR DICH?

 

und kurz darauf:

 

ERIC VON AU, WEISST DU, WO DEINE FRAU IST?

 

Ich hatte keine Ahnung. Das alles war ein verdammt übler Scherz und ich würde den Witzbold zur Rechenschaft ziehen, das schwor ich mir. In dieser Nacht fand ich kaum Schlaf.

Am nächsten Morgen sah ich im Spiegel so aus, wie auf dem Hintergrundbild des fremden Handys: Die Haut fahl und grünlich, unter den Augen Tränensäcke. Ich ging hinunter in das kleine Esszimmer. Doch kein üppig gedeckter Frühstückstisch erwartete mich, die Küche war leer, auch in den angrenzenden Räumen war niemand. Wo war Frau Aebischer, die Haushälterin? Genervt schlug ich mit der flachen Hand auf den leeren Esstisch.  Im Nebengebäude suchte ich nach Werner Gruber, dem Hausmeister. Doch auch in seiner Werkstatt und seinem Büro sah es so aus, als wäre er heute nicht zur Arbeit erschienen. Das konnte doch nicht wahr sein. Ich schäumte: Waren hier denn alle verrückt geworden? Wie absurd konnte dieser Scherz noch werden? Ich wählte die Nummer von Gerda Aebischer und erfuhr von ihrem Mann, dass sie das übers Wochenende zu ihrer Schwester gefahren war. Warum hatte mir niemand gesagt, dass ihr Wochenende schon am Freitag begonnen hatte? Die Telefonnummer von Werner Gruber konnte ich nirgends finden. Ich hätte jetzt sehr, sehr gut einen Kaffee brauchen können. Oder besser noch einen Whiskey. Doch ich musste einen klaren Kopf bewahren. Ich rief bei meiner Frau an. Die Sprachbox ging an. Ich atmete tief ein.

 

ICH BIN DER HERR MEINER  GEDANKEN,

ICH BESTIMME, WAS IN MEINEM LEBEN PASSIERT.

 

Der Anruf beim Elektriker war ebenfalls erfolglos. Die gelangweilte Tonbandstimme des Elektrikers verkündete mir, dass ich ausserhalb der Geschäftszeiten angerufen hatte und er erst am Montag wieder erreichbar sein würde. Die angegebene Notfallnummer existierte nicht. Ich schäumte. Waren denn all diese Idioten schon am Freitag im Wochenende? Jeder einzelne würde noch von mir hören und zwar auf sehr, sehr unangenehme Weise.

 

 

JEDES HINDERNIS IST EINE HERAUSFORDERUNG, EINE ÜBUNG,

EIN LEHRSTÜCK FÜR DEN NÄCHSTEN SCHRITT.

ICH MUSS AMATEUR GEWESEN SEIN, BEVOR ICH PROFI WERDEN KANN.

 

Am Ende würde sich auch diese Situation zu einer meiner Erfolgsgeschichten wandeln. Das fremde Handy lag auf dem Esstisch. Ich rührte es nicht an, sondern ging durch den Park zu meiner Poolanlage und schwamm einen Kilometer. Zurück im Haus wollte ich erneut meine Frau anrufen, wieder meldete sich die Sprachbox. „Würdest du mich bitte umgehend anrufen?“, herrschte ich ungeduldig ins Telefon. Eine Minute später hörte ich den Ton für eine eingehende Mitteilung. „Hat diese Kuh tatsächlich die Unverschämtheit, mir nur eine Nachricht zu schicken?“, schrie ich, konnte meine Wut kaum noch im Zaum halten. Doch es war das fremde Handy gewesen, das sich gemeldet hatte. Ich wollte nicht darauf schauen, doch ich musste.

 

ERIC VON AU, WEISST DU NOCH WAS DU AM 23. MAI 2009 GEMACHT HAST?

 

Ich liess mich auf einen Stuhl sinken. 23.05.2009. 23.05.2009. 23.05.2009. Das Datum blinkte vor meinen Augen auf wie eine Leuchtreklame am Times Square. Die Erinnerung kroch an meiner Wirbelsäule hoch und manifestierte sich vor meinem inneren Auge. Eine Erinnerung, die sich mir wie eine Fotostrecke präsentierte. Ich musste sie gut in meinem Gehirn versteckt haben. Die Erinnerung an eine regennasse Nacht, an ein zu schnelles Auto und an mich, der vollgepumpt mit Adrenalin und Champagner auf dem Heimweg gewesen war. Ich tuschierte die Radfahrerin nur leicht, spürte nur ein kleines Rumpeln. Zum Bremsen war ich nicht gekommen. Doch die Frau war gestürzt.  Ich vergewisserte mich, dass kein anderer Wagen in der Nähe war, dann fuhr ich zurück zur Unfallstelle. Die Frau lag bäuchlings auf dem Boden, ihr Kopf in einer Blutlache. Sie lebte nicht mehr. Niemand hatte mich gesehen, es konnte nichts mehr gemacht werden. Ich stieg in meinen Wagen und fuhr weiter. Auf schlechte Publicity konnte ich verzichten. Niemand hatte mich gesehen, das deutete ich als Zeichen dafür, dass ich Glück hatte und mein Leben auf der Erfolgsspur weitergehen würde. Das war bis heute so und würde auch so bleiben. Der unbekannte Schreiber wollte mich provozieren. Ich lachte laut heraus. Nicht mit mir, mein Freund. Nicht mit Eric von Au. Trotzdem konnte ich die kleine Angst nicht verdrängen. Leise und unheimlich kam sie hochgekrochen. Mein Herz hämmerte, ich sass zitternd am Tisch. Mit der nächsten Botschaft erhielt ich ein Foto. Es zeigte eine Aufnahme, die aussah, als wäre sie durch ein Nachtsichtgerät gemacht worden. Ein Jaguar von hinten, daneben eine männliche Gestalt, die sich über etwas beugte, am Boden lag ein Fahrrad. Mein Gesicht war nicht zu erkennen, doch leuchtend klar und deutlich war mein Nummernschild zu lesen.  Ich liess das Handy fallen wie eine heisse Kartoffel. Wütend sprang ich auf, rannte aus der Küche, fegte eine Vase von einer Konsole und schrie gequält durch das Gebäude. Wer wollte mich fertig machen? Wer hatte das Bild gemacht und warum kam er oder sie erst nach 10 Jahren mit seinem  Wissen an? Was wollte er von mir? Zum ersten Mal fühlte ich mich hilflos und verzweifelt. Was konnte ich tun? Ich rannte hinaus in den Park, getrieben von wütender Verzweiflung. Egal was diese Person wollte, ich würde alles tun, dass niemand von dieser Geschichte erfahren würde. Mein ganzes Leben hing davon ab.

