RebeccaSchulzVerräterische Vergangenheit

Fehmarn, hoch oben im Norden Deutschlands, wo sich Vögel, Schafe und Surfer Gute Nacht sagen. Eine Insel mit feinster Natur, umhüllt von rauschender Ostsee, Kleinstadtcharme und jeder Menge dunkler Geheimnisse.

Verräterische Vergangenheit

In seinem Haus war es kalt. Die Heizung war seit Jahren abgestellt. Aber er fror nicht. Kälte konnte ihm nichts anhaben. Nichts konnte ihm mehr etwas anhaben. Er war frei. Endlich wieder frei. Auf diese Freiheit hatte er sehr lange warten müssen.

Hinnerk von Seggern legte seine wenigen Habseligkeiten, eine lederne Geldbörse und eine schwere Armbanduhr, die ihm ein Polizist mit wissendem Lächeln vor wenigen Stunden übergeben hatte, vor sich auf den Holztisch. Er erinnerte sich noch genau, wann er diesen Tisch zusammen mit seiner Familie ausgesucht hatte. Es war ein heißer Sommertag im August gewesen, aber weder seine Frau noch sein Sohn waren heute hier, um ihn zu begrüßen, nur sein Küchentisch.

Eigentlich hätte Hinnerk voller Energie sein müssen, auf diesen Tag hatte er zwölf Jahre gewartet. Zwölf lange Jahre, in denen er keinerlei Privatsphäre genossen hatte. Sein Alter jedoch machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Nicht nur sein Spiegelbild erinnerte nicht mehr an den lebhaften Geschäftsmann, der er einst gewesen war. Als er die Sonneninsel in Handschellen hatte verlassen müssen, waren seine Haare schwarz und voll, mittlerweile schütter und ergraut. Seine Muskeln und Knochen verlangten heute eher nach Ruhe, als mit dem Surfbrett die Wellen zu erobern.

Das Paket, welches mitten auf dem Tisch lag, bemerkte er erst spät. Seine Gedanken befanden sich nicht im Hier und Jetzt und die leichte Dunkelheit des Raumes aufgrund der fehlenden Elektrizität, hielt den Karton bis eben geschickt verborgen. Als Hinnerk den unbekannten Gegenstand ruckartig an sich heranzog, spürte er ein kräftiges Ziehen in seiner Schulter, seine Muskeln waren müde. Trotz diverser Sportmöglichkeiten hatte das Leben auf beengtem Raum merkliche Spuren hinterlassen.

Nachdem der Schmerz endlich nachgelassen hatte, öffnete Hinnerk seine Augen wieder und betrachtete das Paket. Es hatte eine farbenfrohe Verpackung und erinnerte ihn daran, dass heute sein Geburtstag war, ein Ereignis, das er bislang erfolgreich verdrängt hatte. Ob dies nach all der Zeit ein Geschenk von seinem Sohn war?

Ungeduldig riss er das Paketband ab und öffnete den bunten Karton. Jedes einzelne Haar auf seiner runzeligen Haut stellte sich auf, als er erkannte, worum es sich dabei handelte. Der Inhalt konnte nicht von seinem Sohn sein. Tiefe Enttäuschung überflutete ihn.

Zuerst entnahm er die Flasche Korn, die obenauf lag, begutachtete sie nur flüchtig und trank sogleich einen gierigen Schluck daraus. Sichtlich genoss er den sauren Effekt, den der Alkohol in seiner trockenen Kehle hinterließ. Während er zügig weitertrank, wühlte er im Karton und förderte ein neumodisches Smartphone zutage. Sein letztes eigenes Handy besaß noch mehrere Tasten und passte problemlos in die engste Hosentasche. Dieses aberwitzig flache Gerät in seiner Hand hatte jedoch nur eine kleine Art von Taster, einen runden Knopf, der ihm inständig suggerierte, ihn fest zu drücken.

Aber sein Geschenk war noch nicht vollständig ausgepackt, deshalb stellte er die Flasche zurück auf den Holztisch, platzierte das Handy direkt daneben und fasste für den letzten Gegenstand in das Paket hinein. Kaltes Metall und eine schier unvergessliche Kontur ließen ihn erschaudern. Als hätte er eine Bombe in der Hand, barg er die Pistole aus dem Pappkarton und bettete sie wie ein rohes Ei auf den Tisch.

Die Oberfläche der Waffe war poliert, aber sie war nicht neu, denn ihre Gebrauchsspuren erzählten ihm eine andere Geschichte. Rasch trank er aus der Flasche, hastig und intensiv, beinahe verschluckte er sich. Aber der Alkohol hemmte seine aufsteigende Nervosität nicht. Was sollte das Ganze? Von wem kam dieses Geschenk?

