ChristinaVergiss mich nicht

 

Die Glocke an der Tür klingelte, als Patrick die Tür aufstieß und aus der warmen Morgenluft in den klimatisierten kleinen Elektroladen seines Vaters trat. Als Kind hatte er seine Nachmittage hier verbracht, hinten in der „Testerecke“, in der er höchst gewissenhaft die wichtige Aufgabe des Spieletestens erfüllt hatte, wenn seine Mutter nicht hingesehen hatte. Sein Vater hatte es ihm stets glauben gemacht, dass er damit seinen Beitrag zum Elektroladen leistete, dass seine Dienste wirklich gebraucht wurden. Patrick war davon überzeugt, dass hier seine Leidenschaft für Computer, Spiele und das Programmieren angefangen hatte, und dafür würde er seinem Vater immer dankbar sein.

 

Deswegen machte es ihm nichts aus, dass er nicht mehr fürs Spieletesten hier war, sondern um dem alten Mann unter die Arme zu greifen und bei der wirklichen Arbeit zu entlasten, wann immer er Zeit hatte. Dass seine Wochenenden dafür draufgingen, nahm er gerne in Kauf.

 

„Morgen Tom.“ Patrick summte das Radiolied, welches ihn vor nicht mehr als einer halben Stunde aus dem Schlaf geholt hatte, während er seine Jacke hinter dem Tresen aufhängte. Sein Kollege sah kaum auf, war bereits in einen Kundenlaptop vertieft.

 

„Du bist zu spät.“, murmelte er nur, sein Ton amüsiert. „Du wohnst direkt über dem Laden und bist trotzdem zu spät.“

 

Patrick lachte. „Wie jeden Tag.“ Er klopfte seinem Kollegen freundschaftlich auf den Rücken, während er ihm über die Schulter sah. „Was steht an?“

 

Tom deutete vage nach links. Nicht weit weg von ihm lagen ein Laptop und ein Handy mit einem gelben Post-It, auf dem Patricks Name stand. „Das hat gestern eine junge Frau vorbeigebracht.“ Tom richtete sich auf. Er war eine freundliche Person und Patrick kannte ihn seit Jahren, kam gut mit ihm klar. Doch selten hatte er ihn so schelmisch grinsend gesehen wie heute. „Hat gefragt, ob wir ihre Fotos wiederherstellen könnten. Hat den Ordner mit ihren Nudes gelöscht. Sie hat extra nach dir gefragt.“

 

Das entlockte Patrick ein breites Grinsen. „Nudes also. Natürlich kriegen wir die wieder, wär ja schade drum. Ich setz mich gleich dran. Und das Handy?“

 

„Sie meint, das Backup funktioniert nicht.“ Tom lachte. „Sie ist heiß, Mann. Ruf mich, wenn’s was zu sehen gibt!“

 

Patrick bekam nicht mehr mit, wie Tom gespielt schmollte, während er kopfschüttelnd mit dem Handy in der Hand ins Büro ging.

 

Der Tag versprach interessant zu werden.

 

 

 

Es dauerte keine fünf Minuten, bis sein Auftrag ausgeführt war. Patrick half schon lange im Laden aus, er kannte die Kundschaft und er kannte die gängigen Probleme. In ihrer Gegend gab es viele ältere Leute, die oft zu den Stammkunden des Ladens gehörten, nicht, weil sie up to date bleiben wollten und die neusten Gerätschaften kauften, sondern viel mehr weil viele von ihnen gelegentlich etwas überfordert mit der Technik waren, die sie schon zuhause hatten. Patrick hatte es sich längst angewöhnt, zuerst die einfachsten Dinge auszuprobieren, bevor er größere Geschütze ausfuhr.

 

In diesem Fall genügte ein Blick in den Papierkorb des Laptops, um den vermissten Ordner zu finden.

 

Nicht ganz, was er erwartet hatte, darauf hätte eine junge Frau von selbst kommen müssen. Stirnrunzelnd zuckte Patrick die Schultern. Besser für ihn, um die Pauschale würde sie nicht drumherum kommen.

 

Lange sah er den wiederhergestellten Ordner an. Nudes. Der Inhalt bestand aus dreißig Bildern, es schien der richtige zu sein. Seine Finger zuckten, als er langsam den Mauszeiger auf den Ordner zubewegte. Dort verharrte er, sein Finger auf der Maustaste, doch noch zögerlich. Es war nicht sein Job, sie zu bespannen. Andererseits… wer extra anmerkte, dass es Nudes waren, und so beharrlich auf ihn bestand, auf ihn allein. Er kannte sie nicht, zumindest erkannte er ihren Namen nicht, den sie auf der Auftragsbestätigung hinterlegt hatte. Trotzdem schien sie es zu wollen, dass er sich sie mal ansah. Und es würde ja niemand merken. Ein Blick tat ja niemandem weh.

 

Zumal er sich sowieso vergewissern musste, dass er den richtigen Ordner wiederhergestellt hatte und die richtigen Bilder sich dahinter verbargen. Er wollte seinen Job schließlich gewissenhaft ausführen.

 

Auf den Druck seines Fingers öffnete sich der Ordner, doch was er sah, klein zunächst, war keine nackte fremde Frau in aufreizenden Posen. Er kniff die Augen zusammen, als sein Herz zu stolpern schien, und öffnete das erste Bild. Blinzelte verwirrt, als es groß genug wurde, um jeden Zweifel auszuradieren, dass er sich geirrt haben könnte.

 

Nackt war der Mensch, den er betrachtete, unfähig den Blick abzuwenden. Es war die Kehrseite eines Mannes, der sein Gesicht der Kamera zugewandt hatte, ohne sie zu sehen. Es war Patricks eigenes Gesicht.

