LenaDitVergiss mein nicht

Christopher bat ihm mehr als einmal an, ihn nach Hause zu fahren, ja zwang ihn fast dazu.Doch David lehnte vehement ab. Er wollte lieber zu Fuß gehen, irgendwo hingehen, nur nicht nach Hause.

Als er sich schließlich auf dem verschneiten Bürgersteig wiederfand kam er sich unerklärlich verloren vor und da er nicht wusste wohin er gehen sollte, entschied er sich nun doch dazu, den Heimweg anzutreten. Die Kälte tat ihm gut. Sie betäubte ihn und ließ den stechenden Schmerz in seiner Brust weniger werden. Er atmete tief durch und sog so viel eisige Luft wie möglich in seine Lungen ein. Er hielt den Atem kurz an und atmete dann lang und ausgiebig aus. „Was war nur passiert?“ dachte David. „Wer konnte ihr das nur angetan haben?“ Er konnte es einfach nicht fassen, wollte es nicht wahrhaben.

Wie ferngesteuert setzte er einen Fuß vor den anderen, bog um die Ecke beim kleinen Italiener, bei dem sie früher so oft Eis essen waren. Er Pistazie, sie Amarena Kirsch, immer das gleiche. Fast wie in Trance trotte er dahin, bis er schließlich vor dem kleinen Reihenhaus mit dem einst so farbenfrohen, nun vom Schnee bedeckten und vom Winter gezeichneten Garten stand. Er öffnete langsam das schmiedeeiserne Gartentürchen und lauschte dem vertrauten quietschen, bevor es wieder schwer ins Schloss fiel.

Fast automatisch sperrte er die Haustüre auf, schüttelte sich den Schnee von Mantel und Schuhen und betrat das Haus. Trotz all der Zeit die vergangen war, es roch immer noch nach ihr. Süßlich, immer ein wenig nach Pfannenkuchen. Ihm wurde fast schlecht und er begann zu wanken, seine Augen wollten nicht mehr klar sehen. Er hielt sich an dem kalten Stahlhaken seiner Garderobe fest und sank langsam auf die Knie. Sein Köper fing nun an unkontrolliert zu zittern und sein Atem ging immer schneller. Selbst diesen konnte er nun nicht mehr kontrollieren.

Die tiefe Verzweiflung die ihm seit einigen Stunden innewohnte trat nun nach außen, mit aller Wucht, mit aller Heftigkeit. Es dauerte einige Minuten, vielleicht auch länger, David konnte es nicht sagen wie lange er so zusammengekauert da kniete, bis er sich wieder gefangen hatte. Ganz langsam erhob er sich und mit jedem Zentimeter den er an Höhe gewann, schlug die Wahrheit auf ihn nieder: Er wird Sarah nie mehr wieder sehen.

 

Er erfuhr davon gleich am Morgen, als er das Gebäude der Staatsanwaltschaft betrat und sich auf den Weg in sein Büro machte. Er fühlte sich an diesem Tag müde, sehr müde, als hätte er kaum geschlafen und bereits als er aufwachte machte sich eine Schwere in ihm breit, die er sich nicht erklären konnte.

Zwar sah er in letzter Zeit des Öfteren müde und ausgezehrt aus, was unweigerlich an der Trennung von seiner Ehefrau Sarah vor gut einem halben Jahr lag. Das unglaubliche Arbeitspensum bei der Staatsanwaltschaft und die sich stapelnden Akten auf seinem Schreibtisch taten das Übrige.

Doch als er sich heute Morgen im Spiegel betrachtete, sich unter seinen müden Augen tiefe Schatten abzeichneten, seine Haut gerade zu fahl aussah und er sich fühlte als hätte ein LKW auf seiner Brust geparkt, begann er sich Sorgen zu machen.

Als Christopher, Davids Kollege, guter Freund und Oberstaatsanwalt, ihn gleich nach Ankunft in seinem Büro zu sich bat, ging David davon aus, dass die Augenringe wohl doch besorgniserregender wirkten als er dachte.

Kaum hatte er seine vom Schnee durchnässten Handschuhe auf der Heizung abgelegt, betrat Christopher sein Büro und musterte David mit besorgtem Blick.

„Guten Morgen David. Kommst du bitte gleich zu mir rüber, ich muss mit der reden.“ Christophers sonst tiefe und feste Stimme klang zittrig und fragil, was David stutzig werden ließ.

„Morgen Chris. Ich komme sofort rüber….Ist alles in Ordnung?“ Christopher antwortete nicht.

„Setz dich bitte.“ sagte er als David sein Büro betrat und bei diesen Worten schwammen seine Augen bereits in Tränen.

