Johanna LoeschhornVergebung ist gut – Rache ist besser

Erdklumpen prasselten ihm auf den Kopf und das Atmen fiel ihm immer schwerer. Die Luft um ihn herum war feucht und es roch nach Regen. Es war still. Nur ganz gedämpft nahm er das Geräusch knackender Äste und das Rascheln einiger Blätter im Wind war. Ein kühler Luftzug kitzelte seine Nase.Die nächste Ladung Erde landete direkt auf seinem Gesicht. Er wollte husten, sich befreien und die Erdklumpen aus seinem Mund entfernen, doch er konnte sich nicht rühren. Nicht eine Muskelfaser seines Körpers unterlag seiner Kontrolle. Er wusste, er konnte es nur über sich ergehen lassen, wissend, dass das Ende nahte – sein Ende. Panik machte sich in ihm breit, flutete jeden Zentimeter seines bewegungsunfähigen Körpers. Doch dann beschlich ihn ein neuer Gedanke. Er kannte diesen Ort, dieses Loch; war schon unzählige Male hier gewesen. Aber irgendetwas an dem Bild heute war falsch, furchtbar falsch. Wieso wurde er in einem Loch im Boden vergraben? Müsste er es nicht sein, der die Schaufel führte. Sein panischer Blick suchte, von diesen neuen Gedanken angeführt, nach der Silhouette seines Totengräbers. Erst wollten seine Augen ihm kein klares Bild liefern, doch je länger er sich anstrengte desto klarer wurde es. Am Rand des kreisrunden Lochs im Boden auf der kleinen Lichtung im Wald stand ein großer Mann mit gelocktem Haar. Sein sportlicher Körper beförderte mühelos immer mehr Erde über den toten Körper, der das Loch im Boden fast gänzlich ausfüllte. Er begrub sich tatsächlich selbst. In dem Augenblick als John sich dessen bewusst wurde, wechselte seine Perspektive auf der Stelle. Mit einem Mal sah er nicht mehr aus dem Loch hinaus, sondern blickte in das Loch hinein. Das Gewicht der Schaufel in seiner rechten Hand machte sich genauso plötzlich bemerkbar wie die Tatsache, dass er nun wieder die volle Kontrolle über seinen Körper erlangt hatte. Vorwurfsvoll blickten ihn die toten Augen des Mannes aus dem Loch entgegen. Er trug einen kirschroten Pullover und blaue Jeans. Aber John konterte den Blick seines Opfers nur mit einem überlegenden Lachen. Ein Gefühl von unendlicher Macht hatte die Panik nun vollständig ersetzt und durchströmte ihn von innen heraus. Es war ein gutes Gefühl. Dann traf ihn ohne Vorwarnung etwas hartes am Hinterkopf und er verlor das Bewusstsein.

Als John ruckartig die Augen öffnete, hatte der Wecker noch nicht geklingelt. Er drehte sich auf den Rücken und kontrollierte seine Atmung. Der Traum hatte ihn aufgewühlt, das durfte er sich nicht anmerken lassen. Es kostete ihn einige Minuten bis er sich wieder gefangen hatte. Mit einem Stöhnen drehte er sich schließlich zur Seite und warf einen Blick auf das Ziffernblatt seine Weckers, der neben ihm auf dem kleinen Nachttischchen stand. 6:28 Er hatte also noch zwei Minuten Zeit. Er drehte den Kopf zur Seite und betrachtete die Frau neben sich im Bett. Sie hatte schöne gepflegte lange blonde Haare und duftete nach Rosenblüten und Kokosnuss. Die Umrisse des Körpers, die sich durch die helle gemusterte Decke abzeichneten waren wohl proportioniert und noch seelenruhig im Tiefschlaf. Er streckte den Arm unter der gemütlichen Wärme der Bettdecke hervor und schaltete den Wecker aus, damit sie nicht gleich unsanft durch den schrillen Ton des Alamrs aus dem Schlaf gerissen würde. Er betrachtete ihre weichen geschlossenen Augenlider und ein Gefühl des Glücks durchströmte ihn.

„Guten Morgen“, hauchte er ihr sanft ins Ohr. Der Körper unter der Decke begann sich langsam zu bewegen, die Augen blieben noch geschlossen. Mit fließenden Bewegungen setzte sich John an die Bettkante, stellte sanft beide Füße auf den flauschigen Teppich und richtete sich auf. Er trat zu den Fenstern auf seiner linken und schob die grauen dicken Vorhänge beiseite, um das erste bisschen Tageslicht ins Zimmer zu lassen. Draußen war

alles bereits in ein frisches Hellblau getränkt, Vogelgezwitscher drang leise durch das Glas ins Schlafzimmer.

