Sara C. SchaumburgVertrautes Spiel

 

Man sagt, man trifft sich immer zweimal im Leben.

In meinem Fall hätte ich auf diese zweite Begegnung allerdings nur allzu gern verzichtet…

An diesem regnerischen Septembermorgen zog ich die Tür meiner kleinen Einliegerwohnung hinter mir ins Schloss, hastete den Flur entlang und hinaus auf die Straße. Ein feiner Nieselregen sprühte mir ins Gesicht. Ich fluchte leise und zog den Kragen meiner Jacke höher. Schnellen Schrittes eilte ich zur Bushaltestelle.

Dort, auf einer der Bänke, saß ein Mann. Er starrte auf sein Handy. Ich wusste nicht einmal weshalb ich überhaupt in seine Richtung sah. Als er mich bemerkte schaute er auf und unsere Blicke kreuzten sich. Trotz der dunklen Sonnenbrille, die er trug, konnte ich seinen schneidenden, kalten Blick auf mir spüren.

Hastig wandte ich mich ab. Mir blieb keine Zeit länger darüber nachzudenken, denn in diesem Moment näherte sich der Bus. Ich stieg ein, hielt dem Fahrer mein Ticket unter die Nase und suchte mir einen freien Platz. Der Fremde war fort. Eine Tatsache, die ich nur am Rande registrierte.

An diesem Nachmittag machte ich ausnahmsweise schon gegen 14.00 Uhr Feierabend. Meist arbeitete ich den ganzen Tag lang und hätte vermutlich sogar freiwillig in der Firma übernachtet, hätte Luna an dieser Stelle nicht noch ein Wörtchen mitzureden gehabt. Meine sieben Jahre alte Golden Retriever Hündin gehörte zu dem eng gesteckten Personenkreis, mit dem ich für gewöhnlich meine wenige Freizeit verbrachte. Ich war nicht menschenscheu, doch die Vergangenheit hatte mich gelehrt, dass es besser war, ein paar wirklich gute Freunde zu besitzen, als sich mit den falschen Leuten einzulassen.

Im Treppenhaus begegnete mir Frau Seidler, meine Vermieterin. Eine ältere Dame mit einem Herz aus Gold. Vor ein paar Jahren hatte sie ihren Mann verloren, doch selbst dieser Schicksalsschlag hatte ihr nicht ihren Optimismus nehmen können. Sie passte mich ab, noch ehe ich den Schlüssel ins Schloss meiner Wohnungstür stecken konnte. „Sophie?“, mit kleinen, flinken Schritten trippelte sie auf mich zu. Über die Schnelligkeit, die die 89jährige dabei stets an den Tag legte, konnte ich nur immer wieder staunen.

Sie deutete auf meine Haustür und lächelte mich hoffnungsvoll an. „Sie haben Blumen bekommen! Ich war so frei und habe Sie Ihnen schon einmal in eine Vase gestellt.“

Frau Seidler besaß einen Ersatzschlüssel für meine Wohnung und kümmerte sich über Tag um meinen Hund, während ich im Büro saß. Verwundert schaute ich auf. „Blumen? Für mich? Sind Sie sicher?“ „Aber natürlich, Kindchen!“, die ältere Dame klatschte begeistert in ihre Hände, „Bestimmt haben Sie einen heimlichen Verehrer! Zu meiner Zeit war es ja Gang und Gebe, dass die Herren der Schöpfung den Damen den Hof machten. Wenn ich dann die jungen Leute heute so sehe – ist ja kein Wunder, dass so viele von ihnen Single sind!“ Ich machte ein Geräusch, dass man sowohl als Zustimmung, wie auch Ablehnung hätte deuten können und wollte mich wieder meiner Wohnungstür widmen, als Frau Seidler mich erneut bremste. „Trinken Sie nachher eine Tasse Tee mit mir und erzählen mir von der Karte?“, fragte sie und strahlte mich dabei so hoffnungsvoll an, dass ich unwillkürlich schmunzeln musste. „Welche Karte?“ „Na, die Karte, die in den Blumen steckt…“, sie lächelte vielsagend. „Klar.“, antwortete ich lakonisch. Nachdem ich die Neugier meiner Vermieterin fürs Erste bedient hatte, konnte ich endlich in meine Wohnung. Die Tür war noch nicht ganz ins Schloss gefallen, als meine Hündin mir bereits begeistert in die Arme sprang. Ich streichelte sie überschwänglich und warf dabei einen Blick auf den Küchentisch. Der Strauß mit den schwarzen Rosen stach mir sofort ins Auge. Skeptisch runzelte ich die Stirn. „Wer schenkt mir denn Rosen? Und dann auch noch schwarze…?!“, murmelte ich und pflückte, mit spitzen Fingern, den kleinen Briefumschlag zwischen den Stängeln heraus. Ich öffnete das Kuvert und während ich die drei Worte im Innern der Karte las, spürte ich, wie mir ein Schauer über den Rücken jagte.