„Was ist…..“ die Worte brachte David nicht mehr vollständig über die Lippen, da Christopher fast gleichzeitig erklärte: „Sarah ist tot David. Ich habe vor circa einer Stunde einen Anruf von der Polizei erhalten. Ihre Arbeitskollegin Viola Holderer hat sie tot in ihrem Studio gefunden und sofort die Polizei verständigt. Es tut mir so unendlich leid.“ Christophers Blick senkte sich und seine Gesichtszüge verrieten, dass auch ihn die Nachricht schwer traf.

David sackte in sich zusammen. In seiner Brust begann ein Sturm loszubrechen und kaum eine Sekunde später verkrampfte sich sein ganzer Körper, er war unfähig sich zu bewegen, als wäre er gelähmt, als wäre er selbst gestorben. Mit größter Mühe brachte er die Frage über die Lippen: „Was ist passiert?“

„Sie wurde erschossen. Mehr weiß man noch nicht. Die Obduktion geht zum jetzigen Zeitpunkt von einem Gewaltverbrechen aus.“

Christopher erhob sich von seinem Schreibtischsessel und ging langsam auf David zu, der auf einem Stuhl gegenüber von dessen Schreibtisch saß und immer noch nicht fähig war, sich zu bewegen. Er spürte Christophers Hand auf seiner linken Schulter ruhen: „Komm David, ich fahr dich nach Hause.“ Als hätte er die Frage nicht gehört fragte David: „Wer übernimmt die Ermittlungen?“. Christopher atmete hörbar tief ein und antwortete: „Ich bin ermittelnder Staatsanwalt. Der Fall fällt in meine Abteilung.“ Er zögerte etwas als er weitersprach: „Ich – ich hoffe das ist in Ordnung für dich.“  David nickte fast unmerklich, dann verfiel er wieder ins Schweigen. „David, ich denke, es ist besser, wenn ich dich jetzt nach Hause bringe.“ Christophers Stimme schien meilenweit weg zu sein und es dauerte fast eine ganze Minute bis David antwortete: „Nein. Danke Chris, ich werde zu Fuß gehen.“

„Ich glaube wirklich, es ist besser, wenn ich dich bringe“ antworte Christopher mit besorgt klingender Stimme.“

„Nein wirklich, ich gehe zu Fuß, ich weiß nicht, ob ich jetzt gleich nach Hause kann.“ Langsam erhob sich David von seinem Stuhl und drehte sich zu Chris um. Dieser zog ihn sogleich in eine feste Umarmung: „Pass auf dich auf David. Nimm dir so viel Zeit wie du brauchst, bevor du hier wieder auftauchst. Meld dich, wenn du was brauchst ja? Sobald es was Neues gibt, lass ich dichs wissen.“ David löste sich aus der Umarmung, nickte und verließ kurz darauf wieder das Gebäude der Staatsanwaltschaft, kaum eine Stunde, nachdem er es zuvor betreten hatte.

 

Die Uhr zeigte gerade mal knapp 11 Uhr, als er langsam die Küche betrat. Sein Kopf war noch ganz betäubt von seinem Nervenzusammenbruch im Flur. David nahm sich ein Glas aus dem Küchenschrank, füllte es mit kaltem Leitungswasser und trank es in einem Zug leer. Er stützte sich auf die Arbeitsplatte und kämpfte gegen das Ohnmachtsgefühl, welches ihn erneut zu überwältigen drohte.

Er füllte das Wasserglas erneut bis zur Hälfte und begab sich damit in Richtung Wohnzimmer. Er musste versuchen runterzukommen und sich zu beruhigen. Als er das Wohnzimmer schließlich betrat, verschlug es ihm regelrecht den Atem, als sein Blick auf den alten Kirschholztisch fiel.

Dort lag ein weißes Briefkuvert, was seiner Form nach zu urteilen nicht lediglich ein Blatt Briefpapier beinhaltete. „Was ist das?“ dachte er erschrocken. Als er das Haus heute Morgen verließ befand sich auf dem Esstisch lediglich Sahras blaue Vase, welche sie beim Auszug nicht mitgenommen hatte. Da war er sich sicher.

Ihn beschlich die beklemmende Gewissheit, dass in den letzten zwei Stunden jemand im Haus gewesen sein musste. Er starrte das Kuvert eine Zeitlang lang an, bis er wieder fähig war, zu handeln. Es war nicht beschriftet, kein Empfänger, kein Absender, nichts. Mit zitternden Fingern öffnete David das Kuvert und leerte dessen Inhalt auf den Küchentisch. Ein Smartphone kam zum Vorschein, darauf klebte ein gelber Notizzettel. Als David die Worte darauf las, schlug ihm das Herz bis zum Hals. Das ihm bereits fast vertraute Gefühl der Ohnmacht drohte in erneut zu überwältigen.