„Aufstehen mein Liebling“, sagte John zu der Frau, die nun langsam auch die Augen öffnete. Dann durchquerte er mit wenigen Schritten den Raum und verschwand im angrenzenden Badezimmer. Lena hörte das Prasseln des Wassers als John die Dusche anstellte. Widerwillig strampelte sie die warme Decke von sich und verließ die wohlige Geborgenheit ihres Bettes. Sie war kein Morgenmensch. Das war sie noch nie und das würde sie auch nie werden, dessen war sie sich sicher. Sie warf einen mürrischen Blick in Richtung der fröhlich singenden Amsel, die es sich vor ihrem Schlafzimmerfenster gemütlich gemacht hatte. Lena torkelte noch schlaftrunken in die Küche und griff beinahe schon automatisch an die Kaffeemaschine. Das Geräusch des Wassers das sich seinen Weg über die Kaffeebohnen in die Kanne bahnte klang wie Musik in ihren Ohren. Der Geruch nach frisch gekochtem Kaffee erfüllte die kleine Küche und ließ ihre Laune sofort besser werden. Lena griff gezielt in die kleinen weißen Hängeschränke und zog einige Teller und Schüsseln hervor, um den Holztisch in der Ecke für ein schnelles gemeinsames Frühstück zu decken, bevor sich die Wege von John und ihr vorerst trennen würden. Während John sich acht Stunden lang mit Zahlen und Meetings in einem dieser großen Bürogebäude um die Ohren schlagen würde, hätte sie Freude daran in ihrer kleinen Boutique die Straße hinunter jung und alt in Modefragen zu beraten. Bei dem Gedanken an den heutigen Tag und das was ihr noch bevorstand, stahl sich ein Lächeln in Lenas Gesicht. Der Tag würde aufregend werden. Sie hatte lange auf ihn warten müssen. Doch noch bevor sie sich weiter ihren Gedanken hingeben konnte, tauchte John in der Küche auf. Er hatte den gestreiften Pyjama gegen einen dunkelblauen Anzug und eine Krawatte getauscht. Sein dickes leicht lockiges schwarzes Haar umspielte sein Gesicht. Er sah gut aus.

„Guten Morgen“, brachte nun auch Lena hervor und griff nach der Kanne mit dem frischen Kaffee. Sie teilte ihn in zwei große Tassen auf und setzte sich auf einen der weißen Stühle, die um den kleinen Esstisch herumstanden. John nahm auf dem Stuhl ihr gegenüber platz.

„Hat Miss Morgenmuffel jetzt also schon die Höhle des Grummelns verlassen?“, stichelte John und erntete dafür eine Grimasse von Lena.

„Es können nicht alle morgens gleich so unverschämt gut gelaunt sein wie du“, antwortete sie ihm. Als sich ihre Blicke trafen, mussten beide anfangen darüber zu lachen. Da war es wieder, das Lachen das sein Leben vor zwei Jahren vollkommen verändert hatte. Als er sie damals lachend im Regen an der Bushaltestelle mit ihrer Freundin gesehen hatte, war ihm schlagartig bewusst geworden, dass er sie unbedingt für sich gewinnen musste. Nicht so wie er seine bisherigen Oper für sich eingenommen hatte. Mit Lena wollte er das Leben teilen, nicht den Tod. Noch in eben diesem regnerischen Augenblick auf der Straße vor dem Rathaus, hatte er sich geschworen sein Leben für sie zu verändern; für sie zu einem anderen, einem besseren Menschen zu werden. Mit der Umsetzung seines Vorhabens hatte er nicht eine Sekunde gewartet und war sich bis heute treu geblieben. Er hatte sein kleines Hobby, wie er es gerne genannt hatte, sofort aufgegeben und nur noch ein kleines Andenken an diese Zeit behalten und sicher verwahrt. Als er daran dachte, verspürte er ganz plötzlich den Drang seinem einzig verbliebenen Schatz von damals ganz nahe zu sein. Hastig biss er noch zweimal von seinem Honigbrot ab und spülte es mit ein wenig Kaffee hinunter.