Lass uns spielen…

Ich keuchte und starrte die Rosen einen Moment lang an, ehe ich zur Wohnungstür hinausstürmte und drüben bei meiner Vermieterin klingelte. Frau Seidler öffnete mit einem überraschten Blick. „Oh, Sie sind aber schnell, Kindchen. Ich habe noch gar kein Teewasser aufgesetzt.“, sie kicherte. „Ich bin nicht wegen des Tees hier.“, entgegnete ich, nicht darauf achtend, wie unhöflich dieser Satz in ihren Ohren klingen musste.

Nicht?“, fragend schaute sie mich an, „Ist etwas passiert?“

Wer hat die Blumen vorbeigebracht?“, ich fiel ihr ins Wort, ohne auf ihre Frage einzugehen. „Ein junger Mann.“, sie dachte kurz nach, zuckte dann aber mit den Schultern, „Ich weiß nicht mehr, ob er einen Namen erwähnt hat.“ Als ich schwieg schaute sie mich besorgt an. „Ist etwas nicht in Ordnung? Die Blumen sind doch sehr schön. Die Farbe ist extravagant, finden Sie nicht auch?“

Ich nickte stumm. Meine Gedanken begannen zu kreisen. Die Botschaft in der Karte enthielt eine Aufforderung und eine Warnung zugleich. In der Vergangenheit hatte ich genügend Erfahrungen mit derartigen Spielen gesammelt. Mit einem entscheidenden Unterschied. Damals war ich diejenige, die die Spielregeln vorgab.

Schwarze Rosen stellten meist eine Drohung dar. Aber wer steckte dahinter? Es musste jemand sein, der von meiner Vergangenheit wusste. Einer Zeit, in der ich auf die falschen Freunde gesetzt hatte. In der ich oft skrupellos und grausam meine Opfer auswählte, ohne an mögliche Folgen zu denken. Viele Jahre hatte ich keinerlei Gedanken an diese Phase meines Lebens verschwendet. Jetzt jedoch hatte sie mich eiskalt eingeholt und führte mir mehr als deutlich vor Augen, was es bedeutete auf der anderen Seite zu stehen. Die Aufforderung zum Spiel reizte und erschreckte mich gleichermaßen. Sollte ich mich darauf einlassen? Konnte ich gewinnen oder würde ich verlieren?!

Inzwischen war es Abend geworden. Ich trat ans Fenster und schaute gedankenverloren in meinen Garten.

Die Straßenlaterne jenseits des Zauns spendete nur geringes Licht. Eben wollte ich mich abwenden als ich aus dem Augenwinkel heraus einen Schatten wahrnahm. Dort hinten. Am Rhododendron Busch. Mein Herz machte einen kleinen Sprung. Das Gefühl beobachtet zu werden wuchs sekündlich. Aber so sehr ich meine Augen auch anstrengte, bei dem wenigen Licht konnte ich nicht das Geringste erkennen.

Dafür kann man mich von draußen sehr gut sehen…“ – schoss es mir durch den Kopf und augenblicklich zog ich die Vorhänge zu.