Auf dem Zettel stand mit großen Lettern geschrieben: „ES IST DEINE SCHULD.“

Davids Magen krampfte sich zusammen. Er wusste nicht was hier los war, hatte keine Ahnung was damit gemeint war. Seine Hände zitterten noch heftiger, als er den Zettel von dem Smartphone löste. Es war nicht sein eigenes. Er überprüfte seine linke vordere Hosentasche, um sich zu vergewissern, dass er auch wirklich Recht hatte.

Er nahm das fremde Handy zur Hand und betrachtete es eine Weile. Schließlich entschied er sich dazu es einzuschalten. Er hatte keine Ahnung, was ihn erwarten würde, aber er ahnte, dass es nichts Gutes war. Er bemerkte, dass das Handy lediglich entsperrt werden musste und das gelang ihm durch ein einfach wischen über den Display, ein Entsperrcode war nicht nötig. Sogleich fand sich David in der Fotogalerie des Smartphones wieder und was er dort sah, traf ihn wie ein Blitz. Er dachte, er könne nicht noch mehr aushalten müssen.

Er ließ das Handy vor Entsetzen fallen, als er das erste Foto sah. Das Bild zeigte Sarah und ihn in ihrem Fotostudio, sie waren dabei sich zu unterhalten, Sarahs Gesicht schien tränenüberströmt zu sein.

In Davids Kopf drehte sich alles. Er ließ das Handy auf der Tischplatte liegen, stand auf und entfernte sich ein paar Meter vom Tisch. Er starrte das Handy aus einiger Entfernung an. Angst stieg in ihm auf und langsam machte sich Panik breit.

„Was soll das alles? Was zu Hölle ist hier los?“ sagte er fast im Flüsterton zu sich selbst. Sein Herz pochte bereits so stark und so heftig gegen seinen Hals, dass er kaum noch atmen konnte.

Er konnte sich einfach nicht erklären, wie und wann das Foto entstanden ist, immerhin hat er Sarah seit mindestens drei Wochen nicht mehr gesehen, das Bild war allerdings auf gestern Abend datiert. 18:10 Uhr um genau zu sein.

 

Das letzte Mal hatte er Sarah vor knapp einem Monat gesehen. Sie rief ihn an und hat ihn gebeten sich mit ihr zu treffen. Anscheinend wollte sie ihm etwas Wichtiges mitteilen. Gerne hätte er die Kraft gehabt, ihr diesen Wunsch auszuschlagen, sie links liegen zu lassen. Doch das konnte er nicht, er liebte sie noch immer, daran gab es keinen Zweifel. Er liebte sie noch, obwohl alles dagegen sprach, obwohl ihm sein Verstand sagte, er solle sie doch bitte lieber hassen. Immerhin hat sie es fertig gebracht, ihn nach fünf Jahren Ehe mit dem Freund ihrer Arbeitskollegin Viola zu betrügen. Mit Tom, den er selbst jahrelang kannte und der sowas wie ein Freund für ihn geworden war. Wenn er darüber nachdachte zog sich sein Magen immer noch  schmerzhaft zusammen. Er war so unfassbar wütend gewesen, so tief verletzt und doch konnte er nie aufhören sie zu lieben. Sarah war die Frau seines Lebens, damals wie heute.

Sie faszinierte ihn, vom ersten Augenblick an. Diese lockige rote Haarmähne, diese großen grünen Augen die so viel Lebensfreude versprühten und ihr freches Lachen. Sie schüttelte seine Hand, sagte „Hi“ und das wars. Seitdem gab es für ihn nur Sarah. Ihre kluge kreative und lebensfrohe Art, ergänzte seine ernste und eher zurückhaltende Art in vielen Hinsichten nahezu perfekt. Bis vor einem halben Jahr, als Sarah ihm beim Abendessen unter Tränen gestand, dass sie sich in Tom verliebt habe und ausziehen werden, noch am nächsten Tag.

David wusste nicht, was er sich von dem Treffen erwarten sollte. Er wusste nicht, was es noch zu besprechen gäbe. Und mit dem, was dann tatsächlich geschah, hätte er im Leben nicht gerechnet. Sarah saß ihm wie ein Häufchen Elend gegenüber und erklärte ihm mit gesenktem Blick und tränennassen Augen, dass sie einen riesigen Fehler gemacht habe mit Tom und eigentlich nur ihn liebe und ob er ihr je verzeihen könne. David war sich nicht sicher, ob das nun der schlimmste oder der schönste Tag seines Lebens werden würde. Er wusste, dass er sie noch liebte, nur wusste er nicht, ob er ihr verzeihen könne.