 

„Und?“

 

Schmerz durchfuhr seinen Ellbogen, als Patrick so heftig zusammenzuckte, dass er den Tisch traf. „Fuck!“, fluchte er, während er den Laptop mit mehr Schwung zuklappte, als nötig, und sich zu Tom umdrehte, der hinter ihm aufgetaucht war. „Schleich dich nicht an, Mann!“, knurrte er, während Tom zurückwich, abwehrend die Hände hob und eine halbherzige Entschuldigung murmelte. „Verpiss dich.“ Patrick sprang auf, während er sich noch immer den Ellbogen rieb, in dem sich die typischen Ameisen ausbreiteten. Sein Herz pochte wild in seiner Brust, als sein Blick zwischen Tom und dem Laptop wechselte. Wie viel hatte er gesehen? Nicht viel, er konnte nicht lange da gewesen sein, sonst hätte Patrick ihn gehört. Und sein Körper dürfte viel vom Bildschirm verborgen haben. Er ballte die Hände zu Fäusten, öffnete sie wieder im vergeblichen Versuch sich zu beruhigen.
Tom schien etwas erwidern zu wollen, zuckte dann aber nur die Schultern. Er murmelte etwas beim herausgehen, doch Patrick beeilte sich nur, die Tür hinter ihm zuzumachen und abzuschließen.

 

Schließlich wandte er sich wieder dem Laptop zu, den er so unsanft behandelt hatte. Unschlüssig stand er davor. Das musste ein Fehler sein. Sein Hirn musste ihm einen Streich spielen. Wie sollte eine fremde Frau an Nacktbilder von ihm kommen? Verschickt hatte er keine, nicht von seinem ganzen Körper zumindest und auch nicht an mehr als drei Frauen. Wollte Marie ihm einen Streich spielen? Oder hat sie von den anderen erfahren und war auf Rache aus?

 

Nein, Marie wäre dazu nicht in der Lage. Wenn sie etwas von seinen Affären gewusst hätte, hätte er es gemerkt. Sie wäre ausgerastet, und er war kein Idiot, er war vorsichtig.

 

Steckten die anderen zwei dahinter? Aber wieso sollten sie?

 

Sein Kopf rauchte, als er sich weiter in Theorien verstrickte und sie sofort wieder verwarf. Wenn er nur wüsste, wer diese Frau war.

 

Hastig stürzte er zur Tür, versuchte sie zu öffnen, bis ihm auffiel, dass er sie abgesperrt hatte. Er klopfte seine Hosentaschen auf der Suche nach dem Schlüssel ab, bis er ihn mit zittrigen Fingern ins Schloss gesteckt hatte.

 

Dafür musste es doch eine Erklärung geben. Tom würde ihn sicher aufklären. Er steckte da doch bestimmt auch mit drin.

 

„Wie sah die Frau aus, die den Laptop abgegeben hat?“

 

Sein Kollege musterte ihn skeptisch, als er von seinem Laptop aufblickte. „Blond, groß, schlank, hübsches Gesicht…“

 

Patrick ignorierte den Rest. Nein, damit kam keine seiner Frauen in Frage. Marie und Luisa waren beide brünett und Angie hatte so feuerrote Haare, dass Tom sich definitiv an sie erinnert hätte.

 

„Pat, was ist los?“

 

„Nichts.“ Kopfschüttelnd verschwand er wieder in seinem Büro und schloss die Tür hinter sich ab.

 

Er tigerte noch eine Weile durch den Raum, bevor er sich wieder vor den Laptop setzte und ihn öffnete. Sein Bild starrte ihm entgegen, in seiner Dusche aufgenommen, die hässlichen grünen Fliesen im Hintergrund waren kaum zu übersehen. Seit Ewigkeiten wollte er das Bad renovieren, doch als Student hatte er weder die Zeit noch das Geld dazu und es ließ sich aushalten. Mechanisch klickte er weiter, öffnete das nächste Bild. Statt seiner Kehrseite war nun seine Vorderseite abgebildet, sein Körper wie Gott ihn schuf, in seinem Bad. Sein Finger klickte automatisch weiter, zeigte weitere Nacktfotos aus seinem Schlafzimmer, aus Luisas Küche, mal ihn alleine, mal zusammen mit Luisa oder Angie. Die letzten neun Bilder zeigten ihn beim Sex. Immer schneller klickte er weiter, starrte auf den Bildschirm, bis die Bilder vor seinen Augen verschwommen. Erst beim letzten Bild machte er halt. Es war kein Bild von ihm oder mit ihm. Es war ein schwarzer Hintergrund mit weißer, steriler Schrift.
„Das kann unser schmutziges Geheimnis bleiben. Ich schweige, wenn du schweigst. Keine Polizei.“

 

Seine Lunge brannte, als er endlich ausatmete. Er hatte nicht gemerkt, dass er den Atem angehalten hatte. Noch immer starrte er auf die Drohung, schluckte, um den Kloß in seinem Hals loszuwerden, doch ohne Erfolg.

 

Dann erfasste ihn die Wut, heiß und unbarmherzig, und er sprang auf. Mit einem Knall schloss er den Laptop, dann stürmte er auch schon aus dem Büro.

 

„Ich nehm mir frei.“, schnauzte er Tom im Vorbeigehen an. Er war bereits aus der Tür, als sein Kollege ihm etwas hinterherrief, doch er drehte sich nicht mehr um, ließ ihn einfach stehen. Patricks Finger zitterten nicht mehr, als er den Laden umrundete und seine Wohnungstür öffnete. Er hatte sie nie abgeschlossen, hatte es immer als unsinnig abgetan. Wer würde schon einen Studenten bestehlen? Oder besser gefragt, was würde er schon finden?

 

Sofort ging er ins Bad, versuchte, sich an die Bilder zu erinnern. Wo war die Kamera? Von Winkel her musste sie aus dem Schrank über dem Waschbecken kommen. Er brauchte nicht lange, um sie zu finden, sie war klein, aber nur provisorisch versteckt, als würde derjenige, der sie dort angebracht hatte, gar nicht wollen, dass sie unentdeckt blieb. Wie hatte er sie überhaupt übersehen können?

