klarafriedlStrahlend blaue Augen

Mit Tränen in den Augen drückt sie auf „senden“ und legt das Handy auf ihr Bett. Als sie sich umdreht, um ihren Blick ein letztes Mal durch das Zimmer schweifen zu lassen, kann sie nur mit Mühe einen lauten Schluchzer unterdrücken. Sie hört noch, wie das Handy vibriert und sieht es aufleuchten, doch sie lässt es liegen und geht.

Der Mann wartet noch immer vor der Tür auf sie. Wortlos folgt sie ihm zum Auto, das nur einige Meter weiter weg geparkt ist. Sie erschrickt vor dem Geräusch, das der Autoschlüssel von sich gibt, als der Mann, dessen Gesicht von der tief über sein Gesicht gezogenen Kapuze verdeckt ist, auf den Knopf drückt, der das Fahrzeug öffnet.

15 Minuten später betreten sie das Restaurant durch den Hintereingang und steigen die Treppen in den Keller hinab. Ein langer Gang führt sie in ein prachtvoll eingerichtetes Büro. Hinter einem riesigen Schreibtisch, der mitten im Raum steht, sitzt eine blonde Frau, deren Blick sofort auf den beiden Neuankömmlingen haften bleibt. Ihre einzigartigen blauen Augen sind sogar in der schummrigen Beleuchtung genauso faszinierend wie bei Tageslicht. Das Mädchen sieht sich unsicher im Raum um und versucht den Augenkontakt mit der Frau zu vermeiden. Sie ist sich dessen bewusst, dass diese die letzten Momente ihres Lebens sind. Aus dem Augenwinkel bemerkt sie das Nicken der Frau, das ihrem Begleiter, der noch immer von einer Kapuze verhüllt ist, gilt. Plötzlich spürt sie, wie jemand sie an ihrem Arm packt, doch bevor sie aufschreien kann dringt ein stechender Geruch in ihre Nase, und vor ihr verschwimmt alles. Das Letzte, was sie sieht, ist ein strahlendes Blau.