In dieser Nacht wurde ich von Luna geweckt. Die Hündin stand neben meinem Bett und winselte aufgeregt. „Was ist los?“, flüsterte ich und folgte ihr alarmiert, bis sie mich zu unserer Wohnungstür führte. Dort stand sie nun und knurrte. Einen Moment lang starrte ich sie verwundert an. Dieses Verhalten zeigte sie nur selten. Für Gewöhnlich gehörte Luna zu der Sorte Hund, die selbst einem potentiellen Einbrecher schwanzwedelnd die Tür geöffnet hätte. Jetzt jedoch stand sie hier, mit gebleckten Zähnen und gesträubtem Fell, bereit unser Zuhause zu verteidigen. Ich schaute zur Tür. Mein Herz raste. Das Licht im Treppenhaus brannte und unter dem Türspalt erkannte ich erneut einen Schatten. Etwas wurde auf meiner Fußmatte abgelegt. Schritte entfernten sich. „Ruhig…“, flüsterte ich meiner Hündin zu und tätschelte ihr den Kopf. Nach ein paar Minuten bemerkte ich, wie Luna sich entspannte. Das war für mich das Signal, dass die Luft wieder rein war. Noch einmal atmete ich tief durch und riss mit einem Ruck die Tür auf. Das Licht im Treppenhaus brannte noch, aber niemand war zu sehen. Auf dem Boden lag eine Schachtel. Nicht größer als ein Schuhkarton für Kinderschuhe.

Also schön. Spielen wir.“

Im Wohnzimmer schaltete ich alle Lichter ein, legte meinen Fund vorsichtig auf den Couchtisch und holte eine Schere aus dem Küchenschrank. Meine Hände zitterten leicht vor Aufregung. Mit gezielten Schnitten durchtrennte ich das Klebeband. Griff nach dem Deckel und hob ihn langsam ab. Ich warf einen vorsichtigen Blick hinein und stieß einen spitzen Schrei aus! Reflexartig sprang ich nach hinten. Auf dem Boden der Schachtel hockte eine lebende Vogelspinne! Zwar hatte ich keine Arachnophobie, doch als Haustier brauchte ich ein solches Vieh nun wirklich nicht. Mit klopfendem Herzen schlich ich mich wieder an meinen Couchtisch heran. Die Vogelspinne bewegte sich. Es kam mir so vor, als würde sie mich geradewegs anstarren. Ich schluckte. Bei diesem Exemplar stellten sich selbst mir die Nackenhaare auf.

Mit einem beachtlichen Sprung bewegte sie sich plötzlich auf mich zu und ließ mich erneut verschreckt zurückweichen.

Am Ende brauchte ich über eine Stunde, um meinen ungebetenen Gast mit Hilfe eines Putzeimers einzufangen. Zur Sicherheit legte ich mehrere schwere Bücher auf sein vorläufiges Gefängnis, um ein zufälliges Umstoßen zu verhindern.

An Schlafen war jetzt nicht mehr zu denken. Ich ging hinüber in die Küche, um Kaffee zu kochen. Warf dem Eimer dabei immer wieder argwöhnische Blicke zu. Wen rief man an, wenn man eine Vogelspinne in seiner Wohnung hatte? Den Kammerjäger oder die Zoohandlung?! Ich seufzte genervt und ging mit meiner dampfenden Tasse zurück zur Couch. Unterwegs warf ich zufällig einen Blick in die vermeintlich leere Schachtel. Ein Irrtum, wie sich herausstellte. Ich stutzte und griff nach dem kleinen Umschlag, der am Boden gelegen hatte. Die Frage, die auf der Karte stand, brachte meinen Verstand zum Rotieren.

Erinnerst du dich?

An was sollte ich mich erinnern oder an wen?! Frustriert tigerte ich durch unsere Wohnung und suchte vergeblich nach Antworten.

Luna kratzte an der Terrassentür und riss mich damit aus meinen Gedanken. „Willst du raus?“, fragte ich sanft und öffnete ihr.

Mit schnellem Sprint war sie in der Dunkelheit verschwunden. Plötzlich zerriss lautes Hundegebell die Stille. Ich hörte eine Männerstimme fluchen. Dann war alles ruhig. „Luna?!“, sofort rannte ich zur Glastür und starrte hinaus. Nichts war zu sehen. Nichts zu hören. „Luna!“, rief ich lauter. Beginnende Verzweiflung machte sich in mir breit. Sie hatte jemanden gestellt. Mit einer Mischung aus Sorge um meinen Hund und Angst vor dem Fremden rannte ich zurück in meine Küche, schnappte mir das erstbeste Messer, das ich finden konnte und wollte in meinen Garten laufen. In dieser Sekunde tauchte meine Hündin, im Schein der Wohnzimmerlampe, wieder auf. Ich seufzte erleichtert und nahm sie fest in meine Arme. Augenscheinlich wirkte sie unverletzt. Ich tastete auch ihre Schnauze nach Wunden ab und bemerkte plötzlich, dass sie etwas in ihrem Gebiss trug.