 

Nicht dass er je darauf geachtet hatte, ob irgendwas in seinem Bad versteckt war, wer rechnete schon damit.

 

Es dauerte den halben Tag, bis er seine kleine Wohnung auf Kameras durchsucht hatte, denn obwohl er die drei, die ihn offensichtlich aufgenommen hatten, fast sofort gefunden hatte – eine in seinem Bad, eine in seiner Küche und eine in seinem Schlafzimmer – hatte er sich nicht darauf verlassen wollen, dass das die einzigen gewesen waren. Doch er fand keine mehr und als er sich frustriert auf sein Bett fallen ließ und den Kopf in die Hände stützte, plagte ihn nur eine Frage. Wer machte sowas?

 

Er musste diese Frau sprechen.

 

Als er sich wieder im Laden blicken ließ, war Tom weg und sein Vater hatte seinen Platz eingenommen. Überrascht blickte er auf, als Patrick eintrat.

 

„Geht es dir besser? Tom meinte, du bleibst heute krank zuhause.“ Unwillkürlich blies die Fürsorge seines Vaters und sein schlechtes Gewissen Patricks Frust weg.

 

„Ja. Ich … äh…“ Er schluckte. „Ich hol nur kurz einen Auftrag, den ich … äh … fertig machen will.“

 

„Ruh dich aus, ich…“

 

„Nein, das geht schon. Wirklich. Ich bin auch gleich wieder im Bett.“

 

Damit stahl sich Patrick an seinem Vater vorbei ins Büro, packte die Unterlagen, den Laptop und das Handy ein und verschwand mit eingezogenem Kopf.

 

Zurück in seiner Wohnung, die er diesmal abgeschlossen hatte, wandte er sich dem Handy zu. Es blinkte, signalisierte eine Nachricht. Vorsichtig, als könnte es beißen, nahm er es in die Hand und las die Nachricht, die eindeutig für ihn bestimmt war.

 

 

 

Gefallen dir die Bilder?

 

 

 

Er starrte böse auf den Text. Was bildete sie sich ein, ihn auch noch so zu verarschen?

 

 

 

Wer bist du?

 

 

 

Schrieb er zurück und hätte sich dafür ohrfeigen können, sobald er die Nachricht losgeschickt hatte. Er hatte ja einen Namen, sofern das ihr richtiger Name war. Sarah Baumann. Wenn sie gelogen hatte, würde sie es sicher wieder tun.

 

Es dauerte fünfzehn Minuten, welche er unruhig durch die Wohnung spazierend verbrachte, bis sie antwortete.

 

 

 

Sarah Baumann. Alles andere wirst du früh genug erfahren. Ich habe noch ein Geschenk für dich. Bis dahin, warte einfach ab. Und keine Polizei, das würdest du bereuen.

 

 

 

Keine Polizei. Sollte er sich daran halten? Er hatte keine große Wahl, wenn Marie die Bilder bekam, war es vorbei mit seiner Beziehung, das würde sie ihm nicht verzeihen.

 

Aber was konnte „Sarah“ wollen? Geld? Er hatte nicht viel, ihn zu erpressen, würde niemanden reich machen.

 

 

 

Was willst du?

 

 

 

Darauf bekam er keine Antwort. Während er wartete, suchte er im Internet nach Sarah Baumann. Er fand sie, sie sah aus, wie Tom sie beschrieben hatte. War in seinem Alter, war nicht auf seiner Schule, nicht in seiner Uni, kam ihm auch sonst nicht bekannt vor. Geschlafen hatte er sicher nicht mit ihr, an ihr Gesicht hätte er sich doch erinnert, oder? Wenigstens vage. Also konnte er kaum ihr Herz gebrochen haben.

 

Er grübelte über sie, bis seine Augen schwer wurden und er schließlich schlafen ging. Ihr Gesicht ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, während er in einen unruhigen Schlaf fiel, aus dem er mehr als nur einmal aufwachte.

 

 

 

Die nächsten Tage verliefen ohne Vorfälle, sodass Patrick fast schon an einen bösen Traum glaubte, der ihm zu real erschienen war. Wenn der Laptop nicht wäre, könnte er sich das sicher einreden, doch die Fotos waren immer noch da, immer noch von ihm und immer noch hatte er keine Ahnung wer so etwas tat, oder warum.

 

Wenn er nicht in der Uni war, versuchte er im Laden zu sein. Vielleicht müsste er es besser wissen, vielleicht war es dumm von ihm, doch er wartete darauf, dass die junge Frau zurückkam und ihren Laptop zurückhaben wollte. Natürlich kam sie nicht und das Handy, dass sie ihm dagelassen hatte, blieb stumm.

 

Es war zum Haare raufen. Andererseits war es vielleicht vorbei. Vielleicht war alles nur ein blöder Scherz, vielleicht steckte doch Marie dahinter, als absurde Rache dafür, dass er ihr fremd gegangen war. Sie konnte eigentlich nichts davon wissen, aber welche andere Erklärung gab es? Sie wirkte wie immer, freundlich, leidenschaftlich und definitiv alles andere als sauer, als er sie besuchte und den Abend mit ihr verbrachte, doch Patrick konnte sich nicht helfen, das beklemmende Gefühl blieb, das Misstrauen konnte er nicht abschütteln.

 

Es blieb nicht unbemerkt.

 

„Ist alles okay bei dir?“, fragte sein Vater, als Patrick am Samstag mit ihm den Laden abschloss. Die Sonne wärmte seinen Rücken, es würde eine schwüle Nacht werden und noch immer schwitzte Patrick in seinem dünnen Hemd. Sein Nacken kribbelte, als er der Straße den Rücken zudrehte und sich seinem Vater zuwandte. „Du wirkst… nervös.“

 

„Alles okay, Pa. Hab nur schlecht geschlafen.“ Er spielte mit dem Saum seines Hemds, während er den Blick schweifen ließ.