Ich musste die nächste Mitteilung abwarten. Dann musste ich handeln, musste die Ereignisse in die richtigen Bahnen lenken. Doch die Stunden vergingen, nichts geschah. Es war die Hölle. Meiner Frau, die unterdessen angerufen hatte, versicherte ich, dass alles in Ordnung war. Sie war mit ihrer besten Freundin in einem Wellnesshotel und würde erst in einer Woche wieder zurück sein. Gut, dass sie ihr Äusseres in Schuss hielt. Eine schöne Frau gehörte zu mir, war Teil meiner Erfolgsgeschichte. Seltsam nur, dass ich nichts von dieser Reise wusste. Ich hatte mein Leben und meine Erfolge im Griff. Dazu gehörte auch meine Frau. Das musste ich mir immer wieder versichern.

 

LASS DIR DEIN LEBEN NICHT AUS DER HAND NEHMEN.

HAST DU HEUTE KONTROLLE ÜBER DEIN LEBEN,

WIRD DIR DIE ZUKUNFT NICHT AUS DEN HÄNDEN GLEITEN.

 

Daran glaube ich zu 100 %. Damit das so blieb, musste ich etwas tun, bevor es dunkel wurde. Vielleicht konnte ich ja selbst herausfinden, weshalb es keinen Strom gab. Zuerst suchte ich im Reich von Frau Aebischer nach Kerzen und einem Feuerzeug. Es dauerte länger als gedacht und ich fluchte was das Zeug hielt. Schlussendlich hielt ich das Gesuchte in den Händen. Ein Problem gelöst.

 

FREUE DICH ÜBER JEDE EINZELNE ETAPPE, JEDES TEILZIEL, JEDES GELÖSTE PROBLEM. DAS MACHT DICH STARK UND HILFT DIR, ZUKÜNFTIGE HINDERNISSE ZU ÜBERWINDEN UND DEIN GROSSES ZIEL IM BLICK ZU BEHALTEN.

 

Ich atmete tief durch. Die Haustechnik fand ich hinter der Werkstatt des Hausmeisters. Doch die Displays waren dunkel, so etwas wie Sicherungen konnte ich nicht erkennen. Zugegeben, davon hatte ich ja auch keine Ahnung. Ich schlug die Türen der Anlagen zu und stapfte zurück ins Haus. Das fremde Handy blieb stumm. Was konnte ich nun tun? Essen gehen? Ich hatte keinen Hunger, doch ich musste etwas unternehmen. Ich setzte mich in den Wagen und gab Gas. Kies und Staub wirbelten auf. Kleine Steine schlugen gegen das teure Blech, doch das kümmerte mich nicht. Dann stand ich vor dem Tor. Es ging nicht auf. Verdammt, verdammt, verdammt. Fuchsteufelswild sprang ich aus dem Wagen. Gab es denn keine Möglichkeit, dieses Scheisstor aufzumachen?  Ich fand nichts, womit sich die Verriegelung manuell öffnen liess. Ich war gefangen. Ich trat mit voller Wucht gegen das Tor, hämmerte mit den Fäusten dagegen und verfluchte die Technik.

 

WER SICH BEHERRSCHT, BEHERRSCHT AUCH SEINE ZUKUNFT.

 

In letzter Sekunde konnte ich mich davon abhalten, den Wagen zurück zu setzen und dann mit voller Wucht das Tor zu rammen. Ich presste meine Handballen auf die Hupe und schrie in das langanhaltende Gehupe hinein.  Zurück im Haus wollte ich meine Frau anrufen, vielleicht hatte sie ja eine Ahnung, wie ich aus meinem Gefängnis kommen konnte. Doch das Handy war tot, der Akku leer. Ich schnaubte, zündete die Kerze an und öffnete den Kühlschrank. Danke Frau Aebischer für eine Sammlung exzellenter Käse, Salat, der noch einigermassen frisch war und einer noch kühlen Flasche Chardonnay. In diesem teuren Teil von einem Kühlschrank dürften die Leckereien wohl bis Montag überleben. Im Schrank gab es zudem Toastbrot und Zwieback. Ich würde schon mal nicht verhungern. Na toll. Ich setzte mich nach draussen und ass Käse, Brot und ein paar Weintrauben. Das alles spülte ich mit dem Weisswein hinunter. Doch ich konnte die Delikatessen nicht geniessen, in meinem Kopf rotierten die unbeantworteten Fragen. Das fremde Handy blieb stumm. Ich übte mich in Beherrschung. Die blaue Stunde hatte begonnen, die hohen Bäume waren in tiefes Schwarz gehüllt und zeichneten sich elegant vor dem leuchtend dunklen Azurblau  ab, spiegelten sich im Teich. Kehlige Töne von Fröschen und das monotones Gezirpe der Grillen legten einen beruhigenden Geräuschteppich über die Szenerie. Normalerweise fühlte ich mich in einem solchen Moment grossartig, ein König, dem Glanz und Pracht zu Füssen gelegt worden waren. Mir gehörte das alles hier, ich hatte es verdient, war ein Günstling der Götter. Nur gerade heute nicht. Mit der leeren Flasche kam das Gefühl der Gleichgültigkeit. Sollte der Scheisskerl mir doch weiter solche Sprüche schicken. Er konnte mir nichts anhaben. Was würde ein 10 Jahre altes unscharfes Foto schon beweisen?  Es gab den Wagen nicht mehr, ich hatte nichts angefasst. Ich konnte mir den besten Anwalt leisten. Wahrscheinlich wollte der Mistkerl nur Geld. Und das sollte machbar sein. Ich liess mich ins Bett fallen und war umgehend eingeschlafen. Mitten in der Nacht wurde ich von eingehenden Mitteilungen geweckt. Ich schaute auf das Handy. Die Nachricht erschien in vielfacher Ausführung:

 

ERIC VON AU, MORGEN KOMMT DER TOD ZU BESUCH.