 

Langsam ging er wieder auf den Tisch zu, setzte sich und nahm das Handy wieder zur Hand, versuchte tief durchzuatmen und schaute sich das Foto nochmal genauer an. Kein Zweifel, das waren Sarah und er. Sein Daumen schwebte über dem Bildschirm, er zögerte kurz, doch dann wischte er nach links und ein weiteres Foto erschien. Und auch dieses zeigte Sarah und ihn in ihrem Fotostudio. In Davids Kopf überschlugen sich die Gedanken. Er konnte sich nicht daran erinnern Sarah gestern Abend gesehen zu haben und doch gab es Bilder von ihnen beiden, datiert auf den gestrigen Tag. David schloss die Augen und versuchte sich zu konzentrieren. „Ok David, denk nach, was hat das zu bedeuten.“ dachte er. Und ihn beschlich langsam das ungute Gefühl, dass das alles hier etwas mit Sarahs Tod zu tun haben könnte und dass jemand versucht ihm etwas in die Schuhe zu schieben. Mit geschlossenen Augen stütze er den Kopf auf seine Hände. „Das ist alles zu viel“ dachte er und begann leise zu schluchzen.

Er beschloss Chris anzurufen und ihm von der Sache mit dem Handy zu erzählen. Chris war nicht nur ein guter Freund, sondern hatte zudem ein Talent dafür, auch in den schwierigsten Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren.  

„Hi Chris, hier ist David. Hast du eben Zeit für mich?“

„Klar“ antwortete Chris, „Wie geht’s dir? Ist alles in Ordnung?“

David erzählte Christopher von dem Handy und dem beiliegenden Zettel.

„Und als ich das Handy entsperrte, eine Pin oder sonst was war übrigens nicht nötig, fand ich Bilder von Sarah und mir auf dem Telefon. Datiert auf gestern Abend. Irgendwer muss im Haus gewesen sein Chris. Irgendwer will mir hier etwas anhängen. Ich kann mir das alles nicht erklären.“

Chris schwieg einen Moment bevor er antwortete.

„Ich denke auch, dass da mehr dahinter steckt. Konntest du Einbruchsspuren finden?“

„Nein. Keine Einbruchsspuren. Ich weiß nicht, ich denke, die Person muss einen Schlüssel gehabt haben. “

„Und wer hat außer dir noch einen Schlüssel für deine Wohnung?“ wollte Christ wissen.

„Eigentlich niemand“ sagte David. „…Außer Sarah.“ fügte er zögernd hinzu. „Sie hat mir ihren Schlüssel nicht zurückgegeben als sie damals ausgezogen ist.“

 

„Wusste Tom eigentlich davon, dass du und Sarah euch wieder angenähert habt?“ fragte Christopher und runzelte die Stirn. „Es sind ja nur Überlegungen, aber ich kann mir vorstellen, dass er davon nicht begeistert sein wird.“

„Ich weiß nicht genau. Sarah hat sowas in die Richtung erwähnt, aber sicher bin ich mir nicht.“

„Auf jeden Fall“ fuhr David fort und kehrte zum Thema zurück „und da bin ich mir sicher, habe ich Sarah gestern Abend nicht getroffen. Datum und Uhrzeit der Bilder müssen geändert worden sein, das ist die einzige Erklärung. Ich werde wohl gleich zur Polizei gehen und Anzeige erstatten.

„David, bevor wir weiterreden. Der Obduktionsbericht ist gerade gekommen.“ zögernd fuhr Chris fort: „Wusstest du, dass Sarah schwanger war?“

Noch vor zehn Minuten dachte David, es könne nicht mehr schlimmer kommen. Jetzt wusste er, dass er sich geirrt hatte.In der Leitung blieb es einen Moment still bevor David antwortete: „Nein, das wusste ich nicht. Davon hat sie kein Wort gesagt.“

Erneut wurde es in der Leitung still, dann fragte Chris: „Es war Toms Kind oder?“

„Ja“ antwortete David leise „ Ja, es war wohl Toms Kind.“

Chris schwieg einen Moment und sagte dann: „Meinst du, dass die Sache mit dem Handy damit zu tun haben könnte.

„Ja vielleicht.“

„Wusste Tom von der Schwangerschaft?“ ergänzte Chris.

„Ich weiß nicht.“ antwortete David.

„David tut mir leid, aber ich muss in eine Verhandlung. Sitzungstag. Ich meld mich wieder.“
„Kein Problem. Danke dir. Machs gut!“

 

David legte auf und ließ sich mit seinem Handy in der Hand auf die Couch fallen. Er starrte einige Augenblicke vor sich hin. Sein Kopf tat ihm weh.