Was bringst du mir?“, fragte ich und Luna legte, ohne zu Zögern, ihre Beute in meine Hand. Ein schwarzes Handy mit goldfarbener Plastikhülle. Ich drehte es in meinen Händen und plötzlich holte mich eine Erinnerung, an den gestrigen Tag, wieder ein. Der Mann an der Bushaltestelle. Sein Handy hatte exakt die gleiche auffällige Hülle getragen, wie dieses Exemplar hier. Das konnte unmöglich ein Zufall sein und zugleich konnte es nur eins bedeuten. „Sieht aus, als hätte ich meinen Gegenspieler gefunden.“ Mit dem Handy in der Hand setzte ich mich auf die Couch. Ob es passwortgeschützt war? Ich wischte über den Bildschirm und seufzte. Sogleich erschien ein Eingabefeld. Ich musste eine vierstellige Pin eintippen. „Na gut.“, ich nahm, was mir als erstes in den Sinn kam, mit wenig Hoffnung auf Erfolg. Überrascht starrte ich das Handy an, als es sich, nach der Eingabe der Zahlenfolge 1-2-3-4 tatsächlich entsperrte.

Idiot.“, ein leichtes Grinsen zuckte über meine Lippen. Was ich dann allerdings auf seinem Handy fand, ließ meine Selbstsicherheit ebenso schnell verfliegen, wie es meinen Herzschlag in die Höhe trieb. In seiner Galerie entdeckte ich über 800 Fotos und alle waren von mir. Geschossen im Laufe der letzten Wochen. Einige zeigten mich draußen, beim Sport oder bei Spaziergängen mit meinem Hund. Gruseliger hingegen waren die Bilder, die eindeutig aus dem Inneren meiner Wohnung stammten. Auf einem lag ich sogar in der Badewanne – aufgenommen durch den geöffneten Spalt meiner Zimmertür. Mir wurde heiß und kalt. Mein Atem ging schnell. Fahrig ließ ich meinen Blick durch´s Wohnzimmer schweifen. Wie bitte war er Mal für Mal hier eingedrungen, ohne auch nur die geringsten Spuren zu hinterlassen?! Weshalb hatte Luna nie Alarm geschlagen? Ich schluckte und versuchte das wilde Pochen meines Herzens zu ignorieren, dass zu einem immer lauter werdenden Rauschen in meinen Ohren angeschwollen war. Plötzlich fühlte ich mich in meinen eigenen vier Wänden nicht mehr sicher. Das letzte Foto in seiner Galerie war erst wenige Stunden alt. Es zeigte mich, wie ich aus meinem Wohnzimmerfenster starrte. Ich versuchte den Kloß in meinem Hals hinunter zu schlucken. Es gelang mir nicht.

An diesem Morgen meldete ich mich im Büro krank. Ich wollte unter allen Umständen verhindern, dass sich mein Widersacher noch einmal unbemerkt Zugang zu meiner Wohnung verschaffen konnte, während ich nicht zu Hause war.

Er wollte spielen? Sollte er es doch versuchen…!

Mein Blick fiel auf die Rosen, die noch immer auf meinem Küchentisch standen. Kurzentschlossen griff ich mir den Strauß und warf ihn in den Müll. Luna stand winselnd an unserer Wohnungstür. Ihre Leine im Maul schaute sie mich erwartungsfroh an. Ich zögerte. Sollte ich jetzt wirklich das Haus verlassen? „Aber nur eine ganz kleine Runde.“, mahnte ich. Meine Hündin wedelte, wie zur Bestätigung, mit ihrem Schwanz. Draußen fühlte ich mich heute wie der Mittelpunkt einer Zielscheibe. Unentwegt hielt ich Ausschau nach dem Mann vom gestrigen Tag.