Er hatte keinem erzählt, dass er heute entlassen wird. Niemand außer ihm war hier. Demonstrativ sah er sich in der großen Küche um. Die kleinen Fenster über der Spüle stellten die strahlende Sonne zur Schau. Das grelle Blau des Himmels blendete ihn so stark, dass er seine Aufmerksamkeit wieder den Präsenten widmete.

Als Hinnerk die Flasche Korn erneut ansetzte, piepste das Handy. Er hatte eine Nachricht erhalten, ein Foto, wie es in der Benachrichtigung hieß.

Sein Atem pausierte, sein Puls hingegen erhöhte sich. Was sollte er tun? Wie funktionierte das fremde Ding? Ein wenig verloren drückte er wiederholt auf dem einzigen Taster des Telefons herum, bis sich das Display des Smartphones ihm zu erkennen gab. Als Belohnung öffnete sich der Posteingang der Nachrichten. Die Nummer des Absenders war ihm unbekannt, weshalb er überlegte, hier abzubrechen. Aber ehe er sich versah, glitt sein Finger auf das Display und rief das Foto auf.

Ein abfotografierter Zeitungsausschnitt zeigte Hinnerk am letzten Tag seiner Gerichtsverhandlung. Das Fehmarnsche Tageblatt trug den Titel: Mord ohne Leiche. Darunter prangte ein Untertitel: Ein 55-Jähriger, stadtbekannter Geschäftsmann aus Burg wurde zu zwölf Jahren Haft wegen Totschlags verurteilt.

Wie gebannt starrte Hinnerk auf das Smartphone. Das Bild von ihm hatte er noch nie gesehen. Zwar wusste er, dass die Zeitungen über seine Verhaftung berichtet hatten, aber gelesen hatte er die Artikel nie. Die Erniedrigung, seine Angst davor, was die Fehmaraner dachten, war einfach zu groß gewesen. Hektisch sah er sich um, blickte sogar hinter sich in den Flur hinein, ob jemand seine Schmach zur Kenntnis nahm, aber niemand war zu sehen. Er war alleine. Genauso alleine wie in den letzten zwölf Jahren.

Ein weiteres Piepsen erregte seine Aufmerksamkeit, bevor er in Ruhe den Sinn des Ganzen erörtern konnte. Dieses Mal kam eine Textnachricht.

Hinnerk hielt inne. Sollte er dieses Spiel weiter mitspielen? Er kannte seine Regeln nicht. Er könnte das Telefon einfach beiseitelegen und sogleich sein neues Leben beginnen, ohne Störenfried. Immerhin war er jetzt frei. Nur, er hatte nichts, nichts, was ihn erwartete oder, was ihn ablenken konnte. Deshalb siegte die Neugierde und er öffnete die Nachricht.

Unbekannt: Mörder! Du hast bekommen, was du verdienst!

»Was soll das?«, schrie Hinnerk das Handy an, als könnte es ihm darauf antworten. Energisch schnaufte er, griff mit der freien Hand nach der Flasche und trank, mehrfach hintereinander.

Nachdem er tief durchgeatmet hatte, fasste er Mut und schrieb der unbekannten Nummer zurück. Es dauerte eine Weile, bis er die Nachricht beendet hatte, seine letzte SMS lag schließlich viele Jahre zurück.

Hinnerk: Ich bin KEIN Mörder!!

Die Antwort des Unbekannten ließ nicht lange auf sich warten.

Unbekannt: Du hast Leben genommen, Hinnerk. Mehr als eins. An deinen Händen klebt Blut.

»Was? Was soll dieser Humbug?«

Reflexartig wählte Hinnerk die unbekannte Nummer an. Er wollte den Spuk im Keim ersticken. Wer auch immer meinte, mit ihm Späße treiben zu können, kannte ihn schlecht. Er schreckte vor keiner Konfrontation zurück, nicht nachdem, was er die letzten Jahre durchgestanden hatte.

Am anderen Ende klingelte es, lange, beinahe zermürbend, wobei Hinnerks Unruhe mit jedem Ton anstieg, bis er sich geschlagen gab und auflegte. Niemand stellte sich seiner ungezähmten Wut.

»Scheiß Teil!«, brüllte er aus vollem Leib und warf das Handy von sich weg. Es landete mit dem Display voran auf den Holzlatten des Tisches, wobei sich Bilder aus der Vergangenheit in seinen Kopf drängten. Blutige Bilder mit blutigen Händen, seinen Händen. Bilder, die jede Nacht seit diesem Tag zu ihm zurückkehrten.