 

Sein Vater ließ es auf sich beruhen, unzufrieden mit der Antwort. Nachdem sie sich verabschiedet hatten, blieb Patrick vor dem Laden stehen. Vielleicht sollte er zu Marie fahren, oder zu den anderen. Angie hatte er schon länger nicht gesehen, vielleicht würde sie ihn heute Nacht aufnehmen. Er war nicht bereit, sich einzugestehen, dass er nur seiner eigenen Wohnung entkommen wollte. Zwar hatte er das Schloss ausgetauscht und neue Kameras hatte er auch nicht mehr gefunden, doch zur Ruhe kam er dort nicht mehr.

 

Schließlich zwang er sich, sich endlich wie ein Mann zu benehmen, und stapfte trotzig die Treppen zu seiner Wohnung hoch.

 

Ein ungutes Gefühl breitete sich aus, als die Tür schon nach der ersten Umdrehung des Schlüssels offen war. Hatte er sie nur zugezogen und nicht abgesperrt? Letzte Nacht hatte er bei Luisa verbracht und am Morgen davor hatte er verschlafen, vielleicht hatte er es in der Eile vergessen. Auch wenn er sich sicher war, dass er abgesperrt hatte.

 

Vorsichtig drückte er die Tür auf, lauschte, ob er etwas hörte. Sein Herz pochte so laut in seiner Brust, dass es sowieso alles übertönte, doch er blieb stehen, unschlüssig, ob er reingehen sollte.

 

Durch den Türspalt sah er hinein. Seine Wohnung sah aus, wie er sie verlassen hatte. Kein Chaos, keine umgeschmissenen Regale, keine verstreute Kleidung.

 

Er atmete tief aus und trat ein. Gott, war er ängstlich geworden. Dass er sich selbst so in Panik versetzte, weil er vergaß, die Tür abzusperren, war lächerlich. Er lachte leise über seine Schreckhaftigkeit, doch das mulmige Gefühl ließ sich nicht vertreiben.

 

Mit kribbelnden Nacken überprüfte er vorsichtshalber jedes Zimmer, wobei er mit der Küche anfing und sein schärfstes Messer mitnahm. Natürlich fand er nichts, sein Schlafzimmer sah normal aus, sein Wohnzimmer ebenso. Keine Anzeichen, dass jemand nach Geld oder Wertgegenständen gesucht hatte, kein Einbrecher in Sicht.

 

Blieb nur noch das Bad. Die Tür war offen, wie er sie zurückgelassen hatte und auf den ersten Blick fehlte nichts. Innerlich über seine kindischen Gefühle lachend zog er mit einem Ruck den Duschvorhang zur Seite, doch das einzige, das ihn umzubringen versuchte, war der Anblick der grauenhaften Fliesen, die Marie zur Weißglut trieben.

 

„Hab wohl zu viele Filme geguckt.“, murmelte Patrick lächelnd, während er sich umdrehte. Sein Blick fiel auf den Spiegel.

 

Er erstarrte. Unfähig sich zu bewegen stand er da, das Messer in der Hand, die Augen weit aufgerissen. Panik breitete sich aus, brannte erst in seinem Bauch, erfasste sein Herz, floss durch seine Adern, während die Welt um ihn herum zu verschwinden schien, bis nur noch die silberne, schlichte Katzenmaske da war, die vorsichtig an der Ecke des Spiegels aufgehängt war. Er erkannte sie sofort, obwohl er sie das letzte Mal vor Jahren gesehen hatte. Wochenlang hatte sie ihn in seinen Träumen heimgesucht, ihn mit ihren leeren Augen gelöchert, angeklagt, ohne auch nur einen Laut von sich zu geben. Hatte ihn an die Nacht erinnert, die er am liebsten verdrängt hätte, doch die, obwohl seine Erinnerung nur noch schwammig war, ihm keine Ruhe ließ.

 

Er hatte gedacht, er hätte es hinter sich gelassen. Hätte die dumme Maske vergessen, die Schulgefühle erstickt, doch diese offensichtliche Konfrontation, diese Drohung, ließ alles wieder hochkommen. Für einen Moment bildete er sogar ein, ihren Körper wieder vor ihm liegen zu sehen, und seine Hände, wie er…

 

Eine Welle von Übelkeit erfasste ihn, als er endlich die Kontrolle über seinen Körper wiederfand und aus dem Bad stürmte. Er hielt nicht an, legte nicht einmal das Messer aus der Hand, bevor er weiterrannte, auf die Straße hinaus. Die schwüle Sommerluft konnte die Kälte nicht vertreiben, die von ihm Besitz ergriffen hatte. Die Hände auf die Knie gestützt schnappte er nach Luft.

 

Er ließ das Messer fallen, als ein Auto hupte und schließlich mit quietschenden Reifen wegfuhr, ja fast schon flüchtete. Unwillkürlich versuchte Patrick einen Blick darauf zu erhaschen, stolperte vorwärts, doch den Fahrer konnte er nicht erkennen.

 

Keine Sekunde zweifelte er daran, dass die Fahrerin eine blonde junge Frau war, die ihn wahrscheinlich schon die ganze Zeit beobachtete.

 

Ein schrilles Piepen riss ihn aus seinen Gedanken. Er brauchte eine Weile, bis er es als Nachrichtenton vom fremden Handy erkannte, dass er immer bei sich trug, für den Fall, dass sich Sarah meldete. Die letzte Woche war es stumm gewesen, doch als er mit zitternden Fingern die Nachricht öffnete, wusste er, dass die Stille nun vorbei war.

 

 

 

Erinnerst du dich an mich? Ich habe dich nicht vergessen.