Verena blinzelt langsam. Etwas hat sie geweckt, aber sie weiß noch nicht was, war es ihr Sohn, der weint? Nein, es hört sich nach einem Klingelton an. Mühevoll streckt sie die Hand nach ihrem Handy aus, das auf den Nachttisch liegt. Doch als sie es sich vor das Gesicht hält, leuchten ihr nur ihr Hintergrund und die Uhrzeit entgegen, der schrille Ton ist aber noch immer da. Verwirrt zwingt sie sich dazu, aufzustehen und taumelt schlaftrunken in die Richtung, aus der das Geräusch kommt. Kurzzeitig überlegt sie, ob es das Handy ihres Mannes sein könnte, das sie zu so einer späten Stunde weckte, aber sie verwirft diesen Gedanken gleich wieder, da der erst in zwei Tagen von seiner Geschäftsreise zurückkommen wird. Als vor dem Badezimmer stehen bleibt, hört sie den Ton am lautesten, weshalb sie den Raum betritt. Sie schaltet das Licht an, nach einigen Sekunden hatten sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt und entdeckt die Ursache der Störung: ein altes Smartphone mit zersprungenem Display, das neben dem Waschbecken liegt. Verwundert hebt Verena es auf und sieht, dass das es sich nicht um einen Anruf, sondern um einen Wecker handelte, der dafür verantwortlich war, dass sie nun um 2:45 in der Früh im Bad stand. Sie tippt auf „Stopp“, worauf eine himmlische Ruhe folgt. Einige Sekunden lang starrt sie den schwarzen Hintergrund an, doch plötzlich fällt ihr ein Detail auf, das sie zuvor übersehen hatte: Der violette Rand der Handyhülle, ein so unscheinbares Merkmal, das jedoch ein mulmiges Gefühl in Verena auslöst. Langsam dreht sie das Gerät um. Eine violette Hülle mit Glitzersteinen. Auf einen Schlag ist Verena hellwach. Sie kannte dieses Handy, sie hatte es schon einmal in der Hand gehabt, nämlich im schlimmsten Moment ihres Lebens. Sie verspürt ein unangenehmes Kribbeln in ihrem Bauch und ihrem Kopf und braucht einige Sekunden, um sich zu sammeln. Wie konnte das sein?
Alles in ihr sträubt sich dagegen, das Handy weiter in Betracht zu nehmen, sie will es eigentlich so schnell wie möglich loswerden. Dennoch drückt sie auf den Home-Button, woraufhin ein Nummernfeld erscheint, darüber vier kleine Kreise. Ein vierstelliger Code also. Mit zitternden Fingern tippt sie die ersten vier Zahlen ein, die ihr im Zusammenhang mit dem Handy in den Sinn kommen. 2-0-1-0. Die vier kleinen Kreise zucken hin und her, fast so, als würden sie den Kopf schütteln. 1-9-9-3. Auch der zweite Versuch ist nicht richtig. 4-0-0-1. Das Nummernfeld verschwindet und legt einen weiteren Schock für Verena frei. Ein Hintergrundbild, auf dem sie selbst zu sehen ist. Ihr früheres Selbst, mit schwarz gefärbten Haaren, schwarzer Kleidung und schwarzem Make-up. Neben auf dem Foto steht jemand, die aussieht wie sie, aber nicht sie ist. Ihre Schwester. Zwillingsschwester, um genau zu sein.
Auf dem Home-Screen sind nur zwei Apps zu sehen: Notizen und Fotos. Sie entscheidet sich dafür, zuerst die Galerie zu öffnen. In der App befinden sich drei Bilder, eines davon ist das Hintergrundbild. Auf dem zweiten Foto ist wieder sie selbst abgebildet, diesmal aber wie sie bei Nacht zwischen zwei Autos auf einem Parkplatz ein braunes Päckchen von einer kapuzenverhüllten Gestalt übernimmt. Nach und nach versteht Verena immer mehr, was hier vor sich geht.
Auf dem dritten Bild ist ein Grabstein zu sehen. Marina Denbach, 1993 – 2010.
Der Name Marina ist jedoch von einem roten Strich durchkreuzt, rechts daneben steht in der gleichen roten Farbe stattdessen ein anderer Name. Verena.
Nun verliert Verena endgültig die Fassung. Sie stößt einen spitzen Schrei aus, aber schlägt sich gleich danach mit der Hand vor den Mund und stolpert nach hinten. Im letzten Moment stützt sie sich noch am Rand der Badewanne ab und setzt sich langsam hin. Sie spürt die Panik immer stärker in sich hochsteigen, ihr wird schwindlig und ihr Magen zieht sich zusammen. Auf allen Vieren kriecht sie zur Toilette und kann gerade noch rechtzeitig den Kopf über die Schüssel halten, bevor sie sich übergibt.
Immer noch schwer atmend lehnt sie sich mit dem Rücken gegen die Badewanne und schließt die Augen. Auf einmal kommen alle Emotionen zurück, die sie über die letzten zehn Jahre so mühevoll versucht hat, loszuwerden. Die Angst, die Trauer, die Wut, die Schuldgefühle.
Nach 20 Minuten wagt sie es, das Handy wieder in die Hand zu nehmen. Auch wenn sie weiß, dass es ein großer Fehler sein würde, öffnet sie die App Notizen. Wieder schießen ihr die Tränen in die Augen, als sie genau das vorfindet, was sie befürchtet hatte. Dennoch öffnet sie die Notiz, und beginnt zu lesen.