Hinnerks Kopf schmerzte und er hielt sich seinen brummenden Schädel, während er von krächzenden Möwen, gleißendem Sonnenschein und kaltem Wind begrüßt wurde. Es dauerte eine Weile bis er begriff, wo genau er sich befand. Er lag rücklings auf dem Deck der Rieke, dem Fischkutter seines besten Freundes, und reckte und streckte sich, die schwarzen Haare ganz zerzaust.

»Bene«, brüllte Hinnerk gähnend. »Wo versteckst du dich? Mir brennt der Schädel, aber gewaltig. Was haben wir gestern bloß alles gesoffen?«

Aber es blieb still. Lediglich die Möwen über ihm forderten lautstark den Fisch ein, den die beiden Männer am Vorabend gefangen hatten. Als er seinen müden und schmerzenden Körper aufsetzte, bemerkte er die dunkelroten Flecken auf seinen Händen. War das Blut? Sowohl sein Pullover als auch seine Hose waren davon betroffen.

»Was zum Teufel?« Suchend blickte er sich nach seinem Freund um. »Bene?« Anschließend erhob sich Hinnerk und versuchte das Dunkelrot von seinen Händen an der Reling abzuwischen, jedoch war es bereits getrocknet.

»Bene, verdammt! Wo bist du?«, rief er lautstark und sah sowohl auf dem Bug als auch am Heck nach, fand jedoch keine Menschenseele. Sein bester Freund war nicht mehr an Bord.

»Er wird doch nicht… über Bord gegangen sein?«, stammelte er vor sich hin, wobei er die Ostsee nach dem Vermissten absuchte. Ein Schiff der Küstenwache, weiß und blau, erregte dabei seine Aufmerksamkeit. Das Rettungsboot steuerte direkt auf ihn zu.

Mit blutbefleckten Händen winkte er die Küstenwache zu sich. Keinen Moment lang überlegte er, ob er sich das Blut hätte abwaschen sollen oder sich seiner beschmutzten Kleidung hätte entledigen sollen. Warum auch? Er hatte nichts getan. Hinnerk war sich in diesem Moment keiner Schuld bewusst. Denn das, was in den nächsten Tagen folgen sollte, hätte er niemals für möglich gehalten.

Die Küstenwache, die von seinem sich sorgenden Sohn verständigt worden war, brachte Hinnerk an Land. Auf der Polizeistation versuchte er anschließend händeringend das Verschwinden von Benedikt Detlefsen zu erklären. Denn das Blut, welches wie unliebsamer Kleber an seinen Händen haftete, war zweifelsfrei von seinem Angelpartner. Die Hautpartikel unter seinen Nägeln stammten ebenfalls von seinem Freund und die aufgeplatzte Haut in Hinnerks Gesicht, die blauen Flecken an seinem Körper rührten der Polizei nach von einem Kampf, mit – vermutlich – Benedikt Detlefsen.

Und so stand Hinnerk von Seggern, angesehener Geschäftsmann in Burg, von einem Tag auf den anderen unter Mordverdacht. Diese Umstände sagten ihm keinesfalls zu, aber er machte sich bis dato auch noch keine größeren Sorgen, denn er hatte sich nichts vorzuwerfen. Er konnte sich zwar nicht mehr an den ganzen Abend erinnern, aber was sollte schon großartig passiert sein? Vermutlich hatten sich die Männer geprügelt, schließlich waren sie alkoholisiert gewesen, und Bene war dabei aus Versehen über Bord gegangen. Oder sein Freund war zu betrunken gewesen und war von alleine über die Reling gefallen, als Hinnerk vom Alkohol übermannt eingeschlafen war. Er und sein Anwalt hatten jedenfalls viele Theorien über das Verschwinden des Freundes anzubieten.

Die Küstenwache aber konnte Benedikt Detlefsen auch nach einer größeren Suchaktion auf der Ostsee nicht finden, an keinem Küstenstreifen wurde seine Leiche angespült. Um den Fall abzuschließen, durchsuchte die Polizei das Haus des Vermissten in Burgstaaken. Den Brief, den sie dort entdeckte, besiegelte Hinnerks Schicksal endgültig.