 

 

 

Wie konnte sie sich erinnern? Sie sollte sich nicht erinnern, an nichts, aber vor allem nicht an ihn. Es war unmöglich. Ein Traum vielleicht. Doch so sehr er sich daran klammern wollte, er glaubte sich selbst nicht.

 

Bevor er reagieren konnte, piepte das Handy erneut.

 

 

 

Komm heut Abend zu mir, 20:00 Uhr. Ich will über die guten alten Zeiten quatschen. Entweder mit dir oder der Polizei.

 

 

 

Nein. Nein, sie durfte auf gar keinen Fall zur Polizei. Niemals, er wäre geliefert. Er dachte nicht an die Risiken, dachte nicht daran, was sie mit ihm vorhatte. Bevor ihn der Mut verließ, schrieb er zurück.

 

 

 

Ich werde da sein.

 

 

 

 

 

Zwei Stunden hatte Patrick Zeit gehabt, um sich vorzubereiten. Seine Wohnung hatte er nicht mehr betreten, zu große Angst hatte er davor, dass die Bilder wiederkämen. Er wollte sich nicht daran erinnern, wollte sich nicht eingestehen, was er getan hatte. So gut hatte er sich eingeredet, dass ihn keine Schuld traf, doch nun traf ihn die Wahrheit umso härter.

 

Er versuchte davor zu fliehen. Die erste Stunde saß er bewegungslos im Auto, das Messer vergessen auf dem Beifahrersitz. Er starrte stur hinaus auf die Straße, versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, doch scheiterte.

 

Was hatte Sarah vor? Sie hatte keine Beweise, die konnte sie nicht haben. Verdammt, sie sollte sich doch gar nicht daran erinnern! Sie sollte nichts davon wissen.

 

Er konnte die Angst nicht abschütteln, dass sie sein Leben zerstören würde, ihn in den Knast bringen würde. Vorbei mit seiner Beziehung, vorbei mit seiner Freiheit, vorbei mit seinem Leben. Ein Fehler, ein einziger, dummer Fehler im Alkoholrausch. Das war nicht fair!

 

Aber wie sollte sie es beweisen? Was hatte sie gegen ihn in der Hand, bis auf ihre Aussage, die offensichtlich gegen seine stand?

 

Wollte sie ihn nur zur Rede stellen? Wollte sie ihm etwas antun?

 

Er lachte bei seinem letzten Gedanken. Er hatte sie gesehen, zumindest auf Bildern, sie war doch nur eine junge Frau. Nicht besonders kräftig, definitiv nicht stark genug, um ihn zu überwältigen. Es sei denn sie hatte eine Waffe.

 

Eine Weile überlegte er, ob es nicht zu gefährlich wäre, sich zu treffen. Nicht, dass er eine Wahl hätte, sie würde sein Leben zerstören, wenn er es nicht tat. Sein Blick fiel auf das Messer, das unbenutzt neben ihm lag.

 

Vielleicht wäre es dennoch besser, vorbereitet zu sein. Er war stärker als sie, konnte es in einer Auseinandersetzung sicher mit ihr aufnehmen. Es wäre ja nicht seine erste Prügelei, und eine Schusswaffe hatte sie sicher nicht, woher auch. Das Messer würde genügen.

 

Hoffte er zumindest, doch den Gedanken schob er lieber zur Seite. Er würde nicht zulassen, dass sie zur Polizei ging, egal wie viele Beweise sie hatte und egal was es kosten würde.

 

Vielleicht sollte er davor zur Bank, vielleicht konnte er für ihr Schweigen bezahlen. Er hatte gespart, wenn auch nicht viel. Vielleicht würde sein Vater ihm aushelfen, wenn er sich eine plausible Geschichte zurecht legte. Nur noch ein paar Monate, dann wäre er fertig mit dem Studium und könnte die Schulden sicher schnell wieder zurückzahlen.

 

Andererseits hatte sie keine Forderungen gestellt. Sie hätte doch zumindest angemerkt, dass er mit Geld kommen sollte, wenn es ihr darauf ankam.

 

Frustriert schlug er die Faust gegen das Lenkrad, während sich seine Gedanken weiter im Kreis drehten.

 

Schließlich fuhr er los zur angegebenen Adresse, einer gepflegten Wohngegend am anderen Ende der Stadt. Er war zu früh und kurz überlegte er es sich, ob er schon klingeln sollte. Dann ließ er es sein und wartete zähneknirschend.

 

Als es endlich so weit war und er ausstieg, musste er sich zusammenreißen, um seine Beine am Zittern zu hindern.

 

Er fand ihre Wohnung mühelos und bevor er klingeln konnte, summte der Türöffner und er trat herein. Als er die Treppen hochgestiegen war, war die Wohnungstür einen Spaltbreit offen, doch niemand erwartete ihn.

 

Zum zweiten Mal an diesem gottverdammten Tag wappnete er sich innerlich für alles und stieß vorsichtig die Tür auf.

 

„Komm herein und mach die Tür hinter dir zu.“

 

Patrick sah sie nicht, doch ihre Stimme drang klar und deutlich zu ihm herüber, wirkte unsicher, aber dennoch fast freundlich, als würde sie nur auf einen alten Freund warten. Dass der alte Freund ein Messer in der Hand hatte, wusste sie vermutlich noch nicht.

 

Misstrauisch tat Patrick, was sie verlangte und trat herein. Die Wohnung war klein, aus dem engen Flur, der gleichzeitig als Kochnische diente, sah er nur zwei Zimmer abgehen. Er wählte das Zimmer mit der offenen Tür.

 

Da saß sie. Fast eingeschüchtert saß sie in der Ecke an einem Tisch, die Arme um sich geschlungen. Mit großen Augen sah sie ihn an, ihre blonden Haare zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden. Das Zimmer war klein, kaum drei Schritte trennten ihn von ihr, und nachdem sich Patrick mit einem kurzen Blick durch den Raum vergewissert hatte, dass außer ihr niemand da war, überwand er die Distanz.