„Es tut mir leid, ich bin schon wieder spät dran“, murmelte er und sprang auf. Er gab Lena einen kurzen Kuss auf die Stirn und schnappte sich seinen Aktenkoffer. Mit zügigen Schritten ging er auf die Wohnungstür zu.

„Du bist überpünktlich wie jeden Morgen“, hörte er Lena noch protestieren bevor die Tür wieder ins Schloss fiel.

John nahm wie immer die U-Bahn zur Arbeit. Noch waren hier kaum Menschen unterwegs. In weniger als einer Viertelstunde würde es von genervten Pendlern und Schulkindern allerdings nur so wimmeln. Als er das Büro betrat war er wie üblich der Erste. Er startete die Kaffeemaschine in der kleinen Küchenzeile und lief auf die Glastür zu, neben der sein Name zu lesen war. Er mochte die morgendliche Stille kurz bevor alle im Büro aufliefen und ein Arbeiten ohne Unterbrechungen unmöglich machten. Er nutzte diese Zeit gerne, um

den Aktenstapel, der sich neben seinem Computer auftürmte schrumpfen zu lassen. Über den Tag verteilt würde der Stapel ohnehin wieder auf seine ursprüngliche Größe heranwachsen. Es war ein Kampf, den er nicht gewinnen konnte, dem er sich aber trotzdem jeden Morgen aufs neue gerne stellte. So setzte er sich auch an diesem Morgen motiviert und den Duft des frisch gebrühten Kaffees in der Nase an sein Werk.

Die Stille wurde ohne Vorwarnung durch ein schrilles Klingeln unterbrochen. John hielt inne und sah sich um. Er war noch immer alleine in seinem Zimmer, die Tür war weiterhin verschlossen. Erneut durchdrang ein Klingelton den Raum. John griff in die Innentasche seines Jacketts und holte sein Handy hervor. Das Display bliebt schwarz, niemand rief ihn an. Die Melodie des Klingeltons war ihm nicht bekannt. Es klingelte weiter. John drehte den Kopf zur Seite, um herauszufinden woher der störende Lärm kam. Sein Blick fiel auf die oberste Schublade seines Schreibtisches. Das war unmöglich, schoß es ihm durch den Kopf. Er achtete immer darauf sie abzuschließen und er war sich sicher dort kein Handy zu verwahren. Erneut griff er in seine Tasche und beförderte einen kleinen Schlüssel zum Vorschein. Problemlos fügte sich der Schlüssel in das Schloss der Schublade. John spürte wie sein Herz begann schneller zu schlagen während er sein kleines Versteck aufschloss und die Schublade vorsichtig aufzog. Erleichterung durchströmte seinen Körper als er es unversehrt an seinem Platz liegen sah. Er griff nach dem kleinen schwarzen Büchlein und hob es auf den Schreibtisch. Abermals ertönte das Klingeln, diesmal lauter als zuvor. John erstarrte und wandte seinen Blick wieder auf den Inhalt der Schublade. Er war so sehr auf das schwarze Lederbuch fokussiert gewesen, dass es ihm im ersten Augenblick gar nicht aufgefallen war. In der Schublade lag neben dem Kugelschreiber und dem Klebestift, die er dort aufbewahrte, ein Handy. Das Display leuchtete hell auf, von dem eingehenden Anruf. Das war unmöglich. Die Schublade war verschlossen, niemand außer ihm hatte einen Schlüssel. Wo kam das Telefon her? John lief es eiskalt den Rücken hinunter als ihm klar wurde, dass jemand sein Versteck geöffnet haben musste. Wer war es gewesen? Und hatte derjenige nur das Handy hineingelegt oder auch in seinem kleinen schwarzen Büchlein herumgestöbert und alles gesehen? Unwillkürlich legte John eine Hand auf das schwarze Lederbuch auf dem Schreibtisch als würde er es so beschütze können. Doch John hatte keine Zeit den Schrecken zu verarbeiten oder sich weitere Gedanken über den unerwünschten Eindringling zu machen. Auf dem Display des klingelnden Handy leuchtete ein Foto. Und das Foto zeigte ihnJohns Augen starrten wie gebannt auf den kleinen Bildschirm, er saß wie versteinert da. Die Sekunden schlichen als wären sie Stunden und John rang nach Fassung. Nach einer kleinen Ewigkeit in dem nur das Ticken des Sekundenzeigers an der Wand neben der Tür zu hören war, griff er vorsichtig nach dem Mobiltelefon als wäre es aus Glas und könnte jeden Augenblick in tausend Stück zerspringen. Das Klingeln verstummte, der Anrufer musste aufgelegt haben.