Die verleumderischen Zeilen stammten von seiner erst kürzlich verstorbenen Frau Rieke an seinen besten Freund. Sie berichteten von der gewalttätigen Ehe, die Rieke mit Hinnerk all die Jahre hatte führen müssen. Sie schrieb davon, dass sie es bereute, sich in jungen Jahren von Bene abgewandt und sich für Hinnerk entschieden zu haben. Aber die Lügen, die Hinnerk über Bene verbreitet hatte, hatte sie für bare Münze genommen. Damals war sie, wie alle anderen Fehmaraner auch, leichtgläubig und Tratsch gegenüber offen gewesen. Erst Jahre später, nachdem Hinnerk sie belogen und betrogen hatte und ihr gegenüber regelmäßig handgreiflich wurde, erkannte sie, dass sie die falsche Wahl getroffen hatte. Sie glaubte nun nicht mehr, dass Bene sich an seiner kleinen Schwester vergangen hatte. Sie glaubte nun nicht mehr, dass Lina sich deshalb mit der Pistole des Vaters erschossen hatte, so wie Hinnerk es auf der Insel herumerzählt hatte. Sie wusste nun, dass sie Bene all die Jahre Unrecht getan hatte. Erst der Krebs hatte ihr zu mehr Weitsicht verholfen. Sie hoffte, Bene könnte ihr trotz all der Zeit, die sie ihn für schuldig gehalten hatte, verzeihen und sie sei dankbar, so einen Menschen wie ihn einmal geliebt zu haben.

Die Staatsanwaltschaft verwendete die Worte von Hinnerks Frau als Beweismittel dafür, dass ein Streit beider Männer aus dem Ruder gelaufen war und Bene hierbei das Opfer wurde. Benes Blut an Hinnerks Händen und Kleidung tat sein Übriges. Die Verteidigung hingegen plädierte vehement auf unschuldig und betonte wiederholt den Blackout ihres Mandanten in dieser Nacht. Aber der vorsitzende Richter sah es als erwiesen an, dass der Geschäftsmann Hinnerk von Seggern den Fischer Benedikt Detlefsen im ausgeprägten Alkoholrausch wegen dieses Briefes zunächst angegriffen und aufgrund seiner bekannten Neigung zur Gewalt von Bord gestoßen hatte. Das Ergebnis dieses Richterspruchs war eine zwölfjährige Haftstrafe wegen Totschlags für Hinnerk, in denen ihn von ganz Fehmarn nur sein Sohn besuchen kam, und dies lediglich ein einziges Mal.

Hinnerk saß im Dunkeln seiner Küche, seine Brust bewegte sich heftig auf und ab, er schnaufte. Die Erinnerungen an diese Geschehnisse immer wieder erleben zu müssen, als hätten sie sich gestern erst ereignet, nichts von all dem Erlebten vergessen zu können, machte ihn jedes Mal rasend. Für sein Verständnis hatte er wegen des Briefes genug gelitten und den unerklärlichen Tod seines Freundes ausreichend bedauert. Bevor jedoch seine Frustration überhandnehmen konnte, ließ er sich den sauren Geschmack des Korns seine Kehle hinunterlaufen und verschaffte sich Erleichterung, wenigstens für einen Augenblick. Denn der Friede dauerte nicht lange an, das Handy ertönte erneut. Eine weitere Textnachricht war eingetroffen.

Unbekannt: Schmeckt dir dein Lieblingskorn?

Hinnerk schnaufte wütend, er war mit seiner Geduld am Ende. Wer wagte es, sich Scherze mit ihm zu erlauben? Woher wusste derjenige, welchen Schnaps er gerne trank? Seine Schreibgeschwindigkeit nahm, wie die Wut in seinem Bauch, mit jedem weiteren Buchstaben zu.

Hinnerk: Wer bist du? Was soll das Ganze? Ich bin KEIN Mörder, ich bin unschuldig.

In all den Jahren hatte er nicht nachvollziehen können, warum ihm niemand Glauben schenkte. Bis heute verstand er nicht, wie eine einzige Nacht, nur wenige Stunden, sein ganzes Leben zum Negativen hatten verändern können.

Unbekannt: Du bist alles andere als unschuldig. Und das weißt du auch! Du hast Leben genommen, mehr als eins.

Hinnerk: Ich habe Bene nicht umgebracht. Ich habe niemanden umgebracht. Der Brief war eine Fälschung. Meine Frau hätte das nie geschrieben. Ich bin kein Mörder.

Der Mann war vom Wahnsinn befallen, vermutete Hinnerk, falls es überhaupt ein Mann war. Sah so seine Zukunft aus? Würde jetzt jeder auf Fehmarn ihn als Mörder ansehen? Erkannte denn niemand die Wahrheit? Er hatte niemanden umgebracht.

Unbekannt: Lügner! Erst hast du Rieke das Leben genommen. Dann deinem besten Freund.