Sarah war schwanger und wollte wieder zu ihm zurück. Sie war schwanger von Tom.

David selbst konnte keine Kinder zeugen, das hat die Beziehung schwer belastet und war vermutlich auch einer der Gründe, warum Sarah in verlassen hatte. Er schloss seine Augen, lehnte sich zurück, legte seinen Kopf gegen die Wand und versuchte ruhig zu atmen.

Plötzlich schoss ihm ein Bild durch den Kopf. Ein Bild von Sarah und ihm, wie sie in ihrem Studio saßen und diskutierten. Blitzartig schreckte David auf, seine Augen waren weit aufgerissen und sein Herz hämmerte gegen seine Brust. „Was war das?“ dachte er. Die Szene vor seinen Augen war quasi identisch mit der des Handybildes.

David versuchte sich zu beruhigen, indem er sich einredete, die Szene sei nur entstanden, weil er ständig an das Bild denken musste. Doch irgendetwas sagte ihm, dass das nicht alles war. Die Szene glich mehr einer Erinnerung als nur einer Vorstellung.

„Aber wie kann das sein?“ dachte David erschrocken. „Ich habe Sarah gestern Abend nicht gesehen.“ Doch umso öfter er diesen Gedanken wiederholte, desto widersprüchlicher kam er ihm vor. Wenn er sich nun an gestern Abend zurückerinnerte schoss ihm immer wieder diese Szene durch den Kopf. David bekam es langsam mit der Angst zu tun, doch er versuchte sich einzureden „Das ist bestimmt nur der ganze Stress. Das alles heute war einfach zu viel für mich.“ Doch insgeheim ließ ihn die Befürchtung nicht los, dass er langsam vielleicht doch verrückt würde.

Schlapp ließ sich David auf die Seite fallen und streckte sich auf dem Sofa aus. Er war vollkommen erschöpft. „Vielleicht sollte ich versuchen etwas zu schlafen.“ sagte er zu sich selbst. Es dauerte einige Minuten bis er einschlafen konnte, die Gedanken in seinem Kopf wollten nicht aufhören sich zu drehen und verfolgten ihn weiter im Traum:

 

David steht wieder vor Sarahs Fotostudio. Das Studio befindet sich im ersten Stock eines Altbaus mitten in Augsburgs kleiner Altstadt. Sarah hat sich dort ein gutlaufendes Geschäft aufgebaut, zusammen mit Viola einer guten Freundin und Ex-freundin von Tom, bieten sie ein breit aufgestelltes Programm an Eventfotografie auf und es läuft gut. Sarah ist talentiert, sehr kreativ und hat ein Auge für die kleinen Besonderheiten.

David wendet den Blick von den Fenstern des Studios ab und klingelt an der Tür. Sarah erwartet ihn bereits. Sie hat ihn angerufen und ihn gebeten, nach der Arbeit zu ihr ins Studio zu kommen, weil sie unbedingt noch einmal mit ihm reden wolle und am liebsten wäre ihr dafür ein „neutraler Ort“ wie sie sagte.

Sarah öffnet die Haustür und David steigt die knarzenden Holztreppenstufen des Altbaus hinauf, wo sie bereits in der geöffneten Tür auf ihn wartet.

„Hallo“ sagt sie lächelnd und schaut ihm dabei fest in seine grün-blauen Augen. „Ich freu mich sehr, dass du gekommen bist.“

David lächelt und nickt leicht. „Wie geht’s dir?“ fragt er sie.

Sarah antwortet mit gesenktem Blick: „Gut soweit. Die Arbeit wächst mir etwas über den Kopf, seit Viola nicht mehr hier ist. Aber ich darf nicht jammern….schließlich bin ja selbst für diese Miesere verantwortlich.“

David lacht etwas zynisch, sagt aber nichts. Als Viola das mit Sarah und Tom erfuhr, war klar, dass eine Zusammenarbeit zwischen den beiden Frauen nicht mehr möglich war und Viola zog kurz darauf aus dem Studio aus.

„Wie geht’s dir?“ fragt Sarah, „du siehst müde aus.“

„Viel Arbeit“ erwidert David kurz angebunden.

Sie stehen mittlerweile vor Sarahs Schreibtisch. Neben den beiden Flachbildbildschirmen, steht noch immer das Foto von Sarahs Border Collie Hündin Milou, die vor zwei Jahren gestorben war. Bei dem Gedanken an Milou huscht ein kurzes Lächeln über Davids Gesicht.

Er sieht sich im Studio um. Es wirkt seltsam leer. Dort wo Violas Schreibtisch stand, befand sich nun nur mehr eine große Topfpflanze und ein Karton mit Equipement, den Viola morgen abholen wollte.