1 verpasster Anruf von UNBEKANNT war nun zu lesen.
John betrachtete eingehend den Mann auf dem Foto. Es bestand kein Zweifel, der Mann auf dem Foto, das war er. Das Foto war schon etwas älter. Es zeigte ihn kurz nach seinem Studienabschluss im Garten vor seinem Elternhaus.
Noch während er auf das Handy in seiner Hand starrte, klingelte es erneut. Diesmal war es kein Anruf, sondern eine Nachricht.

‚Ich weiß, was du getan hast‘, war nun auf dem Bildschirm zu lesen. Geistesabwesend legte John das Telefon auf den Schreibtisch. Damit hatte er nun Gewissheit. Und diese Gewissheit gefiel ihm ganz und gar nicht. Wer auch immer das Telefon in seine Schublade gelegt hatte, kannte auch den Inhalt seines Buches. Aber warum stand dann die Polizei noch nicht vor seiner Tür? Was wollte man von ihm? Er wusste nicht wie lange er einfach nur so da saß und ins Leere starrte. Schließlich legte er beide Hände um den ledernen Einband seines Notizbuches und löste sanft die Schleife, die den Einband verschlossen hielt. Er öffnete das Buch und betrachtete den ausgeschnittenen Zeitungsartikel, den er auf die erste Seite geklebt hatte.

Frau (56 J.) vermisst, ließ die Überschrift des Artikels verkünden. Darunter war in schwarzweiß das Foto einer Frau abgedruckt. Lieblich streichelte John über das Foto. Er konnte sich sehr gut an sie erinnern. Es war damals ein Unfall gewesen. Er hatte den Moment nie vergessen als er neben ihr auf der regennassen Straße kniete und in ihren

Augen sah wie das Leben ihren Körper verließ. Er konnte sich noch genau an das Gefühl erinnern, dass er damals zum ersten Mal verspürt hatte und dem er danach immer wieder nachgeeifert war. Das Gefühl von Macht über Leben und Tod. Sie war sein erstes Opfer gewesen. Mit ihrem Tod hatte damals alles angefangen. Es war eine regnerische Nacht und er war nach einem langen Tag auf der Arbeit eigentlich viel zu müde, um noch Autozufahren. Wie aus dem Nichts hatte sie damals plötzlich auf der Straße gestanden und noch bevor er auf die Bremse treten konnte, rollten die großen Reifen seines Autos bereits über ihren zierlichen Körper. Erst einige Hundertmeter weiter war sein Auto zum Stehen gekommen. Er war noch sehr unerfahren im Beseitigen seiner Spuren gewesen. Dadurch waren ihm einige kleine Fehler unterlaufen als er den toten Körper der Frau vor neugierigen Blicken in Sicherheit gebracht hatte. Doch aus diesen Fehlern hatte er gelernt und sie im Laufe der Zeit ausgebessert. In Gedanken versunken blätterte er durch die Seiten des ledernen Notizbuches. Es war voller ausgeschnittener Zeitungsartikeln und Polaroid Fotos. Er hatte mit der Zeit damit begonnen seinen Tatort, sein Opfer und auch die Grabstelle, die er für sie ausgehoben hatte, zu fotografieren. Dadurch hatte er die Möglichkeit gehabt ihnen immer wieder ganz nah zu sein, ohne jedes Mal an diese Orte fahren zu müssen und dadurch womöglich zu viel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Schließlich hatte er sich größte Mühe gegeben unentdeckt zu bleiben, was ihm bis zuletzt auch gelungen war. Er hatte darauf geachtet seine Opfer räumlich weit voneinander getrennt auszusuchen. Auch die Art und Weise auf die er sie getötet hatte, änderte er jedes Mal. Er genoss es seinen Taten in diesem Moment wieder ganz nahe zu sein. Das war auch der Grund gewesen, warum er sich nicht von dem Buch hatte trennen können, auch als er sich für Lena von seinem tödlichen Hobby verabschiedet hatte. Schließlich kam er zu den letzen beklebten Seiten des Buches auf denen er die Erinnerungen an sein letztes Opfer festhielt. Es war der Mann mit den blonden Haaren, dem roten Pullover und den blauen Jeans, der heute Nacht auch in seinem Traum aufgetaucht war. Nichtsahnend hatte er John vor vier Jahren mit einer ruhigen tiefen Stimme sehr geduldig den Weg zu einer Bücherei erklärt, die John nie aufsuchen wollte. Und noch bevor der Mann wusste wie ihm geschah, hatte er bereits bewusstlos in Johns Kofferraum gelegen. Ein Lächeln legte sich auf Johns Lippen als er an den Abend zurückdachte.