»Was? Der ist definitiv wahnsinnig.« Hinnerk überlegte, das Gespräch unverzüglich abzubrechen und sich nicht auf dieses beschämende Niveau einzulassen. Aber tief in seinem Inneren rumorte es, er war in seiner Ehre getroffen und konnte und wollte diese Verleumdung nicht akzeptieren. Er musste diesen Irrtum beseitigen, wenigstens ein einziges Mal. So schrieb er zurück, mit fester Hand, aufgebracht und protestierend.

Hinnerk: Meine Frau starb an Krebs, du Spinner. Und Bene ist auf See verschollen.

Unbekannt: Immer schön bei der Wahrheit bleiben. Und ja nicht frech werden, Hinnerk. Verschollen ist Bene ganz sicher nicht. Trotzdem hast du sein Leben auf dem Gewissen.

Hinnerk: Wie bitte? Wie meinst du das?

Unbekannt: Du warst immer schon schwer von Begriff…

Hinnerk konnte förmlich hören, wie er ausgelacht wurde. Verspottet zu werden, war genauso schlimm für ihn wie ein Schlag ins Gemächt. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, er gierte danach, das Gesicht seines Gegners mit blauen Flecken zu übersäen. Aber bevor er sein Verlangen in Worte fassen konnte, reagierte die unbekannte Nummer.

Unbekannt: Du hast Rieke Gewalt angetan, hast ihr das Leben schwer gemacht, meiner Rieke. Und du hast mir mein Leben genommen. Denn du hast MEIN Leben gelebt.

Jetzt dämmerte es Hinnerk. Abrupt ließ er das Handy fallen. Die letzten Worte des Unbekannten kamen ihm mehr als bekannt vor.

Schlagartig sah Hinnerk vor seinem geistigen Auge, wie er neben seinem besten Freund an Deck von dessen Fischkutter stand und einen großen Schluck aus der Kornflasche trank, die mittlerweile fast geleert war. Seine Frau hatte er nur wenige Stunden zuvor auf dem Friedhof in Burg beerdigen müssen. Nachdem halb Fehmarn ihm kondoliert hatte, fuhr Bene mit ihm, wie jeden Sonntag zu dieser Jahreszeit, raus auf die Ostsee zum Angeln. Die rotglühende Sonne versank bereits am Horizont, der Wind wehte mäßig und die See schien Riekes Beerdigung zu würdigen, in dem ihr Wasser an diesem Tag seelenruhig vor sich hin schwappte.

Hinnerk erinnerte sich genau an das Gefühl, als er diese Worte das erste Mal von Bene hörte. Sie waren wie ein überraschender Schlag in die Magengrube, tief und erbarmungslos. Ihm wurde sogleich übel.

»Du hast mir mein Leben genommen, Hinnerk. Du hast mein Leben gelebt. Ich hätte mit Rieke verheiratet sein sollen.« Der traurige Ausdruck in Benes trüben blauen Augen untermalte seine tiefe Betroffenheit, aber da schimmerten auch Wut und Frustration.

»Bist du betrunken? Wir haben erst eine Flasche geleert.« Hinnerk ignorierte die Vorwürfe eisern. Er verdrängte die Möglichkeit, dass Bene irgendwann einmal dahinterkommen würde, dass er als Teenager Gerüchte über seinen besten Freund verbreitet hatte. Unruhig rutschte er auf seinem Anglerstuhl hin und her und trank eifrig aus der Flasche, beinahe war der Boden erreicht.

»Du hast mich ganz genau verstanden. Ich weiß, was du getan hast«. Während Bene wild gestikulierte und Drohgebärden mit beiden Armen formulierte, wippten seine blonden Locken im Takt mit. »Rieke hat mir alles erzählt, dein ganzes Lügenkonstrukt.«

»Lügen…, was?« Hinnerks Stimme quietschte unnatürlich. Die Schmach, bei einer seiner Lügen erwischt worden zu sein, beflügelte seine Stimmbänder. Er brauchte eine gute Ausrede, schnellstmöglich. »Rieke war krank, das weißt du. Sie stand unter starken Medikamenten, die ihr Hirn weich gemacht haben. Sie wusste kaum noch, wer sie war, hat mich zum Schluss nicht mal erkannt. Was hat sie dir bloß für Flausen in den Kopf gesetzt?« Seine aufgesetzte Entrüstung, der empörte Gesichtsausdruck, beides war oscarreif gewesen.