Sarah folgt seinen Augen und mit Blick auf den leeren Platz sagt sie „Noch jemand, der mir wohl nie verzeihen wird. Aber ich kanns ihr nicht verdenken…“

David lässt sich auf den Hocker fallen, den Sarah für ihn bereitgestellt hat und schaut sie erwartungsvoll an.

„David, ich weiß, ich hab einen großen Fehler gemacht. Den größten meines Lebens.“ gesteht sie mit tränennassen Augen. Und sehr leise fährt sie fort: „Als ich dir im Cafe letztens gesagt habe, dass ich dich noch immer liebe, hab ich das ernst gemeint und ich fühle auch heute noch so. Ich weiß, du weißt nicht, ob du mir verzeihen kannst und ich verstehe das. Zwar würde ich mich nichts mehr wünschen, als dass dus könntest. Aber das ist allein deine Entscheidung und das muss ich akzeptieren.“

David unterbricht sie: „Sarah, ich hab nie aufgehört dich zu lieben, das weißt du. Aber ich brauche einfach noch Zeit um nachzudenken.“

„Bitte, bevor du weiterredest, muss ich dir noch etwas sagen.“ erwidert Sarah und bricht dabei leise in Tränen aus.

„Ich bin schwanger David. Ich weiß es selber erst seit einer Woche.“

David starrt sie an, unfähig darauf zu antworten.

„Das war nicht geplant, bitte glaub mir das. Ich musste es dir einfach sagen, denn an meiner Entscheidung hat sich nichts geändert. Ich werde nicht bei Tom bleiben und das weiß er auch. Ich hab ihm gesagt, dass ich mit dir geredet habe.“

David sitzt noch immer auf seinem Hocker, schaut in Sarahs grüne Augen und ist sich nicht sicher, ob er wütend oder traurig sein soll, ob er schreien oder schweigen soll, ob er gehen oder bleiben soll. Genau genommen leidet er an einer Überdosis an Emotionen.

Gerade als er den Mund aufmachen will um Sarah zu sagen, dass er nicht wisse, was er sagen sollte, hört er die Tür hinter sich leise quietschen.

 

Er dreht sich um und sieht Tom in der Tür stehen. Sein Gesicht wutverzerrt und tieftraurig zugleich. Er trägt noch immer seine Polizeiuniform, er musste gerade von der Arbeit kommen.

„Tom“ ruft Sarah mit schreckgeweiteten Augen aus. „Was machst du denn hier?“

„Ich wollte dich von der Arbeit abholen und nochmal mit dir reden. Aber da komm ich wohl zu spät.“ sagt er in sarkastischem Ton und wirft David einen abfälligen Blick zu. Ich wusste schon dass du da bist, ich hab dein Auto unten stehen sehen.“

„Hi Tom. Sarah hat mich hergebeten, sie wollte mit mir reden.“ sagt David ruhig.

„Oh und was habt ihr geredet?“ fragt Tom aufgebracht. „Habt ihr beschlossen, Friede Freude Eierkuchen mit meinem Kind zu spielen, weil du ihr keins machen konntest?! Das würde euch so passen!“

„Tom, bitte“ fleht Sarah. „Ich habs ihm gerade erst erzählt. Niemand will hier einen auf heile Familie machen! Das weißt du genau so gut wie ich! Das war so nicht geplant. Ich dachte ich liebe dich, aber ich hab mich geirrt. Mir tut das alles unendlich leid und ich weiß selbst nicht, wie ich das alles wieder gut machen soll.“

„Sicherlich nicht indem David jetzt Papa für mein Kind spielt! Du denkst wohl du kannst mich verarschen Sarah. Zum Kind machen war ich gut genug und jetzt rennst du wieder zurück zum lieben Ehemann!? Vergiss es! Der bekommt weder dich, noch mein Kind!!“

Tom ist außer sich vor Wut, zückt seine Dienstwaffe und zielt damit auf David.

„Tom! Mach keinen Scheiß!“ bemüht sich David in ruhigen Ton. „Nimm die Waffe runter!“

Tom ignoriert ihn und bewegt sich langsam auf ihn zu, die Waffe fest in seinen Händen haltend.

„Tom, beruhig dich bitte“ fleht Sarah. „Wir finden eine Lösung, das versprech ich dir. Ich werde dir dein Kind nicht wegnehmen, das hätte ich nie getan!“

„Ach ja?!“ lacht Tom zynisch. „Und wie soll die Lösung bitte aussehen? Du hast mein Leben kaputt gemacht Sarah! Jetzt mach ich deins kaputt!“

„Tom, bitte, was soll das?“ fragt David und mittlerweile liegt Angst in seiner Stimme. Langsam weicht er vor Tom zurück. Doch dieser reagierte nicht und bewegt sich weiter auf David zu.