Ein erneutes Klingeln des fremden Handys ließ ihn zusammenzucken und riss ihn aus seinen Erinnerungen. Schnell klappte er das Buch wieder zu, bevor er sich vorsichtig der neuen Nachricht zuwendete. Der Unbekannte hatte ihm ein neues Foto geschickt. John klickte es an und auf dem Bildschirm erschien eine Lichtung. Nein, es war nicht einfach eine Lichtung, es war seine Lichtung. Er erkannte sie genau. Die Heidelbeersträuche, die in einem kleinen Halbkreis unter einer dicken alten Eiche am nördlichen Rand der Lichtung wuchsen. Die kleine Unebenheit in der Mitte der Lichtung, die John mit einigen Steinen eingerahmt hatte, nachdem er den Mann vor vier Jahren dort in einem kreisrunden Loch unter einer dicken Erdschicht begraben hatte. Johns Augen sahen ungläubig auf das Foto.

‚Du weißt, wo du mich findest‘, leuchtete es auf dem Display auf als ihn die letzte Nachricht erreichte. Ohne weiter darüber nachzudenken, sprang John von seinem Bürostuhl auf und stürmte aus seinem Zimmer.

„Guten Morgen John“, begrüßte ihn Henry, der gerade das Bürogebäude betrat als John an ihm vorbeieilte. Er antwortete ihm nicht. In seinem Kopf sah er nur noch die Lichtung vor sich.

Als John eine Dreiviertelstunde später endlich auf der Lichtung ankam, schien die Sonne wunderschön durch die Blätter der alten Eiche. Der Steinkreis in der Mitte sah noch genauso aus wie John ihn von seinem letzten Besuch in Erinnerung hatte. Panisch sah er sich um. War er vielleicht doch alleine hier? Er hörte Schritte hinter sich in seine Richtung kommen, doch noch bevor er sich umdrehen konnte, traf ihn etwas fest am Hinterkopf und er sackte auf den Boden.

Sein Kopf drohte vor Schmerzen zu bersten und etwas warmes lief seine Stirn hinunter. Lena stand mit erhobener Schaufel über ihm. Ihr Blick war rasend vor Wut. Tränen liefen ihre Wange hinunter während sie ihn mit bebender Stimme anschrie.

„Hallo mein Liebling“, begrüßte sie ihn gehässig. John traute seinen Augen nicht. Lena?! Ausgerechnet sie hatte sein Geheimnis entdeckt? Wo er doch für sie alles aufgegeben hatte. „Du hast alles zerstört“, schrie sie John entgegen, während dieser versuchte sich im Gebüsch hinter ihm in Sicherheit zu bringen. Doch er wusste ganz genau, hier draußen gab es keine Sicherheit, das war einer der Gründe gewesen, warum er diesen Ort so sehr gemocht hatte. Er war ihr gnadenlos ausgeliefert. Erneut sauste die Schaufel auf ihn hinab und er schrie laut auf. Lena hatte mit einem kräftigen Schlag seinen linken Oberschenkel getroffen. Es pochte unangenehm in seinem Bein, Schmerz durchfuhr seinen Körper und er erblickte einen immer größer werdenden roten Fleck, dort wo die Schaufel sich in sein Fleisch gebohrt hatte.

„Du hörst mir jetzt zu du elender Heuchler!“, fuhr Lena ihn an. „Erst hast du mir den liebsten Menschen in meinem Leben genommen und dann hast du die Dreistigkeit besessen dich in mein Leben zu schleichen als wäre nichts passiert! Du MONSTER!“, sie holte erneut aus und ein lautes Knacken hallte über die Lichtung als ihre Schaufel auf seinen Oberschenkelknochen traf und dieser unter der Kraft zerbrach.

„Aber ich habe herausgefunden wer du bist; was du getan hast!“ Lena griff mit ihrer linken freien Hand in ihre Hosentasche und holte ein stark verknicktes altes Foto zum Vorschein. Sie schien es sich oft angesehen zu haben. Sie warf das Foto in seine Richtung wo es auf seinem Bauch zum Liegen kam. „Na erkennst du ihn wieder?“, fragte sie ihn fordernd und wartete ungeduldig darauf, dass er endlich nach dem Foto griff. Doch in Johns Gedanken war nichts außer Schmerz, er schien jede Ecke seines Nervensystems zu füllen und keinen Platz für einen klaren Gedanken zu lassen.