Liebe Marina,
wenn du das liest, bin ich bereits weg, und nachdem du es gelesen hast, musst du dieses Handy zerstören.
Ich muss mich beeilen, das zu schreiben, denn draußen wartet jemand auf mich, den du vermutlich kennst.
Ich kenne dein Geheimnis, ich weiß, dass du nicht wirklich in dem Restaurant arbeitest, sondern für eine Drogenorganisation, und ich weiß auch warum. Sie haben mich mit dir verwechselt und entführt. Da habe ich erfahren, dass du einen Fehler gemacht hast, der ihnen 2 Millionen Euro gekostet hat, und durch den sie fast aufgeflogen wären.
Marina, ich weiß, dass du nur für sie gearbeitet hast, um unsere Familie finanziell zu unterstützen, nachdem wir so viel für meine Behandlung ausgeben mussten. Was du aber nicht weißt ist, dass ich den Krebs noch nicht besiegt habe. Ich wurde erneut diagnostiziert, aber Mama, Papa und ich wollten es dir und Valentin erst sagen, wenn wir genaueres wissen.
Die Gang weiß nicht, dass sie die falsche Schwester haben. Ich weiß, dass ich nicht es ein zweites Mal überleben werde, durch den ganzen Schmerz der Therapie noch einmal zu durchleben. Ich danke dir für alles, was du je für mich getan hast, du hast ein wunderbares Leben verdient.
Aber ich muss etwas beinahe Unmögliches von dir verlangen: Du musst mein Leben weiterleben. Bitte, du kennst mich so gut wie niemand anderes, und wenn sich herausstellt, dass du, Marina, noch am Leben bist, kommt unsere Familie nur noch mehr in Gefahr, dann war alles umsonst. Du weißt, dass es keine Lösung wäre, zur Polizei zu gehen, also darf niemand jemals hiervon erfahren.
Marina wird als vermisst gelten, und bei Verenas nächstem Arztbesuch wird eine Fehldiagnose festgestellt werden.
Alles wird gut. Ich hab dich lieb.
Verena

In dem Moment, als sie fertiggelesen hat, spürt sie etwas auf ihrer Schulter. „Marina“, flüstert eine Stimme. Sie möchte aufschreien, aber als sie den Mund öffnet, kommt kein Ton heraus.
Sie dreht sich um. Blaue Augen starren ihr entgegen. Augen, die sie niemals vergessen könnte, die sie seit zehn Jahren in ihren schlimmsten Albträumen verfolgen.
„Letztendlich bist du uns dann doch nicht entkommen“, faucht die Frau sie an. „Marlene“, stößt sie mit zittriger Stimme aus.
„Dachtest du wirklich, es sei eine gute Idee, das Handy in deinem Zimmer zu verstecken? Hast du wirklich nicht damit gerechnet, dass wir die Wahrheit eines Tages herausfinden werden?“
„Aber, wie…“ stammelt Marina. „Du kennst doch sicher deine Psychotherapeutin, Lorena Morel“ fährt Marlene fort. „Eine andere Person unseren Interessens ist ebenfalls ein Patient von ihr, und da wir befürchteten, dass zwischen euch beiden ein Zusammenhang besteht, mussten wir diesen natürlich ausfindig machen. Es stellte sich heraus, dass das nur ein Zufall war, aber dafür fanden wir einige andere interessante Sachen in deiner Akte.“
Marina schluchzt. „Bitte, ich habe eine Familie, und ich habe mich in den letzten 10 Jahren so unsichtbar wie möglich gemacht.“
„Klassische Ausreden, aber sie funktionieren nie. Wir verlieren nicht gerne. Niemand entwischt uns so leicht. Ich war mir von Anfang an sicher, dass etwas faul an der Geschichte der Familie Denbach ist. Und siehe da, ich hatte mal wieder recht.“
Marlene dreht sich um, winkt, und ein Mann, der Marina nur allzu bekannt ist, erscheint.
Wieder wird ihr schwindelig, sie weicht ein paar Schritte nach hinten aus, aber sie sieht, wie der Mann eine Pistole zückt. Sie zittert am ganzen Leib und bekommt kaum mehr Luft. „Nein!“, schreit sie, aber es ist zu spät. Ein stechender Schmerz durchfährt sie.
Marina fällt zu Boden. Das Letzte, das sie sieht, sind strahlend blaue Augen.

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