ERIC VON AU, MORGEN KOMMT DER TOD ZU BESUCH.

ERIC VON AU, MORGEN KOMMT DER TOD ZU BESUCH.

 

Von da an lag ich mit offenen Augen im Bett und starrte an die Decke über die sich die Schatten der Bäume bewegten. Ich schlug auf die Matratze und schmetterte die Kissen durch das Zimmer. Eine Nachttischlampe ging zu Bruch. Irgendwann nickte ich ein.

 

Der nächste Tag begann mit Warten auf eine Nachricht meines Peinigers. Ich beschloss, eine Wanderung über mein Grundstück zu machen und wieder im Pool zu schwimmen. Ich wollte neue Kraft schöpfen, damit ich für die nächsten Geschehnisse fit sein würde. Es galt, als Sieger aus dem Kampf hervor zu gehen. Ich duschte ausgiebig im Poolhaus und fühlte mich besser. Der Blick in den Spiegel zeigte jedoch das Gegenteil. Meine Wangen hingen nach unten, die Tränensäcke waren weiter angeschwollen, die Augen rot unterlaufen. Sogar meine Haare schienen grauer geworden zu sein.

 

JEDER SCHATTEN WANDERT UND SCHON BALD STEHST DU WIEDER IM LICHT.

 

Es machte mir zunehmend Mühe, mich selbst zu motivieren. Joggend und in die Luft boxend kehrte ich zum Haus zurück. Widerwillig schaute ich aufs Handy. Es war schon Mittag, doch es gab keine neue Nachricht.  Vielleicht hatte der Kerl eingesehen, dass er mir keine Angst machen konnte und hatte aufgegeben. Ich ging in die Küche. Der Schreck liess mir den Atem stocken, mein Herz raste. Vor dem Herd stand eine Frau. Eine alte Frau mit weissem Haar. Ich sah eine geblümte Hausschürze, die über dem breiten Rücken spannte. Ein Faltenrock, Stützstrümpfe, weinrote Pantoffeln. Meine Mutter. Meine Mutter, die seit 3 Jahren tot war. Ich stand da im Türrahmen und konnte mich nicht bewegen. Sie drehte sich langsam um und lächelte mich an, wie sie mich immer angelächelt hatte. Ich stiess einen Schrei aus, drehte mich um und rannte, rannte aus dem Haus, weiter und weiter. Bis hinauf zum schützenden Wald. Ich konnte mich auf eine Parkbank retten, kurz bevor ich vor Erschöpfung zusammen gebrochen wäre. Ich keuchte und japste, hustete und kotzte auf die Wiese. Es brannte höllisch in meiner Brust. Langsam erholte ich mich und schaute zurück zum Haus. Da stand meine Mutter und schaute hinauf zu mir. Ich rappelte mich hoch und stolperte weiter, hinein in den Wald, so weit, bis ich das Haus und das Gespenst nicht mehr sehen konnte. Ich sank auf den Waldboden und lehnte mich an einen Baum. Einen klaren Gedanken konnte ich nicht mehr fassen. Ich stand kurz vor einer Ohnmacht. Ich blieb sitzen. Lange. Sehr lange. Ich versuchte, mich zu konzentrieren und nachzudenken. Die Geschichte wurde immer schlimmer, immer absurder.  Von einem Scherz konnte keine Rede mehr sein, das war Psychoterror. Offenbar hatte man eine Frau gefunden, die wie meine Mutter aussah und hatte sie entsprechend eingekleidet. Ihre Aufgabe war es, mich zu Tode zu erschrecken. Doch wie war sie hinein gekommen? Vielleicht war das wirklich meine Mutter. Meine Mutter, die gar nicht tot war und dieses Drama geplant hatte?  Wollte sie mich bestrafen? Bestrafen dafür, dass ich sie vernachlässigt hatte, dass ich nie Zeit für sie gehabt hatte? Dass ich froh gewesen war, als sie vor 3 Jahren das Zeitliche gesegnet hatte? Zu Beginn meiner Karriere hatte ich mich gerne mit ihr gezeigt. Hatte sie und das Mietshaus, in dem sie seit 40 Jahren lebte, gerne den Medien präsentiert. Man sollte sehen, dass ich aus einfachen Verhältnissen stammte, sie mich ohne Vater und ohne amtliche Unterstützung grossgezogen hatte und ich es trotzdem zu Vermögen und Ansehen gebracht hatte. Später änderten die Medien ihre Berichte, indem die Schlagzeilen lauteten: „Hat von Au vergessen, wem er seine Erfolge verdankt?“, oder „Er lebt in Saus und Braus, seine alte Mutter schleppt ihre Einkäufe allein und traurig in ihr einsames Zuhause.“ Dabei hatte ich ihr Unterlagen der luxuriösesten Seniorenresidenzen zugestellt und ihr versichert, alle Kosten dafür zu übernehmen.  Als sie sich weigerte, hatte ich ihr einen Lieferservice für die Einkäufe angeboten, sie gebeten, sich auf meine Kosten besser zu kleiden und sich wöchentlich frisieren zu lassen. Ich überwies ihr monatlich 2000 Franken. Doch meine Mutter weigerte sich hartnäckig. Das Einzige, was sie wollte, war mich zu sehen. Aber dazu fehlte mir die Zeit. Es verleidete mir, dass sie mir mit der ewig gleichen Bitte in den Ohren lag. Sie hätte sich etwas gönnen und das Leben geniessen können. Ich hatte getan, was ich konnte. Schlussendlich nervte sie mich nur noch und ich war heilfroh, wenn es keine neuen Pressebilder meiner „armen“ Mutter gab. Als sie starb, hinterliess sie mir den gesamten Betrag, den ich ihr überwiesen hatte. Vielleicht wollte sie sich nun dafür rächen, dass ich ihren Wünschen nicht nachgekommen war.  Ich schüttelte den Kopf. Nein, das war es nicht. Es handelte sich um eine Doppelgängerin, ein gemeines Schauspiel. Ein weiterer fieser Schachzug des unbekannten Feindes. Das alles sollte dazu dienen, mich fertig zu machen. Wie schon einmal gesagt: Nicht mit mir.