Aber Bene ignorierte das Schauspiel, seine aufkeimende Wut hielt ihn nicht mehr auf dem Stuhl. Er richtete sich auf und streckte Hinnerk, der genüsslich den letzten Tropfen aus der Flasche Korn sog, seinen Arm in drohender Weise entgegen. »Lüg’ mich nicht an, Hinnerk. Sei ein einziges Mal in deinem Leben ehrlich.«

»Nun übertreibe nicht gleich, Bene«. Für wen hielt der sich eigentlich? Genervt stellte Hinnerk die leere Flasche beiseite und stand auf, er wankte. »Das ist schon Ewigkeiten her«, sagte er und war bemüht, sein Gleichgewicht zu halten. »Ich erinnere mich gar nicht mehr.«

»Dann helfe ich dir auf die Sprünge«, sprach sein Freund und ging auf ihn zu, sodass Hinnerk sich automatisch nach hinten bewegte und die Reling berührte. Krampfhaft hielt er sich am Holz fest, seine Beine gaben ihm nicht genug Stand. »Du hast den Selbstmord meiner kleinen Schwester dazu benutzt, um miese Lügen über mich zu verbreiten.«

Der Ausdruck auf Hinnerks Gesicht hätte Bene Unschuld und Schamgefühl vermitteln sollen, jedoch führte der Schnaps zu einem unkontrollierten Grinsen, was Bene zur Weißglut trieb. Schnell überlegte Hinnerk, alles zu leugnen, aber er stand zu nah an der Reling, war durch den Alkohol nicht standhaft genug, um Bene Paroli bieten zu können.

»Ja, das stimmt«, räumte er stattdessen ein und senkte auf übertriebene Weise reumütig den Kopf. »Ich bin eifersüchtig gewesen, ich…«

»Wegen deiner verdammten Eifersucht hast du mein Leben zerstört?«

Als er Benes Atmen bedrohlich nahe auf seiner Haut spürte, hob Hinnerk beschwichtigend die Hände. Er wollte vermeiden, heute Abend in die Ostsee gestoßen zu werden.

»Ich war verliebt in Rieke«, begann er zu erzählen, wobei er ein paar Schritte in Richtung Deckmitte schlich, in Sicherheit, wie er glaubte. »Du warst mit ihr zusammen, dem schönsten Mädchen von Fehmarn, Tochter und Erbin des großen Kaufhauses. Und ich, ich wollte sie, wollte das Geld und den Namen, wollte ein von Seggern werden. Außerdem hättest du mit diesem Leben gar nichts anfangen können, du warst das einfache Leben gewohnt, dein Vater war Fischer«. Als Bene auf ihn zukam und mit jeder Sekunde finsterer aussah, löste sich Hinnerks Zunge. »Alle fragten sich auf Linas Beerdigung, warum sie sich mit 15 Jahren umgebracht hatte. Du selbst warst so mit deinem Familiendrama beschäftigt und hast Rieke von dir gestoßen. Ich habe nur meine Chance gewittert. Was soll ich noch dazu sagen? Niemand hätte absehen können, welche Ausmaße meine Geschichte annehmen würde. Dass du auf Fehmarn zu einer Persona non grata werden würdest, hätte niemand voraussehen können. Wirklich.« Erst jetzt traute sich Hinnerk, seinem Gegenüber wieder in die hasserfüllten Augen zu sehen. Noch nie hatte er seinen Freund so aufgebracht gesehen. »Du wirst mir nach all der Zeit, die wir zusammen verbracht haben, jetzt nicht wirklich böse sein, oder?«

Benes Faust kam schnell und unerwartet. Ihr Aufprall in Hinnerks Gesicht war schonungslos und überaus schmerzhaft. Seine Haut platzte auf, er spürte das Blut seine Wange herunterlaufen. Bene musste trainiert haben. Bevor Hinnerk seinem Angreifer nonverbal antworten konnte, folgte dessen nächster Schlag. Aber diesem konnte er ausweichen, wenn auch nur knapp.

»Bist du völlig übergeschnappt?«, schaffte Hinnerk noch zu fragen, ehe Bene einen neuen Versuch startete, dieses Mal mit Erfolg. Hinnerk spürte seine Lungenflügel tanzen, als der kraftvolle Schlag des Angreifers seinen Brustkorb traf. Er schwankte, zweimal, fing sich jedoch wieder.

Hinnerk wehrte sich mit Händen und Füßen und es hätte ein vollendeter Boxkampf werden sollen, tänzerisch und leichtfüßig, das war er zumindest in seinem Kopf. Aber mit der Flasche Korn, die er zügig geleert hatte, bekam er lediglich Benes blonde Locken zu fassen, während er mit der anderen Hand versuchte, an dessen Nase zu reißen, aber bloß dessen Wange zerkratzte.