Das letzte Mal, dass ich gespielt hatte, lag locker zehn Jahre zurück. Damals war ich Teil einer Mädchengang gewesen. Unsere Opfer, ausschließlich Jungs, hatten nicht selten im Anschluss die Schule gewechselt. Angezeigt wurden wir nie. Dafür hatten sie alle viel zu viel Angst gehabt. Mit allem durchzukommen, ohne nennenswerte Konsequenzen zu spüren, hatte uns damals so manches Mal in einen regelrechten Rausch versetzt. Lag es an meinem heutigen Alter, dass dieses Spiel jetzt so viel bedrohlicher wirkte? Oder war es die Tatsache, dass ich nicht wusste, was als nächstes geschah? Keine Kontrolle zu besitzen machte mich rasend und es machte mich nervös. Ich wusste nur zu gut, was dann kommen würde. Nervöse Menschen machten Fehler und Fehler bedeuteten in meinem Fall, meinem Gegner in die Karten zu spielen. Das durfte ich unter keinen Umständen zulassen.

Wir waren etwa 15 Minuten unterwegs als ich beschloss, dass es besser wäre umzukehren. Ich pfiff meine Hündin zurück und gemeinsam machten wir uns auf den Heimweg. Schon im Treppenhaus spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Ich hatte es irgendwie im Gefühl und meine Intuition trog mich nie. Langsam steckte ich den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Sofort bemerkte ich, dass nicht abgeschlossen war. Scheiße…! Ich hätte meine Wohnung nicht verlassen dürfen. Vorsichtig öffnete ich die Tür einen Spalt breit und zwängte mich leise hindurch. Aber ich hatte die Rechnung ohne meine Hündin gemacht, die mit lautem Gebell Richtung Schlafzimmer verschwand. „Warte!“, rief ich und wollte ihr nach, als mein Blick von etwas festgehalten wurde. Ich erstarrte. Die Rosen standen wieder an ihrem alten Platz und verhöhnten mich. Nur mit Mühe konnte ich meinen Blick von ihnen losreißen, denn in diesem Moment wurde mir plötzlich mit Schrecken bewusst, dass ich meine Hündin nicht mehr hören konnte. „Luna?!“, rief ich und schaute mich suchend nach ihr um. Mein Puls beschleunigte sich als ich von Raum zu Raum lief. Vor der geschlossenen Schlafzimmertür blieb ich einen Augenblick lang zögernd stehen. Langsam drückte ich die Klinke hinunter. Die Tür schwang knarrend auf und gab den Blick auf meine Hündin frei, die wie tot, neben meinem Bett, auf dem Boden lag. „Oh Gott, Luna!“, ohne nachzudenken eilte ich zu ihr, streichelte ihr Fell und bettete ihren leblosen Kopf auf meinen Schoß. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich bemerkte, dass sie nicht tot, sondern einfach nur sehr tief eingeschlafen war. Wäre ich nicht derart auf meine Hündin fixiert gewesen, hätte ich die Bedrohung vielleicht kommen sehen. So war es längst zu spät, als ich den Schatten über mir bemerkte. Erschreckt schaute ich auf. Der Mann vor mir schlug mit seiner Faust gegen meine Schlafzimmertür, so dass diese knallend zuschlug. Ich brauchte einen Augenblick, um die neue Situation zu begreifen. Mein einziger Fluchtweg war versperrt. Ich saß in der Falle. Der Mann, ganz in schwarz gekleidet, trug eine Augenmaske, die ihn noch bedrohlicher wirken ließ. Ich unterdrückte den Impuls zurückzuweichen. Ließ mein Gegenüber dabei keine Sekunde aus den Augen. „Sieh an, wen haben wir denn hier?!“, ein überhebliches Grinsen umspielte seine Mundwinkel. Langsam kam er zwei Schritte auf mich zu. Er war groß, schlank und etwas muskulös. In Gedanken spielte ich verschiedene Szenarien durch, wie ich an ihm vorbei aus meinem Schlafzimmer gelangen könnte. Meine Atmung beschleunigte sich, aber ich zwang mich erneut, nicht zurückzuweichen. Vorsichtig erhob ich mich, schaute dem Mann dabei so fest wie möglich ins Gesicht. Ich bemerkte den grauen Fleck auf seiner rechten Iris. Offensichtlich war er auf diesem Auge blind. Meine Gedanken überschlugen sich.