 

AM ENDE GEHÖRT DER SIEG DEMJENIGEN, DER UNBEIRRBAR SEIN ZIEL VERFOLGT.

ES GIBT NUR UMWEGE, NIEMALS DEN RÜCKSCHRITT.

 

Ich würde also zurück gehen und diese Frau entlarven. Vielleicht würde ich etwas über den Übeltäter erfahren. Doch was mich am meisten interessierte: Wie war sie hinein gekommen? Fast zwei Stunden hatte ich mich im Wald versteckt und als ich nun wieder auf die Lichtung trat, fragte ich mich, wer sich sonst noch auf dem Grundstück befand. War ich gar nie allein hier gewesen? Hatte mich jemand beobachtet? War ich so etwas wie der Hauptdarsteller in einer Psycho-Reality-Show? Mehr als ein Anwalt würde mit dieser Geschichte beschäftigen, wenn das alles vorüber war. Ich blickte umher,  schaute in jedes Gebüsch, mehr als ein Mal glaubte ich in einem Schatten einen Menschen zu erkennen. Alles blieb ruhig. Der Wind wiegte die Baumkronen sanft hin und her, die Sonne beleuchtete die perfekte Szenerie. Doch in mir tobte ein Gewitter. Im Haus stürmte ich direkt in die Küche. Sie war leer. Ich rannte in die umliegenden Räume, nach draussen, doch die Frau war verschwunden. „Wer immer Sie sind, bitte kommen Sie in die Küche, ich will mit Ihnen reden!“, rief ich, doch erhielt keine Antwort. Das Handy lag noch immer auf dem Esstisch. Zwei neue Meldungen waren eingegangen.

 

ERIC VON AU, HAST DU DIE FRAU ERKANNT, DIE IHR LEBEN FÜR DEINE ZUKUNFT GEGEBEN HAT?

ERIC VON AU, HAST DU ERKANNT, WELCHES  VERBRECHEN DU AN DEINER MUTTER BEGANGEN HAST?

 

Ach so, der Herr oder die Dame wollte also, dass ich mich schuldig fühlte, dass ich meine „Taten“ bereuen sollte. Doch ich würde nicht nachgeben, nicht einknicken, nein, ich nicht.

 

DU KANNST IM BALLON DES ERFOLGES NUR AUFSTEIGEN,

WENN DU ALLE SEILE GEKAPPT HAST.

 

Ich war Meister darin, alles aus dem Weg zu räumen, was mich behinderte.  Wäre ich nicht Eric von Au, hätte ich jetzt geheult. Stattdessen liess ich mich im Garten auf einen Liegestuhl fallen. Wenn er oder sie mich beobachtete, dann konnte dieser Mensch nun sehen, dass mir die Situation nichts anhaben konnte.  Sie sollte erkennen, dass ich für diese „Versteckte Kamera“ nicht geeignet war. Ich war Herr der Lage. Mit dieser Gewissheit nickte ich ein. Ich wachte auf, als es schon dunkel war. Zum Glück konnte ich mich erinnern, wo ich die Kerze und das Feuerzeug gelassen hatte. Mit der flackernden Kerze in der Hand suchte ich mir mein Abendessen zusammen. Auf der Kücheninsel fand ich einen Zettel. „Hallo Herr von Au. Es tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe. Mein Mann hat gesagt, dass Sie mich angerufen haben. Weil ich doch nicht zu meiner Schwester fahren konnte und wusste, dass Ihre Frau nicht da ist, wollte ich nach dem Rechten sehen. Ich weiss nicht, warum der Strom ausgefallen ist und werde mit Werner Kontakt aufnehmen, damit er morgen kommen und nach der Ursache suchen kann. Wie ich sehe, haben Sie die Kerzen gefunden. Die Lebensmittel sind frisch und Sie können sie unbedenklich essen, auch ohne Kühlung, sicher bis Montag. Freundliche Grüsse Gerda Aebischer.“ Mit Garantie war die Person, die ich gesehen hatte, nicht Gerda Aebischer  gewesen. Frau Aebischer war mittleren Alters, trug die schwarzen Haare ultrakurz, war fast so gross wie ich und eine sogenannte „Bohnenstange“. Man wollte mich nicht nur psychisch zermürben, man wollte mich in den Wahnsinn treiben. Im Keller lagerten noch etliche Flaschen Champagner. Ich hatte Glück, die Flasche Dom Pérignon, die ich mir geschnappt hatte, war nicht mehr perfekt gekühlt, doch trinkbar. Der gute Stoff. Ich trank die ganze Flasche und legte mich ins Bett. Beinahe fühlte ich mich locker und unbeschwert. Beinahe. Ich schaute nochmals auf das Handy.

 

ERIC VON AU, TRÄUME GUT VON DEINER HERRLICHEN ZUKUNFT.