 

Sarah wich vor seiner plötzlichen Bewegung zurück, griff nach etwas auf dem Tisch, doch bevor sie es erreichte, war Patrick bei ihr, drängte sie an die Wand, eine Hand am Messer, die andere neben ihrem Kopf.

 

„Was willst du?“ Seine Stimme zitterte zum Glück nicht länger. Er überragte sie um nicht gerade wenig und ihr jämmerlicher Anblick beruhigte ihn. Sie zitterte am ganzen Leib, ihr Blick zwischen dem Messer in seiner Hand und seinem Gesicht wechselnd. Sie drückte sich an die Wand so weit sie konnte, versuchte so viel Platz zwischen sie zu bringen wie möglich, doch es gab kein Entkommen für sie.

 

„Willst du Geld?“
Sie wimmerte, als er sie anschrie, schloss sogar die Augen, als würde das etwas an ihrer Situation ändern. Als wäre er nicht mehr da, wenn sie ihn nicht mehr sehen konnte.

 

Wut ergriff Besitz von Patrick. Seine Hand umfasste ihr Kinn, drehte es unsanft zu sich, zwang sie, ihn wiederanzusehen. „Verdammt, was spielst du? Antworte!“

 

Sie zuckte zusammen und stieß einen schmerzlichen Laut aus, als sein Griff um ihr Kinn sich verstärkte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die sie nicht zurückhalten konnte. Unwillkürlich ließ er sie los, als das schlechte Gewissen an ihm zu nagen begann, und wich ein wenig zurück. Er hatte Frauen nie weinen sehen können.

 

„Antworte.“, wiederholte er leiser, ruhiger, während er sie keine Sekunde aus den Augen ließ.

 

„Bitte… ich …“ Er konnte sie kaum verstehen, so leise sprach sie. „Ich will nur reden. Bitte…“

 

Frustriert ließ er von ihr ab, ging einen Schritt von ihr weg um den Tisch herum. Ein Messer lag drauf, sie hatte wohl dieselbe Idee gehabt wie er. Doch sie schien zu eingeschüchtert, zu panisch, um ihn überhaupt gefährlich zu werden.

 

Er nahm es mit, bevor er sich einen Stuhl heranzog und sich an den Tisch setzte. „Dann rede.“ Er deutete auf ihren Stuhl, der bei ihrem vergeblichen Fluchtversuch umgekippt war.

 

Zögerlich setzte sie sich, ihre Hände zitternd. Ihre Lippen bebten, als sie tief durchatmete. Sie setzte an, um etwas zu sagen, schien es sich dann aber doch anders zu überlegen.

 

Patrick sah sie ungeduldig an, während er sich durch die Haare fuhr.

 

Die Unsicherheit würde ihn noch umbringen, zumindest schien sein Herz beschlossen zu haben, lieber aus seiner Brust schlagen zu wollen.

 

Er spielte mit den Messern herum, bis ihm die nervösen Blicke auffielen, die Sarah darauf richtete. Dann legte er die Messer hin, eine Hand an einem Griff, die andere auf dem Tisch. Es schien sie ein wenig zu beruhigen.

 

Schließlich sprach sie, kleinlaut und unsicher, doch sie sprach. „Du erkennst mich?“

 

Er würde lügen, wenn er ja sagte. Sie hätte ihm überall begegnen können und er hatte sie nicht wiedererkannt. Ihr Gesicht hatte er nie gesehen, nur die Katzenmaske, und es war dunkel gewesen und er betrunken. Er hatte sich auf ihren Körper konzentriert, doch ehrlich gesagt war er nichts Besonderes, nichts, was ihm im Gedächtnis geblieben war.

 

Seine nächsten Worte wählte er vorsichtig. Er schüttelte den Kopf. „Nicht direkt. Ich schätze, ich habe … mit dir geschlafen.“

 

Sie schnaubte und für einen kurzen Augenblick sah Patrick ihre Augen aufblitzen, mit einer Härte, die ihn erschaudern ließ. Unwillkürlich schloss er seine Hand fester ums Messer.

 

„Du hast mich… vergewaltigt.“ Sie schluckte hart, als hätte sie das Wort nie verwendet, als würde es ihr wehtun, es überhaupt auszusprechen.

 

Für Patrick war es ein Schlag ins Gesicht.

 

„Du wolltest mich doch. Du hast mich angetanzt! Wir haben geflirtet!“

 

„Ich wollte tanzen! Ich wollte Spaß haben! Ich wollte ganz sicher nicht, dass du mir wer weiß was gibst und mich vergewaltigst!“ Ihre Stimme brach. Wütend schüttelte sie den Kopf, während ihr Tränen über die Wange liefen.

 

Patrick sprang auf, stützte die Hände auf den Tisch, beugte sich zu ihr vor. „Du solltest doch überhaupt nichts wissen! Du solltest dich nicht erinnern!“, rechtfertigte er sich, während sie vor ihm zurückwich. „Woher weißt du überhaupt, was passiert ist? Du hast getrunken, du warst komplett weg! Du hast doch gar nichts mitbekommen!“ Seine Stimme überschlug sich fast, so verzweifelt war er. Er schlug auf die Tischplatte. „Du solltest doch gar nichts wissen.“

 

Sie starrte ihn an. Anklagend, hasserfüllt, enttäuscht. Das Schweigen wurde unerträglich, Patrick setzte sich, fuhr sich durch die Haare, stützte den Kopf in die Hände. Sah wieder auf, doch sah überall hin, nur nicht zu ihr. Er schmeckte Blut, als er schließlich so lange auf seinen Lippen herumgekaut hatte, dass sie aufgeplatzt waren.