Was geht dir durch den Kopf? Überlegst du, wen du vor dir hast? Erkennst du mich etwa nicht mehr?!“, mit jedem Satz wurde der Mann lauter, energischer. „Ich kenne Sie nicht.“, antwortete ich möglichst kühl, um seine Aggressionen nicht noch weiter zu befeuern. Offensichtlich war dies aber nicht die Antwort, die er hören wollte. „Du kennst mich nicht?!“, echote er und in seinem gesunden Auge glimmte heißer Zorn, „Ich werde deiner Erinnerung auf die Sprünge helfen!“ Mit einer Schnelligkeit, die ich ihm nicht zugetraut hatte, packte er meine Handgelenke und schleuderte mich auf mein Bett. Mit seinem Körpergewicht presste er mich fest auf die Matratze. Ich stieß einen erstickten Schrei aus. Begann mich unter ihm zu winden und spürte sofort, dass ich mich nicht einen Zentimeter rühren konnte. „Lassen Sie mich los!“, zischte ich und funkelte ihn wütend an. Der Mann lachte nur. „Du bist nicht gerade in der Position Forderungen zu stellen, meinst du nicht auch?!“ Er beugte sich ganz dicht zu mir hinunter, so dass ich seinen warmen, feuchten Atem in meinem Gesicht spüren konnte. Angewidert wandte ich den Kopf ab. Erneut hörte ich ihn lachen. „Willst du mich nicht mehr ansehen?!“, höhnte er.

Ich schluckte und zwang mich ihm wieder in die Augen zu schauen. Das rechte Lid hing etwas hinunter. Sein linkes, gesundes Auge stierte mich lüstern an. „Was für ein kranker Psychopath sind Sie eigentlich?“, auch ich sprach jetzt lauter. Versuchte meiner Stimme mehr Schärfe zu geben. Ich wusste allerdings nicht, ob es klug war, ihn zu reizen, aber kampflos in mein Schicksal ergeben, kam für mich ebenfalls nicht in Frage. Meine Chancen standen ohnehin schlecht.

Du willst wissen, wer ich bin?!“, jetzt spuckte er fast. Blanker Hass zeichnete sich auf seinen Zügen ab. Der Mann ließ eines meiner Handgelenke los. Ich bewegte mich nicht. Es machte keinen Sinn. Durch sein Körpergewicht allein war er in der Lage, mich an Ort und Stelle zu halten. Mit seiner freien Hand riss der Mann sich die Maske von den Augen und gab so den Blick auf eine tiefe, wulstige Narbe frei, die über seinem linken Augenlid, quer über seine Nase und hinüber zu seinem rechten Auge verlief. Mir stockte der Atem. „Ich bin, was ihr aus mir gemacht habt!“, schrie er, holte aus und schlug mir mit voller Wucht mitten ins Gesicht. Ich keuchte überrascht. Mein Kopf wurde zur Seite geschleudert. Mein Wangenknochen schmerzte und für einen kurzen Augenblick sah ich Lichtblitze vor meinen Augen schwirren. Ich atmete ein paar Mal tief durch, ehe ich wieder wagte den Mann anzusehen. Der Schlag hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Mein Kopf dröhnte heftig. Der Mann atmete schnell. Wir schauten einander an und mit einem Mal schossen Erinnerungsfetzen aus meinem Unterbewusstsein an die Oberfläche. Da hatte es einen Jungen gegeben. Sein Name war mir entfallen. Unsere Gang hatte es damals besonders auf ihn abgesehen, weil er mit seinem rechten Auge sehr stark schielte. Wochenlang hatten wir ihn gequält. Ich erinnerte mich an die Spinnen, die wir ihm einmal in den Kragen seines Shirts gesteckt hatten, obwohl wir wussten, dass er panische Angst vor ihnen hatte. Kurz darauf war er eine Treppe hinuntergefallen und im Krankenhaus gelandet. Ich schnappte nach Luft. Daher die Schachtel mit der Vogelspinne! Mein Verstand begann zu arbeiten. Was hatten wir noch getan? Wir hatten ihn oft drangsaliert, ich erinnerte mich. Einmal hatte er sich vor Angst in die Hose gemacht. Ein paar Mitschüler hatten es mitbekommen. Danach war sein Ruf an unserer Schule vollkommen ruiniert. Im Nachhinein bereute ich, in dieser Mädchengang mitgemischt zu haben. Damals hatte ich so tief mit drin gesteckt, dass an einen Ausstieg einfach nicht zu denken war.