ERIC VON AU, MALE DIR AUS, WIE DEINE ZUKUNFT AUSSEHEN WIRD, WENN DIE ÖFFENTLICHKEIT VON DEINEN VERBRECHEN ERFAHREN HAT.

 

Ich leerte eine zweite Flasche, dann fiel ich in einen traumlosen Schlaf.

Ein strahlender Morgen weckte mich, meine Glieder und mein Kopf waren schwer wie Blei. Jemand hämmerte in meinem Kopf, mühsam quälte ich mich aus dem Bett. Mann, sah ich heute Scheisse aus. Mit viel Wasser und zwei Aspirin versuchte ich zu einem Normalzustand zurück zu finden. Als ob irgendetwas damit wieder „normal“ werden würde.  Ich konnte kaum geradeaus schauen. Die neueste Handybotschaft verschwamm vor meinen Augen, mehrmals musste ich blinzeln und die Augen zusammen kneifen. Da stand:

 

ERIC VON AU, ERINNERST DU DICH AN DEN 3. JUNI 2015?

 

Ich stöhnte auf. Was sollte das? Selbstverständlich erinnerte ich mich an dieses Datum. Es war der Tag der Gerichtsverhandlung gegen meinen früheren Geschäftspartner Tom Landolt.  Ich erinnerte mich genau an das Hochgefühl, das ich beim Verlassen des Gerichtssaales hatte.  Selbstverständlich hatte ich gewonnen. Ganz nach dem Motto

 

VORBEREITUNG IST PFLICHT. SO BEHÄLTST DU DIE FÜHRUNG.

DANN GEHÖRT DER SIEG DIR.

 

Mit dieser Geschichte konnte mir niemand kommen. Da war alles mit rechten Dingen zu und her gegangen, das Prozessergebnis hatte es bewiesen. Lächerlich, mir deswegen heute Angst einjagen zu wollen. Ich beschloss, diesem unbekannten Psycho den imaginären Stinkefinger zu zeigen. Sobald der technische Normalzustand hier wieder hergestellt war, konnte ich mich auf die Suche nach dem Scherzbold machen und Rechtsanwälte und Detektive anheuern. Und dann zusehen, wie man diese Person ins Gefängnis warf. Mit Joggen und Schwimmen stabilisierte sich mein Kreislauf. So geht Starksein.

Und doch beschäftigte mich die Frage, womit Mister X als nächstes auftrumpfen wollte. Um 15 Uhr erhielt ich folgende Botschaft:

 

ERIC VON AU. HAST DU DARÜBER NACHGEDACHT, WIE DAS URTEIL AUSGEFALLEN WÄRE, WENN DIE RICHTER GEWUSST HÄTTEN, WAS DU WUSSTEST? 

 

Verdammt. Doch damit war gar nichts gesagt. Solche Aussagen sollten mich verunsichern, mich in die Knie zwingen.  Es gab keine Beweise für ein Fehlverhalten meinerseits.

 

ERIC VON AU, DU HAST NICHT NUR BETROGEN UND GELOGEN. DU HAST EINEN FREUND VERRATEN.

ERIC VON AU, HEUTE KOMMT ALLES ANS LICHT.

 

Ich schleuderte das Handy durch die Küche. „Kommt nur, ihr verdammten Arschlöcher und erzählt, was ihr glaubt, mir vorwerfen zu können. Nichts, nichts und wieder nichts wisst ihr. Es gibt keine Beweise!“, schrie ich. „Ich bin der Supercoach. Ich bin der Beste. Ich bin Eric von Au.“  

Einen Freund verraten. Freund, Freund, Freund, was war das schon? Tom war mein Geschäftspartner gewesen. Zugegeben, wir waren Freunde gewesen, hatten uns schon als Kinder gekannt und uns nie aus den Augen verloren. Wir hatten unsere Firma zusammen gegründet, waren gleichberechtigte Partner. Doch mir allein war es zu verdanken, dass unsere Kurse und Coachings von Jahr zu Jahr besser liefen. Tom lieferte die Unterlagen, schrieb unsere Selbsthilfebücher. Aber Tom wurde unzufriedener, er wollte unser Geschäft verändern, wollte es ‚ehrlicher‘ machen. Ich aber wusste, was die Kunden wollten: Erfolg, Geld, Luxus. Sie wollten so sein wie ich. An dieser Kreuzung begannen sich unsere Wege schleichend zu trennen. Ich spürte, dass er nicht mehr auf meiner Wellenlänge war. Sein Geschwafel von Anstand und Ethik ging mir auf die Nerven. Für mich war klar: Es wurden nur diejenigen über den Tisch gezogen, die über den Tisch gezogen werden wollten. Jeder, der unsere überteuerten Gebühren zahlte, war selber schuld. Sie kamen alle freiwillig. Immer häufiger gerieten wir aneinander. Von da an wusste ich, dass ich Tom loswerden musste. Doch ich wollte ihn auf eine Weise verabschieden, die mir den grösstmöglichen Gewinn brachte. Das war meine neue Herausforderung und ich würde auch diese meistern. Toms Nachlässigkeit mit seinem Rechner spielte mir voll in die Hände. Es lief, wie ich es geplant hatte:  Wir liessen die Firmenteilung von Experten durchführen, auch die Steuerbehörde schaute uns akribisch in die Bücher. Sie fanden heraus, dass Tom über ein Schwarzgeldkonto auf den Kaimaninseln verfügte, auf das er über Jahre Geld aus unseren Firmenkonten überwiesen hatte.  Er wurde angeklagt, schwor bis zuletzt unschuldig zu sein. Als man mich befragte, weshalb mir nicht aufgefallen war, dass Geld von unseren Konten verschwunden war, versicherte ich unter Tränen, dass ich nie an der Loyalität meines Geschäftspartners gezweifelt hatte und ihm stets voll und ganz vertraut hätte. Es habe nie einen Grund gegeben, an Tom zu zweifeln oder ihn zu kontrollieren. Am Ende wurde er zu zwei Jahren Gefängnis, einer Geldstrafe und der Rückgabe der veruntreuten Gelder verurteilt. Es blieben ihm lediglich die Rechte an seinen Büchern. Da ich längst auf einem anderen Weg war und eigene Bücher vertrieb, wanderten Toms Werke in den Keller, verschwanden aus unserem Onlineshop. Ob er noch je einen dieser Staubfänger verkaufte? Kaum. Danach konnte ich ungebremst meinen eigenen Weg weiter verfolgen. Mein Stern war weiterhin am steigen. Von Tom hörte ich nichts mehr.