 

Die Stille und ihr durchdringender Blick machten ihn verrückt, entfachten Schuldgefühle, die er längst verdrängt geglaubt hatte. Alles in ihm rief ihm zu, er sollte fliehen, doch die Panik zwang ihn hierzubleiben. Sarah durfte niemandem etwas sagen. Das musste er verhindern, das würde er nicht zulassen.

 

„Ich kann mich nicht erinnern.“ Ihre Stimme war hart, als sie sprach. Sie suchte Blickkontakt, den er ihr verwehrte. Er konnte ihr nicht in die Augen sehen. Er konnte es einfach nicht. „Ich hab getrunken, aber so viel habe ich nicht getrunken. Ich weiß, wie ich dich angetanzt habe. Wie deine Freunde und du mir einen Drink spendiert habt. Wie wir alleine draußen waren, weil mir schlecht war. Danach weiß ich nichts mehr.“

 

Patrick konnte seine verwirrte Miene nicht verstecken. Woher wusste sie dann…

 

„Wusstest du, dass wir eine Tochter haben?“

 

Der Satz traf Patrick wie ein Schlag. Unwillkürlich sah er sie an, wartete darauf, dass sie es als Witz abtat, doch sie lächelte nur traurig. „Ich würde ja sagen, sie sieht genauso aus wie du, aber ich habe sie kaum gesehen.“

 

Patricks Kehle wurde trocken. Er war Vater? Er dachte angestrengt nach, versuchte sich einzureden, dass das unmöglich war. Aber er hatte kein Kondom benutzt, wozu auch? Er hatte schließlich nicht damit rechnen können, dass er Sarah je wiedersah. Oder dass ein Kind dabei rauskommt, bei dieser dummen, kindischen Aktion.

 

„Bist du dir sicher…“

 

„Dass sie deine ist?“ Sie lachte. „Ich hatte vor der Party keinen Freund. Ich hatte vor der Party auch keinen Sex. Du kannst dir meine… Überraschung sicher vorstellen, als ich nach einer Faschingsparty mit Filmriss plötzlich schwanger war. Das lässt nicht so viele Möglichkeiten offen, es sei denn du möchtest mir etwas erzählen.“

 

Er schluckte hart. „Fuck.“ Sarah ließ ihm die Zeit, bis ihm endgültig klar wurde, was das bedeutete. Dass er viel mehr angerichtet hatte, als er eigentlich wollte. Als sie aufstand, zuckte er zusammen, doch sie hob abwehrend die Hände, während sie in sicherer Entfernung von ihm Richtung Küche ging. „Ich hol mir nur was zu trinken. Willst du auch was? Du siehst aus, als könntest du es gebrauchen.“

 

Geistesabwesend nickte er. Er hörte wie sie zwei Gläser aus dem Schrank nahm und befüllte. Sie hielt ihm ein Glas hin, wagte es aber nicht, näher zu kommen.

 

Mechanisch nahm er es an und nahm einen kleinen Schluck. Es sah aus wie Wasser, zu seiner Überraschung war es aber Gin Tonic oder sowas ähnliches. Er hasste Gin, hasste den bitteren Geschmack. Aber vielleicht war Alkohol wirklich genau das, was er gerade brauchte.

 

Er war Vater. Er hatte eine Tochter.

 

Marie würde ausrasten.

 

Es fühlte sich an wie ein schlechter Traum.

 

„Hast du deine Freunde auch rangelassen?“, fragte sie, als er weiterschwieg. Das brachte ihn zurück in die Realität, riss ihn aus seinen Gedanken.

 

„Was?“

 

„Ihr wart zu viert. Hat jeder mal …“

 

„Nein, nein, natürlich nicht.“ Nicht, dass seine Freunde nicht gefragt hätten. Aber er teilte seine Frauen damals schon nicht gerne und Auswahl hatte es ja genug gegeben.

 

„Was hast du mir gegeben? Ich weiß, dass das nicht nur Alkohol war, du brauchst nicht zu lügen.“

 

Kurz schrillten die Alarmglocken bei ihm. Sie hatte bei ihm zuhause Kameras versteckt, wer sagte, dass sie dieses Gespräch nicht auch aufzeichnete? Erst Beweise gegen ihn sammelte, bevor sie zur Polizei ging? Was hatte er bisher gesagt, hatte er sich verraten? Er hatte zumindest nichts explizit eingeräumt, nichts gestanden.

 

„Ich habe dir nichts gegeben.“, sagte er ohne zu lügen. Damit hatte er sich getröstet, wann auch immer die Schuldgefühle ihn zu überwältigen gedroht hatten. Es war nicht seine Idee gewesen. Er hatte nichts getan. Er hatte nur die Chance genutzt, doch wenn er das Angebot nicht angenommen hätte, dann jemand anderes aus der Gruppe. Er war kein Täter.

 

Obwohl sie es sicher anders sah. Sie sah ihn enttäuscht an, während er den bitteren Geschmack in seinem Mund runterzuspülen versuchte. Das Glas war leer, sie schob ihm ihr eigenes hin, dass selbst nur noch halbvoll war.

 

„Du schuldest mir die Wahrheit, Patrick. Ich hab nichts gegen dich in der Hand, ich werde dich nicht anzeigen. Ich will wissen, was passiert ist, das ist alles. Das schuldest du mir.“ Es war das erste Mal, dass sie ihn mit seinem Namen ansprach. Er erschauderte, wandte den Blick ab. Dachte nach. Kam zum Schluss, dass sie recht hatte.

 

Das schuldete er ihr, wenn er sonst schon nichts für sie tat.

 

„Ich weiß nicht, was sie dir gegeben haben. Es war … ein Freund von mir. Er meinte, es macht dich lustig, gefügig. Dass ich es ausnutzen soll, dass es dir nicht wehtun würde. Ich wollte dir nicht wehtun! Du hättest dich nichts davon wissen sollen, dann wäre es ja auch egal gewesen.“

 

Sie verbarg ihr Gesicht in ihren Händen. Ihr Körper zitterte wieder, als sie leise weinte. Es dauerte, bis sie sich wieder beruhigte.