„Ob du ihn wiedererkennst, habe ich dich gefragt“, Lenas Stimme spiegelte die unendliche Wut ihrer Augen wieder. Dadurch klang sie immer bedrohlicher und John wurde sich seiner verzweifelten Lage immer bewusster. Unter Schmerzen hob er den rechten Arm und griff nach dem Bild. Der Mann auf dem Foto trug einen roten Pullover und blaue Jeans. Er hatte dunkelblonde gelockte Haare und hielt auf dem Arm ein Mädchen vielleicht vier Jahre alt. Beide lachten glücklich in die Kamera. Schaudernd hob John den Blick. Das Mädchen auf dem Foto hatte dieselben leuchtend blauen Augen wie Lena – und dasselbe Muttermal auf dem rechten Oberarm. John starrte auf das Foto, dann zu Lena und wieder zurück auf das Foto. In Lenas Gesicht machte sich ein Lächeln voller Genugtuung breit als sie sah wie er langsam anfing zu begreifen, was hier vor sich ging. Erneut betrachtete er den Mann auf dem Foto. John kannte nicht nur das kleine Mädchen, das mittlerweile zu einer erwachsenen Frau geworden war, er kannte auch den Mann. Schließlich hatte er ihn hier umgebracht und vergraben.

„Er war mein Vater du verdammtes Schwein“, schrie Lena ihn erneut an. Sie konnte so laut schreien wie sie wollte, niemand würde sie hier draußen hören, niemand würde ihn hier draußen hören. John sah Lena mit großen erschrockenen Augen an. Das hatte er nicht gewusst. Das hatte er nicht einmal geahnt. Er wusste zwar, dass Lena ihren Vater vor einigen Jahren verloren hatte, doch sie hatte nie viel darüber gesprochen. So verletzt war sie gewesen als ihr Vater von einem auf den anderen Tag einfach verschwunden war.

„Iff…daff wuffte…“, John versuchte sich zu erklären, doch er musste sich bei seinem Sturz auf die Zunge gebissen haben. Erst jetzt spürte er wie angeschwollen sie bereits war.

„Das wusstest du nicht?“, Lena beugte sich über ihn. „Und du denkst das macht es BESSER?! Du hast meinen Vater ermordet und dreizehn weitere Menschen, John. D-R-E-I- Z-E-H-N! Ich habe mir mit dir eine Wohnung geteilt, habe neben dir geschlafen, neben dir gegessen und du hast so getan als würdest du ein ganz normales Leben führen“ Lena schüttelte den Kopf. „Aber keine Sorge, ich werde die letzte gewesen sein mit der du dieses kranke Spiel spielst.“
Lena holte ein letztes Mal mit der Schaufel aus. Dann wurde John schwarz vor Augen und er verlor das Bewusstsein.

2 thoughts on “Vergebung ist gut – Rache ist besser

  1. Hallo Johanna,

    Ich mag deinen Schreibstil und deine Geschichte sehr. Du benutzt tolle Ausdrücke und es ist alles sehr realistisch und irgendwie so alltäglich beschrieben… Ich habe mich wie ein Teil davon gefühlt und fand es total spannend.
    Kleiner Kritikpunkt zum Titel: ich finde es nicht ganz passend, weil Vergebung ja vermutlich keine Option war. Also eher Ausliefern oder Rache üben 😊

    Einzig größerer Kritikpunkt ist das Auftreten von Lena am Ende. Ich kann es gar nicht genau an etwas festmachen, aber das ging mir irgendwie zu schnell. Im einen Moment war er noch im Büro und im nächsten auf der Lichtung. Da hat mir der Spannungsbogen gefehlt.
    Das tatsächlich Ende hat dann aber wieder Fahrt aufgenommen.

    Ich bin zufällig auf deine Geschichte gestoßen und wurde nicht enttäuscht. Mein Herz hast du.

    Alles Liebe weiterhin für das Voting.

    Liebe Grüße,

    Jenny /madame_papilio

    Ich würde mich sehr freuen, wenn du auch meine Geschichte lesen möchtest. Sie heißt “Nur ein kleiner Schlüssel”

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