 

LÖSE DICH VON ALLEN UND ALLEM, WAS DICH BREMST.

 

ERIC VON AU, ES GIBT BEWEISE, DASS DU DAS KONTO AUF DEN KAIMANINSELN ERÖFFNET HAST.

 

Beweise? Was sollten das für Beweise sein, es gab weder Überwachungskameras in unseren Büros, ich hatte immer zu Zeiten „gewirkt“, an denen sonst niemand im Haus war.

„Bleib ruhig Eric“, sagte ich mir, „da will dich jemand provozieren, will dich dazu bringen, die Kontrolle zu verlieren. Das kommt nicht in Frage!“

Ich ging unter die Dusche, willens, mich meinem Feind sauber, adrett und ungebrochen entgegen zu stellen. Der Tag zog sich hin, ich tigerte durch den Garten, sah Ecken meines Grundstückes, die ich nicht wieder erkannte. Ich hielt durch und zeigte eine stoische Ruhe, obwohl es in mir kochte. Wenn sie mich irgendwie filmten, dann würden sie nur einen aufrechten und ruhigen Eric von Au sehen, der seelenruhig die Blumen im Garten betrachtete. Am späten Nachmittag meldete sich das Handy. Endlich.

 

ERIC VON AU. ZEIT ZU BEICHTEN.

ERIC VON AU, ZIEH DICH HÜBSCH AN, WIR FÜHREN DICH ZUM BEICHTSTUHL.

 

Ich hatte nichts zu beichten. Immerhin, diese Farce ging dem Ende zu. Ich ging nach oben, machte mich frisch, klopfte mir etwas hautstraffende Lotion ins Gesicht und übte im Spiegel meinen Siegesblick. Als Garderobe wählte ich einen sommerlichen Leinenanzug.  Dann wartete auf die nächste Nachricht. Doch sie kam nicht. Stattdessen hörte ich, wie sich ein Hubschrauber näherte und kurz darauf in meinem Park landete. Das war also mein Empfangskomitee. Angemessen. Der Pilot stieg aus und öffnete mir die Tür. Er wies mich an, einzusteigen und mich anzuschnallen. Auf meine Fragen reagierte er nicht, sondern startete ohne zu zögern die Maschine. Ich hatte keine Flugangst, doch die Manöver in dieser Kiste brachten mich beinahe dazu, mich zu übergeben. Der Flug dauerte eine Stunde. Trotz meines guten Orientierungssinnes war es mir nicht gelungen, zu erkennen, wo wir gelandet waren. Wir waren in einem Industriegebiet, standen vor einer grossen, unbeschrifteten und fensterlosen Halle.

 

ERIC VON AU, WILLKOMMEN IN DER HÖLLE ZWEI

 

Ich folgte dem Piloten. Wir gingen durch menschenleere Korridore. Er öffnete eine Tür und wies mich an, einzutreten. Er schloss hinter mir die Tür. Ich war allein in einem pechschwarzen Raum. Das einzige Licht kam von einer Lampe, die auf dem einzigen Tisch stand. Zwei Stühle und sonst nichts mehr. Es sah aus wie ein Verhörraum aus einem dieser CSI-Krimis. Ich atmete tief durch und setzte mich lässig auf einen Stuhl. Doch meine Nerven vibrierten, ich musste nun endlich wissen, wer hinter diesen Attacken stand und was er oder sie mit mir vor hatte. Die Tür ging auf und hinein kam der Hüne, der vor drei Tagen bei der Fernsehshow in der Runde gesessen hatte. Er war es gewesen, der mich mit seinen billigen Hypnosetricks aus der Reserve zu locken versucht hatte. Ein unsympathischer Kerl, ein muskelbepackter Riese mit Glatze und Tattoos bis unter die Ohrläppchen.  Er setzte sich mir gegenüber. Kein Muskel bewegte sich in seinem Gesicht, als er mich ansah.

„Danke für die Einladung. Ich wusste gar nicht, dass die Show so lange dauern würde. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie nun mit diesem Quatsch aufhören und mir sagen könnten, was für ein perverses Experiment Sie hier mit mir veranstalten.“ Mit jedem Wort war ich etwas lauter geworden.

Verächtlich, doch unbeeindruckt, antwortete er: „Eric von Au, es ist Zahltag für dich. Du hast Verbrechen begangen, für die du nicht bestraft wurdest. Bis zu diesem Tag.“

Ich reagierte nicht. Würde ich mit irgendwelchen Ausflüchten kommen, hätte ich schon verloren.  