„Tom, nimm jetzt verdammt nochmal die Waffe runter“ fordert David energischer und weicht weiter zurück. Die beiden Männer sind nun keine zwei Meter mehr von einander entfernt.

Sarah befindet sich mittlerweile hinter Tom, als sie flüstert: „Tom, bitte tu das nicht, du willst doch nicht, dass dein Kind einen Mörder zum Vater hat?“

Tom wirkt irritiert. Erschrocken dreht er sich zu Sarah um und sieht sie an. Diesen Moment nutzt David aus, er stürzt seitlich auf Tom zu und versucht ihm die Waffe aus der Hand zu reißen. Tom reagiert blitzschnell, reißt seine Hand nach oben und dreht sich von David weg. Dank seiner Ausbildung zum Kriminalbeamten, weiß Tom genau, wie er sich zu wehren hat. David versucht Tom von hinten in den Schwitzkasten zu nehmen und mit seiner freien Hand die Waffe zu erreichen.

Sarah ist währenddessen an die Rückwand des Studios gewichen. Dort bleibt sie mit angstgeweiteten Augen stehen, ohne zu wissen, was sie tun soll. Die Männer liefern sich immer noch einen erbitterten Kampf, wobei David mit aller Kraft versucht Tom zu entwaffnen. Mit beiden Händen versucht er nun Tom die Waffe zu entreißen.

 

Plötzlich gibt es einen lauten Knall. Ein Schuss hat sich gelöst.

 

Der Kampf zwischen den beiden Männern kommt zu einem jähen Ende, als Tom wie angewurzelt stehen bleibt. David lässt sofort von der Waffe ab und folgt Toms Blick. Dieser starrt auf die Rückwand des Studios, dort wo gerade noch Sarah gestanden hat. Das Grauen packt David als sein Blick zum Boden wandert: Röchelnd und mit weit aufgerissenen und angsterfüllten Augen, sieht er sie dort liegen.

David stürzt zu Sarah auf den Boden, aus der Schusswunde in ihrem Oberleib strömt warmes dunkelrotes Blut.

„Sarah“ fleht David verzweifelt. „Sarah, nein Sarah bitte nicht!“ und versucht die Blutung zu stillen, indem er seine Hand fest auf die Wunde presst. Doch die Blutung will nicht aufhören und so reißt er sich seine Jacke vom Leib, knüllt sie zusammen und drückt sie erneut auf die Wunde.

„Tom“ ruft David „ruf einen Krankenwagen, schnell!“ Doch Tom steht noch immer regungslos da, seine rechte Hand, mit der er immer noch die Waffe festhält, hängt lasch an seinem Körper herab. Sein Blick, der Sarah fixiert, war von Entsetzen und Grauen erfüllt. „Es ist deine Schuld“ erklärt Tom mit leiser Stimme „allein deine Schuld.“

„Jetzt ruf verdammt nochmal den Notarzt!“ schreit David ihn an und seine Stimme klang verzweifelt. Als er wieder in Sarahs Gesicht blickt, schwimmen seine Augen in Tränen und er schluchzt heftig. „Sarah, bleib bei mir, bleib bei mir Liebes.“

Doch ihre Augen bewegten sich nicht mehr und ihr Atem ist versiegt. Er gibt keinen Zweifel und diese Erkenntnis trifft David wie ein Schlag: Sarah ist tot.

 

Schwer atmend und schweißgebadet wachte David auf, schreckte vom Sofa hoch und saß innerhalb von Sekunden kerzengerade da. So sehr er sich es auch wünschte, doch er wusste, dass dies gerade kein Traum gewesen war. Es war die Wahrheit, die schreckliche Wahrheit und nun hatte sie ihn wieder fest im Griff. Mit einem Mal war seine Erinnerung an gestern Abend wieder ganz klar. Und in ihrer ganzen Klarheit riss sie David den Boden unter den Füßen weg.

Wie in Trance und vollkommen erschöpft stand er auf und sein Blick fiel auf das fremde Handy, das noch immer auf dem Esstisch lag. 

Tom war also derjenige, der heute Morgen in seiner Wohnung war. Den Schlüssel hatte er von Sarahs Schlüsselbund.

„ES IST DEINE SCHULD“ ging es ihm immer wieder durch den Kopf „ES IST DEINE SCHULD“.

„Es ist meine Schuld“ sagte David zu sich selbst und die Bilder von gestern Abend schoben sich immer wieder in sein Gedächtnis.