 

Patrick trank noch einen Schluck. Der Alkohol wirkte, er fühlte sich besser. Seine Gedanken taten nicht länger weh, waren sanft in Watte gepackt. Er wünschte, er würde sich immer so fühlen.

 

„All die Jahre habe ich mich gefragt, was passiert ist. Ob es wirklich nur der Alkohol war, ob es meine Schuld war.“ Sie schloss die Augen. Er sagte nichts dazu.

 

„Willst du wirklich nur reden? Wieso dann das ganze Theater? Wieso der Aufwand?“ Schließlich hätte sie ja auch einfach nur fragen können. Vielleicht hätte Patrick ihr freiwillig alles gesagt, was sie wissen wollte. Wahrscheinlich nicht.

 

Sie zögerte nicht. „Ich wollte Antworten, aber ich wollte dich auch demütigen, so wie du mich gedemütigt hast. Ich wollte, dass du dich unsicher fühlst. Verfolgt. Ich wollte, dass du leidest.“

 

Er lächelte bitter. „Damit hattest du Erfolg, falls es dich tröstet.“

 

Darauf antwortete sie mit einem unzufriedenen Schnauben.

 

„Erzähl mir von deiner Tochter.“, bat er schließlich leise, ohne wirklich zu glauben, dass sie darauf eingehen würde. Doch sie tat es, sah ihn streng an.  

 

„Unserer Tochter. Sie ist so sehr meine Tochter wie sie deine ist.“

 

„Ich kenne sie doch gar nicht…“ Patrick wusste nicht wohin mit seinen Händen, also spielte er wieder mit dem Griff des Messers herum. Er mied ihren Blick, starrte auf den Tisch.

 

„Ich auch nicht.“ Sarah lachte bitter. „Ich habe sie nur auf die Welt gebracht. Ich habe versucht, sie zu lieben, versucht, zu vergessen, wofür sie steht. Wie sie gezeugt wurde, was sie mir angetan hatte. Ich konnte es nicht, ich habe sie gehasst. Ich habe meine Gefühle in Alkohol ertränkt und meine Eltern haben sie zu sich genommen. Ich habe sie nicht wiedergesehen.“

 

Sie stand auf. Patrick versuchte ihren Bewegungen zu folgen, doch sie kamen ihm zu schnell vor. Als sie vor ihm stand und ihm ein Foto vor sein Gesicht hielt, sah er es zunächst nur verschwommen. Erst als er sich konzentrierte, sah er das kleine Baby, das ihn anlächelte.

 

Er hatte nicht viel für Kinder übrig, auch dass es sein eigenes war, änderte nichts. Dennoch bemühte er sich um ein Lächeln.

 

„Wie heißt…“ Seine Stimme war rau, er räusperte sich. Vielleicht sollte er weniger trinken, vor allem auf leeren Magen. „Wie heißt sie?“

 

Sarah wirkte zufrieden, dass er fragte, sie lächelte sogar ein wenig. „Laura. Sie ist jetzt 4.“ Sie verstaute das Foto wieder.

 

Ihre Worte klangen wie in einem Tunnel, Patrick hatte Mühe sie zu verstehen. Er sah, wie sie näherkam, so nah wie sie es sich noch nie getraut hatte. Sie griff nach seiner Hand, sein Blick folgte ihren Bewegungen. Sie hob seine Hand vom Griff des Messers, legte sie wieder zurück auf den Tisch und nahm das Messer an sich.

 

Patricks Gedanken waren schwer wie Blei, es dauerte, bis er realisierte, was sie tat. Er wollte protestieren, doch seine Zunge war zu schwer und was er sagte, war selbst für ihn unverständlich. Ihr Gesicht war verschwommen, doch er erkannte das Grinsen, als sie ihn abschätzig betrachtete.

 

„Wie fühlt es sich an? Wie ein Alkoholrausch? Oder weißt du, was passieren wird?“

 

Ihre Stimme war eiskalt. Ohne Gefühl, ohne Mitleid.

 

Vergeblich versuchte Patrick sich aufzustemmen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht mehr. Er schaffte es fast sich zu erheben, doch fiel vom Stuhl, blieb auf dem Boden liegen. Seine Welt drehte sich, er konnte sie nicht anhalten, konnte nichts sagen, nichts tun. Panik brannte in seinem Bauch, durchflutete seinen Körper, brachte sein Herz zum Rasen.

 

Sarah setzte sich auf seinen Bauch. Sie konnte nicht viel wiegen, doch er fühlte sich, als hätte sie die Luft aus seinen Lungen gepresst. Fast zärtlich strich sie mit der Messerspitze über seine Wange, über seinen Hals, bis sie es schließlich lächelnd anhob.

 

„Hast du Angst?“ Ihre Stimme drang von weit weg an sein Ohr, doch er hörte sie. Das Blut rauschte durch seine Ohren, doch sie übertönte alles. „Ich hoffe, du hast Angst. Aber keine Sorge, es ist bald vorbei. Du wirst nichts spüren. Du wirst dich nicht daran erinnern. Und dann ist das doch gar nicht so schlimm, oder?“

 

Patrick wollte protestieren, doch seine Kraft reichte nicht. Er sah, wie sie das Messer an seiner Brust ansetzte.

 

Ob er vom Blutverlust, von den Drogen oder vom Schock ohnmächtig wurde, vermochte niemand zu sagen. Das letzte, das er sah, bevor er in die ewige Dunkelheit glitt, war ihr Gesicht.  

One thought on “Vergiss mich nicht

  1. Hallo,
    die Idee deiner Geschichte fand ich sehr realistisch und man rätselt mit, was es mit den Bildern auf sich hat.
    Interessant wäre es für mich noch gewesen zu erfahren, wie Sarah Patrick gefunden hat.
    Grüße Jana (Strafe)

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