Der Mann begann mit einer meiner Haarsträhnen zu spielen und riss mich damit aus meinen Gedanken. Am Liebsten hätte ich ihn von mir gestoßen. „Du weißt es wirklich nicht mehr, oder?! Wieso ich die hier habe.“, mit einer Hand deutete er auf seine Narbe. Seine Stimme hatte einen säuselnden Klang angenommen. Dieser Tonfall erschreckte mich mehr, als der Wutausbruch zuvor. Ein Schauer jagte über meinen Rücken.

Deine Freundinnen wussten auch nicht mehr, wer ich bin. Habt ihr so viele Jungs fertig gemacht, dass ihr euch nicht mal an deren Namen erinnern könnt?!“

Du warst bei ihnen?“, keuchte ich. Ich hatte die anderen schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen. Seit dem Tag, als ich beschloss, ein anständiges Leben zu führen und der Dunkelheit den Rücken zu kehren. Ich wusste nur, dass mindestens eine von ihnen im Drogensumpf untergegangen war.

Oh ja…“, sein eines Auge funkelte, „Ich war bei jeder von ihnen. Und jetzt sind sie alle tot…“, sein Lachen klang wie das eines Verrückten. Erstickt hielt ich den Atem an. Er beobachtete meine Reaktion mit unverhohlenem Spott. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem teuflischen Grinsen, welches mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. „Ich werde auch dich töten, meine Liebe! Aber zuerst werden wir uns noch ein wenig amüsieren. Das Spiel ist noch nicht vorbei…“ Mit drei gezielten Handgriffen hatte er mein Shirt zerrissen. Ich keuchte und unternahm einen erneuten, aussichtslosen Versuch, ihn von mir herunter zu stoßen. Der Mann griff neben sich und zog einen kleinen, dunklen Stoffbeutel hervor. Verwirrt sah ich ihm dabei zu, wie er sich einen weißen Latex-Handschuh anzog und erneut in den Beutel griff. Mein Herz raste. Inzwischen konnte ich meine Angst nicht mehr kaschieren. Der Mann holte ein grünes, undefinierbares Bündel Unkraut aus seinem Beutel hervor und hielt es mir unter die Nase. „Weißt du was das ist? Erinnerst du dich daran?“

Wieso sollte ich mich an Unkraut erinnern?!“, fragte ich verwirrt und lachte. Ich verstand mich in diesem Augenblick selbst nicht. Diese ganze Situation jagte mir eine Heidenangst ein und anstatt um mein Leben zu betteln, verhöhnte ich diesen Typen auch noch, indem ich ihn auslachte. Ich wusste, wie gefährlich das war und konnte doch nicht damit aufhören.

Statt einer Antwort zog er mir das grüne Büschel einmal quer durch´s Gesicht. Innerhalb weniger Sekunden brannte meine Haut wie Feuer! Ich sog scharf die Luft ein und starrte ihn an, während es sich anfühlte, als würden hunderte Ameisen über mein Gesicht rennen. Jetzt wusste ich, was das für Unkraut war. Der Mann grinste süffisant. „Erinnerst du dich jetzt?!“

Ich nickte stumm. Ja, ich erinnerte mich. Ich sah die Waldlichtung vor mir, als wäre es gestern gewesen. Dort, wo wir den Jungen nach der Schule abfingen. Er floh, aber wir waren schneller. Auch er hatte die Brennnesseln zu spüren bekommen. Er jammerte noch, er könnte kaum etwas sehen, als wir ihn quer durch den Wald trieben. Ich erinnerte mich, dass wir ihn verhöhnten und dann allein im Wald zurückließen. Ein paar Tage später hieß es, er habe die Schule gewechselt.

Der Mann sah mir tief in die Augen. Sein Blick so kalt wie Eis.