Bene schrie ungeduldig, kurz und laut, dann riss er sich aus Hinnerks Fängen. Er drehte sich zu ihm hin und traf Hinnerk heftiger, als jener es sich hätte vorstellen können, direkt in seine Magengrube. Bene hatte definitiv trainiert.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht krümmte sich der Getroffene nach vorne über und spürte nur kurze Zeit später einen dumpfen, kräftigen Schlag auf den Rücken, den Bene mit beiden Fäusten vollführt hatte. Hinnerk sackte, mit dem Gesicht voran, auf das Deck des Fischkutters.

Das Piepsen des Handys holte Hinnerk in die Gegenwart zurück. Er saß an seinem Holztisch, draußen ging die Sonne bereits unter, sodass die Küche langsam vollständig in Dunkelheit gehüllt wurde. Umso greller erschien das blinkende Licht des Displays, welches ihn unerbittlich darauf hinwies, dass er ein Foto erhalten hatte.

Als ob er die Schmerzen der Schläge von Bene aus seinen Erinnerungen auf seinem Körper und an seinen Organen nachfühlen konnte, griff er mit verzerrtem Gesicht nach dem Telefon und öffnete die Nachricht.

Das Bild zeigte die beiden Männer an dem Abend der Beerdigung. Hinnerk lag bewusstlos auf dem Fischkutter, seine Wange drückte sich in das Deck des Kahns, sein restlicher Körper lag schlaff zusammengefaltet hinter ihm. Bene thronte über dem Besiegten und präsentierte triumphierend seine weißen Zähne, den Daumen nach oben gerichtet. Sein siegreiches Lächeln sprach mehr als tausend Worte, seine Augen ließen Böses erahnen.

Hinnerk schluckte schwer. Die Gefühle, die ihn überrannten, konnte er nur schwer einordnen. Sprachlosigkeit, Hass und Reue ließen seinen Tränen haltlos freien Lauf. Mit zitternder Hand tippte er in das Handy.

Hinnerk: Bene? Bist du das? Du lebst? Wie kann das sein? Warum tust du mir das an?

Bene: Es ist ganz einfach. Du hast mir meine Identität genommen. Ich nahm dir die deine. Du hast alles gehabt, Freunde, Familie. Jetzt, hast du niemanden mehr. Genau wie ich. Wir sind fast quitt.

Hinnerk zögerte seine Antwort hinaus, am liebsten hätte er gar nicht nachgefragt.

Hinnerk: Wieso nur fast?

Bene: Siehst du Vaters Pistole? Jetzt hast du die Ehre, ein drittes Leben zu nehmen. Dein eigenes.

Hinnerk lachte auf und schüttelte den Kopf.

Hinnerk: Ich habe mein Leben gerade erst zurück. Warum sollte ich?

Sein Lachen wurde lauter, fast psychotisch. Ein seltsamer erster Tag in Freiheit.

Bene: Was denn für ein Leben? Für mein Verschwinden kamst du in den Knast. Für den Verrat an Rieke verdienst du den Tod. Jeder weiß, was du uns beiden angetan hast. Niemand schert sich um dich. Nicht einmal dein Sohn. Das war stets deine größte Angst.

Tief in seinem Innern wusste Hinnerk, dass Bene recht hatte. In der Fehmaraner Gesellschaft ein Außenseiter zu sein, war seit Kindertagen sein größter Albtraum gewesen. Für ein Leben im Schattendasein der Sonneninsel war er nicht geschaffen.

Bene: Alle guten Dinge sind drei. Die letzte Kugel ist mein Geschenk für dich. Mach’s gut, Hinnerk.

»Was? Nein! Lass mich nicht allein!«

Übelkeit flammte in ihm auf und ein undurchsichtiger Nebel durchzog seine Gedankenwelt. Hilflosigkeit übernahm das Ruder.

Hinnerk: Bene? Bene, bitte!

Aber Hinnerk blieb allein zurück. Laut schrie er auf und fegte den Alkohol vom Tisch. Der restliche Korn rann hemmungslos aus der Flasche, aber er verspürte deshalb keine Traurigkeit. Sein Herz war bereits schwer.

Ein letztes Mal wählte er die Telefonnummer an, aber sein Anruf lief ins Leere.

Er konnte in diesem Moment nicht ausmachen, was ihn mehr verletzte, die Tatsache, dass Bene seinen Tod wollte oder, dass sein ehemals bester Freund nicht mehr mit ihm sprach.

Melancholie drohte sein Herz aus dem alten Brustkorb zu sprengen. Erschöpft legte Hinnerk das Handy beiseite und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.