Er hob eine Augenbraue, lehnte sich im Stuhl zurück: „Eric von Au. Die Show wird mit deinem Geständnis und deiner Verhaftung enden. Du gestehst heute eines deiner Verbrechen. Zur Verdeutlichung: Du wirst jetzt vor Zeugen 1:1 ein astreines Geständnis zu einem deiner Verbrechen abliefern und dich der Strafverfolgung stellen. Wenn du schweigst, werden alle, ich wiederhole, alle deine Taten preis gegeben. Und denk gar nicht daran, die Wahrheit zu verdrehen und deine Spielchen zu spielen. Keine Chance. Wir sehen uns in fünf Minuten.“

Damit stand er auf und ging aus dem Raum. So war das also. Zwar wusste ich immer noch nicht, wer sich da als Engel der Gerechtigkeit aufspielen oder wer sich an mir rächen wollte. Doch die Situation sah eindeutig nicht optimal aus für mich. Hier half nur noch, zu gestehen und dabei bis zum Schluss gut auszusehen. Ich konnte nicht eine einzige Kamera entdecken, doch es war klar, dass hier die Fernsehshow fortgesetzt wurde.  Ich, Eric von Au, würde weiter grossartig performen. Ich musste nur überzeugend darstellen, dass ich eigentlich das Opfer gewesen war. Vielleicht konnte ich sogar eine Erpressung vorgaukeln.  Geeignet dafür war nur die Geschichte mit Tom. Wenn ich es gut machte, würde später auch ein Gerichtsurteil milde ausfallen. Der Unfall mit der Toten und der Fahrerflucht war eindeutig nicht dazu geeignet.  Was immer jetzt geschah, ich durfte das Heft nicht aus der Hand geben.

 

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Ich lebte, was ich predigte. Es machte mir beinahe Spass, diese Herausforderung anzunehmen.

Der Hüne kam zurück und setzte sich. „Eric von Au, hast du eine Entscheidung getroffen?“

„Ja“, antwortete ich. „ich werde über Tom sprechen.“

„Eric von Au, nur dass dir klar ist, hier wird nicht irgendetwas geplaudert. Du wirst meine Fragen beantworten und du wirst die Wahrheit sagen. Du wirst keine Möglichkeit haben, deinen Schmierencharme auszupacken, die Wahrheit zu verdrehen und die Leute zu manipulieren.  Du gestehst und zwar die Wahrheit. Damit du nicht vom rechten Weg abweichst, habe ich hier noch etwas für dich.“

Er schob mir eine Tabelle über den Tisch. Sie zeigte vier Spalten. Zuerst die Zeiten, in denen Tom ausserhalb der Geschäftszeiten am Rechner gewesen war. Dann die Zeiten der Überweisungen. Die dritte Zeile zeigte, wann ich an diesen Daten das Büro betreten und verlassen hatte. In der vierten Zeile waren Toms Alibis aufgeführt. Das Papier überführte mich. Scheisse. Ich hatte keine Chance, mich da herauszuwinden.

„Kann ich Ihnen glauben, dass niemand von der Unfallgeschichte erfährt, wenn ich zum Thema ‚Tom‘ alles sage?“, wollte ich wissen.

„Eric von Au, du bist hier nicht der, der Fragen stellt. Doch diese will ich dir beantworten: Im Gegensatz zu dir, kannst du auf mein Wort vertrauen. Es gibt sie noch, die ehrlichen und aufrichtigen Menschen.“

„Schön für dich“, dachte ich.

„Eric von Au, bist du bereit, meine Fragen zu beantworten?“

„Ja“, sagte ich.

„Am  3. Juni 2015 fand der Prozess gegen deinen Partner Tom Landolt statt. Ihm wurden Unterschlagungen und das Führen eines Schwarzgeldkontos zu Last gelegt. Du hattest ausgesagt, nichts davon zu wissen. Entspricht diese Aussage der Wahrheit?“

„Nein“, sagte ich und senkte schuldbewusst meinen Kopf. Ich musste jetzt glaubhaft machen können, dass ich ehrliche Reue zeigte. „Ich wusste davon.“

„Und warum wusstest du davon?“

„Ich wusste davon, weil ich selbst das Konto eröffnet und die Überweisungen veranlasst hatte.“

„Als du 2012 dieses Konto auf den Namen von Tom Landolt eröffnet hast, hattest du schon geplant, damit deinen Partner und Freund zu hintergehen und ihn so aus der Firma zu katapultieren. Ist das richtig?“

„Ja“, flüsterte ich.

„Damit hast du deinen Partner und Freund nicht nur um seinen Firmenanteil, sondern auch um sein Ansehen und seine Ehre gebracht. Ist das so?“ Seine Stimme hatte an Schärfe zugenommen.

„Mir allein war der Geschäftserfolg zu verdanken, mir stand mehr als die Hälfte des Gewinnes zu. Das war mein Geld, mein Erfolg, in Tat und Wahrheit mein Geschäft!“, rief ich etwas zu aufgebracht.

„Du hast also aus lauter Geldgier und Egoismus deinen Freund und Geschäftspartner nicht nur um seinen Anteil, sondern auch um zwei Jahre seines Lebens gebracht?“

„Ja“, krächzte ich und legte schluchzend den Kopf in meine Hände. Mein Körper bebte. Das würde in den Aufnahmen gut zu sehen sein. „Ich konnte ja nicht ahnen, dass er ins Gefängnis kommen würde.“ Hoffentlich nahmen sie mir wenigstens das ab.

„Hast du an die Folgen für Tom Landolt und seine Familie gedacht, während du dein Leben unverändert weitergeführt hast?“

„Nein, ich dachte nur an die Firma und daran, dass ich keine Mitarbeiter entlassen wollte.“ Ich wagte einen Versuch, Gewissen zu zeigen.

„Ich wiederhole meine Frage. Hast du an die Folgen für Tom Landolt und seine Familie gedacht?“

„Nein.“, hauchte ich.

„Bereust du deine Tat?“

„Ja“, ich war bereit, auf diesen Zug aufzuspringen. „Ich bereue sie sehr. Ich bin froh, dass ich endlich gestehen konnte, denn meine Tat lastet nun schon so lange auf meinem Herzen.“ Ich machte eine flehende, bettelnde Geste. Es sollte so aussehen, als würde ich vor einem Altar um Hilfe für meine Seele bitten. „Ich werde mich den Behörden stellen und meine Strafe annehmen.“

„Was sagst du zu Tom, wenn du ihm begegnest?“

„Ich werde ihn um Verzeihung bitten und er wird eine finanzielle Entschädigung erhalten.“  Ich gab mich tief beschämt.