Ihr seid Schuld an dieser Narbe!“, zischte er, holte aus und peitschte mir mit den Brennnesseln gezielt über die nackte Haut. Ich stöhnte laut auf und versuchte mich ihm zu entziehen. „Ihr habt mich im Wald allein gelassen. Allein und fast blind, in der Nähe des Abhangs. Ich hab ihn nicht gesehen. Fiel mehrere Meter in die Tiefe und bin mit dem Gesicht im Dornengestrüpp gelandet!“

Mit jedem Wort wurde er lauter und mit jedem Satz schlug er erbarmungsloser zu. Ich wandte mich unter ihm. Heiße Tränen rannen über meine Wangen. Tränen, die nicht nur von den Schmerzen stammten. Mein Atem ging stoßweise. Als er endlich von mir abließ war mein Oberkörper mit brennenden Quaddeln übersät. „Es tut mir Leid.“, flüsterte ich unter einem neuerlichen Tränenstrom. Ich meinte es ehrlich, aber ich drang nicht mehr zu ihm durch. Ich zweifelte nicht länger daran, dass ich gleich sterben würde. Da bemerkte ich plötzlich, wie meine Schlafzimmertür einen Spalt breit geöffnet wurde. Frau Seidler steckte ihren Kopf hindurch. Leichenblass riss sie die Augen auf und es schien, als würde sie jeden Moment losschreien. Genau in dieser Sekunde legte mein Peiniger die Brennnesseln beiseite und streifte sich den Handschuh ab. Ein Augenblick der Unachtsamkeit. Ein Augenblick, den ich nutzte, um meiner Vermieterin ein Zeichen zu geben, still zu sein und Hilfe zu holen.

Die Schlafzimmertür quietschte. Panisch hielt ich den Atem an.

Was war das?!“, ruckartig wandte sich der Mann um. Mir blieb keine Zeit zu überlegen. Ich musste handeln. Sofort. Da er mich für den Moment nicht festgehalten hatte, blieb mir ein wenig Bewegungsspielraum. Mit letzter Kraft kämpfte ich mich hoch und rammte ihm beide Fäuste in die Magengrube. Er stöhnte und ich sah, wie die Farbe aus seinem Gesicht wich. Wutentbrannt starrte er mich an. „Du wagst es?!“ Bevor ich reagieren konnte hatte er mich zurück auf die Matratze gedrückt und begann mich zu würgen. Ich rang erstickt nach Luft und zerrte an seinen Armen. Keine Chance. Nach einer gefühlten Ewigkeit ließ er endlich von mir ab. Ich hustete und sog gierig so viel Luft in meine Lungen, wie ich kriegen konnte. Aber es war noch nicht vorbei. Aus seiner Hosentasche zückte der Mann ein kleines Klappmesser. Er sah, wie ich zusammenzuckte, und grinste. „Eine Narbe für eine Narbe.“, flüsterte er und leckte sich gierig die Lippen. Ich keuchte. Diesmal war er es, der lachte. „Hab´ dich nicht so! Gleich ist es sowieso vorbei.“ Das nächste was ich spürte war ein furchtbar stechender und brennender Schmerz an meinem Schlüsselbein. Ich schrie.

In diesem Moment wurde die Tür aufgestoßen. Polizisten mit gezogenen Waffen stürmten herein, zerrten den Mann herunter von mir und überwältigten ihn. Mir wurde eine Decke gereicht. Frau Seidler umarmte mich. Das Spiel war vorbei.

Die Polizei führte den Mann in Handschellen ab. Er wurde wegen vierfacher Vergewaltigung, vierfachen Mordes und versuchter Vergewaltigung verurteilt. Ich kam als Opfer aus der Sache heraus. Aber war ich wirklich so unschuldig?

Am schwersten wiegte für mich die Erkenntnis, dass wir es gewesen waren, die aus einem schüchternen, verletzlichen Jungen ein Monster gemacht hatten. Eine Gewissheit, mit der ich den Rest meines Lebens würde leben müssen. Die Narbe an meinem Schlüsselbein würde mich bei jedem Blick in den Spiegel erneut daran erinnern, dass keine Tat im Leben ohne Folgen bleibt.

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