Zwar hatte er seine Freiheit wieder, aber niemanden, der sich für ihn interessierte. Keine Arbeit, keine Familie, keine Freunde. Was war das für ein Leben? Wozu machte es jetzt noch Sinn?

Sein Augenmerk fiel auf die Pistole. Er atmete tief ein und wieder aus, sein Puls verlangsamte sich, er wurde ruhig. Seine Gedanken sortierten sich, sein Kopf war mit einem Mal ganz klar. Seine Finger umschlossen den Griff der Waffe und hoben sie an.

Endlich wusste er, was er zu tun hatte, wie er der schmerzenden Leere tief in seinem Herzen entkommen konnte. Frei sein konnte man auf viele Arten und Weisen, nicht wahr?

Als er sich die Mündung in den Mund steckte, liefen ihm keine Tränen über die Wangen. Ein Auf Wiedersehen gab es nicht, nur ein besonderes Geschenk, verpackt in buntem Papier auf seinem Tisch. Er warf einen letzten Blick auf das Paket, wollte gerade die Augen schließen und das Unabwendbare geschehen lassen, als er den Adressaufkleber bemerkte.

Er hielt inne, dachte nach. Dann legte sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Ein Lächeln, dass er schon seit Jahren nicht mehr getragen hatte. Erleichtert nahm er die Waffe aus dem Mund und warf sie in den Karton vor sich auf den Tisch, sie hinterließ einen grässlichen Geschmack nach Metall.

Hinnerk raffte sich auf, schüttelte seine müden Knochen als müsste er sich selbst aus einem jahrelangen Albtraum wachrütteln. Er nahm das Paket unter den Arm und verließ seine Küche, um sich den Absender bei Licht anzusehen.

-ENDE-

10 thoughts on “Verräterische Vergangenheit

  1. Wow, tolle Geschichte, toller Schreibstil, tolle Wendung am Schluss.
    Als einzige Kritik hätte ich, dass es mir nicht ganz schlüssig ist, dass die beiden befreundet waren. Bene muss Hinnerk eigentlich immer gehasst habe, dafür dass er mit seiner Jugendliebe zusammen war und Hinnerk hat sich echt miese Lügen über einen Freund einfallen lassen ? Schwer vorstellbar, dass die beiden dann jahrelang immer Sonntags gemeinsam Angeln fahren.

    1. Vielen Dank für dein Feedback und deine Kritik! 🙂
      Bene war bis dato nicht der Mensch, der nachtragend war. Seine Schwester hatte sich das Leben genommen und er hatte wichtigere Dinge zu tun. Wenn seine Jugendfreundin mit jemand anderem glücklich werden wollte, war das für ihn so. Sein Leben lang darauf böse zu sein, war nicht seine Art, vor allem wenn man auf so einer kleinen Insel lebt, auf der man sich immer über den Weg läuft.

  2. Hallo liebe Rebecca,

    tolle Geschichte! Richtig schön zu lesen!
    Der Ort des Geschehens war klasse gewählt und spiegelte irgendwie den Mann wieder, wie ich ihn mir vorgestellt hatte.
    Die Schickschalsschläge von Tochter und Rieke waren total krass, aber solche Hintergründe sind für eine gute Geschichte sehr wichtig und machten Personen interessanter.
    Das Ende fand ich klasse! Ich habe mich schon gedacht, wenn er sich jetzt umbringt, nur weil es ihm gesagt wurde… neee! Aber so: richtig klasse und regt zum Nachdenken an.
    Meinen Like hast du! 🙂

    Alles Liebe
    Pauline

  3. Liebe Rebecca,
    ich habe nichts anderes erwartet als eine Geschichte mit Liebe zum Detail, Drama, Ehre und Rache. Und meine Erwartung wurde nicht enttäuscht. Selbst in einer Kurzgeschichte ist es dir gelungen, einen tollen Spannungsbogen herzustellen mit mehreren Ebenen und Persönlichkeiten. Sehr gut der Switch in die Vergangenheit und dann wieder zurück in die Gegenwart. Genial die letzte Wendung! Spannung und überraschende Auflösung in zwei kurzen Absätzen. Geradliniger, genauer und nachvollziehbarer Schreibstil mit Liebe zum Wort.

  4. Liebe Rebecca, deine Geschichte wurde mir eben bei den ungelesenen Geschichten vorgeschlagen und der Titel hat mich neugierig gemacht!
    Besonders hat auch mir dein Ende gefallen. Vor allem hallt sie bei mir als Leser dadurch nach und ich lasse dir gerne ein Like da. 😊
    Grüße Jana (Strafe)

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