„Eric von Au, du hast gestanden und du wirst deine Strafe erhalten. Die Polizei erwartet dich.“

„Ja“, hauchte ich und liess ein paar Krokodilstränen kullern.

Mein Gegenüber war davon nicht beeindruckt. Wäre es in diesem Raum nicht so heiss gewesen, ich wäre unter seinem Blick erfroren. Ich war erleichtert. Endlich vorbei. Alles Weitere würden meine Anwälte gut regeln. Sehr gut regeln. Davon war ich überzeugt. Hauptsache, diese Horrortage waren zu Ende. Ich zeigte mich demütig und fragte leise: „Würden Sie mir noch verraten, wer Sie sind?“

Der Hüne sah auf mich herab, als wäre ich der letzte Dreck. Statt einer Antwort spürte ich unter meinen Füssen ein Vibrieren, hörte das Schleifen von Platten, die sich verschoben. Und dann gingen Scheinwerfer an, die Wände verschwanden, ich blickte in Reihen von Zuschauern, wir sassen mitten auf einer Bühne. Das Publikum regte sich nicht, schaute erwartungsvoll auf mich und den Hünen. Offenbar erwarteten sie Spannendes.

„Eric von Au, du möchtest wissen wer ich bin?“ Er fixierte mich sekundenlang. Dann hob er seine Hand vor mein Gesicht und schnippte er mit den Fingern.

 

„Tom.“, krächzte ich.

 

Ein Schalter war in meinem Kopf umgelegt worden. Ich kniff meine Augen zusammen. Als ich sie wieder öffnete, stand Tom immer noch vor mir. Er sah genau so aus, wie in den Minuten zuvor, mit dem einzigen Unterschied, dass ich ihn jetzt erkannte. Wenn es einen Moment gab, an dem ich um Fassung ringen musste, dann war es dieser. Das Publikum tobte vor Begeisterung. Eine Moderatorin trat auf die Bühne. Sie strahlte: „Meine Damen und Herren, beglückwünschen Sie den grossartigen Viktor Frank, der mit seinen unglaublichen Fähigkeiten ein grosses Verbrechen ans Tageslicht gebracht hat!“ Tom trat nach vorne und verbeugte sich tief. Eine Band spielte eine Siegeshymne. Die Menschen klatschten und stampften mit den Füssen, die Halle bebte. Im Hintergrund leuchtete und blinkte eine übergrosse Schrift „Viktor Franks einzigartige Hypnoseshow“. Ich glotzte ungläubig. Mir blieb die Sprache weg. Zwei Polizisten kamen auf die Bühne, packten mich an den Oberarmen und zogen mich unsanft auf die Füsse, als wäre ich eine Trophäe. Sie zerrten mich nach vorne und präsentierten mich dem Publikum.

„Sehen Sie, meine Damen und Herren, bei uns ist alles echt, Eric von Au wird nun von den Vollzugsbeamten abgeführt. Wir hoffen alle, dass er seine gerechte Strafe erhält!“, rief die Moderatorin.

Die Leute schrien: „Werft ihn ins Gefängnis!“ oder „Verrotten soll er, dieses Schwein!“ Ich war froh, mit den Beamten nach draussen stolpern zu dürfen. Durch die langen Korridore hallte Jubel und Musik. Da hatte wohl einer die Leute im Sack. Ausnahmsweise war nicht ich es.

 

4 thoughts on “Schuldlos

  1. Hallo Belinda,
    ich gratuliere dir zu dieser wahnsinnig guten Geschichte! Ich bin begeistert! Das ist die beste Geschichte, die ich bisher gelesen habe. Du hast es verstanden, die Spannung bis zum Schluss zu erhalten. Dein Herr von Au ließ mich so manches Mal schmunzeln. Es war mir ein großes Vergnügen, deine Geschichte zu lesen. Ich hoffe, du bekommst noch viele Likes und schaffst es ins eBook.
    Liebe Grüße
    Angela

    PS: Vielleicht magst du meine Geschichte (Stunde der Vergeltung) auch lesen? Ich würde mich über einen Kommentar und, bei Gefallen, ein Like sehr freuen. 😊

    1. Hallo Angela. Danke für dein Kompliment. Seit Wochen habe ich mich heute zum ersten Mal wieder auf dieser Seite eingeloggt und tatsächlich ein paar Likes und deinen freundlichen Kommentar gefunden 😊. Selbstverständlich habe ich eben deine Geschichte gelesen und zwar in einem Zug. Wirklich spannend! Als Mutter habe ich sofort mit der Protagonistin mitgeführt und sie war mir sympathisch. Als sie sich dann zur “Bösen” wandelte, hat mich das überrascht und verblüfft. Genauso mag ich es!!! Mein Like hast du. Liebe Grüsse

  2. Hallo Belinda,

    eine großartige Storie! Etwas lang für eine Kurzgeschichte, aber das durchhalten hat sich gelohnt!

    Für mich als Murphy-Fan und für jemand der weiß, wie man sein Unterbewusstsein programmiert, Stichwort Mindsetting, war diese Geschichte einfach MEGA! Hat mir richtig gut gefallen! 👍🏻👍🏻
    Think Big, Think positive!

    Deine Geschichte war sehr kurzweilig, der Plot gut erzählt und der Twist am Ende, super heraus gearbeitet. Du benutzt eine tolle Wortwahl um deine Geschichte zu erzählen.
    Eric von Au hast du fabelhaft, detailliert skizziert.
    Da ist dir was richtig gutes gelungen. Deine Geschichte muß gelesen werden, die Drumsticks für die Werbetrommel verlegt?

    Von mir bekommst du auf alle Fälle ein Like, wenn ich könnte auch 2-3!

    LG Frank aka leonjoestick ( Geschichte: Der Ponyjäger)

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