Seine Knie drohten nachzugeben und in seinem Körper breitete sich eine große Leere aus. Die Tatsache, dass er möglicherweise derjenige war, der Sarah getötet hatte brachte ihn fast um den Verstand. Dass vielleicht kein anderer, sondern er allein für sein Leid verantwortlich war, machte es fast noch unerträglicher. „Wenn ich doch nur die Zeit zurückdrehen könnte“ dachte David verzweifelt „Wenn ich doch nur alles ungeschehen machen könnte…“ Er raufte sich die dunkelblonden Haare, begann laut zu schluchzen und ließ seiner Verzweiflung freien Lauf.

Als sich etwas beruhigt hatte und das Gefühl hatte, wieder einigermaßen klar denken zu können, versuchte er die Geschehnisse des gestrigen Abends noch einmal zu rekapitulieren. Doch so sehr er auch versuchte sich zu erinnern, er konnte nicht mit Sicherheit sagen, wer den Schuss abgab. Es geschah alles so schnell, im Gerangel zwischen ihm und Tom. Doch eines stand fest: Einer von ihnen beiden hatte Sarah erschossen und Tom nutze die Bilder von gestern Abend als Erpressungsmittel.

In seinem Kopf fing es an zu arbeiten und der Staatsanwalt in ihm meldete sich zu Wort.

Es war nur eine Frage der Zeit bis Chris im Rahmen der Ermittlungen Toms Dienstwaffe als Tatwaffe identifizieren würde, das wusste er. Und dann würden sowohl Toms als auch seine Fingerabdrücke auf der Waffe festgestellt werden. Beide wären damit Beschuldigte. Und da sie beide Beschuldigte waren, gab es keine Zeugen, denn ein Beschuldigter kann niemals zugleich Zeuge sein. Somit stand Aussage gegen Aussage. Tom hatte jedoch die Bilder, die ein Beweis dafür waren, dass sich David gestern Abend am Tatort befand und Kontakt mit Sarah hatte. Hingegen konnte er keinerlei Beweise aufbringen, dass auch Tom gestern Abend im Studio gewesen war. Motive hätten sie beide gleichermaßen. Selbst wenn Tom wusste, dass er den Schuss abgegeben hat, würde er das natürlich für sich behalten. David hatte nichts in der Hand, um das Gegenteil zu beweisen. Tom kannte ihn und wusste, dass David mit der Ungewissheit vielleicht selbst für Sarahs Tod verantwortlich zu sein, nicht würde umgehen können. Etwas Schlimmeres hätte er David nicht antun können.

 

Wer würde ihm denn jetzt noch glauben? Heute morgen hatte er noch steif und fest behauptet, er habe Sarah gestern Abend nicht gesehen. Und bis vor einer Stunde war er sich auch noch sicher, dass dies die Wahrheit ist.

 

Es schien, als sei seine psychische Verfassung wirklich sehr bedenklich. Der Schock über Sarahs Tod musste ein Trauma ausgelöst haben, was dazu führte, dass sein Gehirn die Geschehnisse des gestrigen Abends verdrängt hatte.

Nur so konnte sich David das erklären und er hatte selbst schon in einigen seiner Fälle mit solch dissoziativen Amnesien zu tun.[1] Und wie er nun am eigenen Leib erfahren musste, ist die Erinnerung tatsächlich zu schmerzlich, um sie zu ertragen.

 

Eines war aber ganz klar: Ganz egal wie es nun weiterging, man wird wohl nicht herausfinden, wer den Schuss abgegeben und damit Sarah getötet hatte.

Und mit dieser Ungewissheit, das wusste David, wird er nur schwer leben können.

 


[1] Es handelt sich dabei um eine Gedächtnisstörung, die durch Traumata ausgelöst werden kann.

3 thoughts on “Vergiss mein nicht

  1. Eine tolle und spannende Geschichte, Schreibstil gefällt mir wirklich gut!

    LG, Florian

    PS. Würde mich sehr freuen, wenn du auch meine Geschichte lesen und vlt ein Feedback/einen Kommentar und vlt sogar auch ein Like hinterlassen würdest – sie heißt “Schach Matt”

  2. Liebe Lena,

    eine spannende Geschichte, die Du da verfasst hast – ich wollte unbedingt wissen, wie sie ausgeht.

    Ich habe mich zum Schluss gefragt, ob David dennoch versuchen wird zu beweisen, dass es Tom war, der den Schuss ausgelöst hat? Ich finde er sollte für die Wahrheit kämpfen!

    Über eine Sache bin ich ein wenig gestolpert bzw. sie war mir nicht ganz klar – wieso wird sein Arbeitskollege über den Tod seiner Freundin informiert und nicht David?

    Liebe Grüße und weiterhin viel Erfolg für das Voting
    Anita (“Räubertochter”)

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