MeikeTWer bin ich wirklich

 Lisa steigt nach einer langen Nachtschicht völlig müde und entkräftet in die S-Bahn. ´Endlich ins Bett´ denkt sie sich. Dies war wieder eine dieser kräftezehrenden Nachtschichten im Krankenhaus, wie sie sie schon lange nicht mehr hatte. Sie machte den Job jetzt schon 20 Jahre und auf der Geburtenstation ist immer viel los aber so wie heute hatte Lisa es selten erlebt. Fünf Geburten gleichzeitig und eine Zwillingsgeburt, die in einem Kaiserschnitt endete. Aber sie war glücklich, alles ist gut gegangen. Es ging den Babys und ihren Müttern gut, das ist es, was Lisa so an ihrem Job liebt. müde aber zufrieden ließ sie sich in einen freien Vierersitz fallen. Außer ihr saß so früh kaum jemand in dem S-Bahn Abteil. Ganz weit hinten sah sie jemand schlafend unter seiner Kapuze versteckt an die Scheibe gelehnt sitzen. ´Der kommt bestimmt gerade vom Feiern und ich fahre von der Arbeit heim´, dachte sich Lisa.

Sie entspannte sich und schaute aus dem Fenster in die Dämmerung. Die Sonne war kurz davor aufzugehen, es sollte ein warmer Sommertag werden. Ihr fielen vor Müdigkeit langsam die Augen zu. Auf der Heimfahrt in der Bahn konnte Lisa immer gut entspannen, sie musste eh bis zur Endhaltestelle fahren und der nette Schaffner weckte sie zur Not immer, wenn sie eingeschlafen war und das stoppen der Bahn nicht selber bemerkte. Genau das passierte ihr nach einer solch anstrengenden Nachtschicht auch heute und nach circa einer halben Stunde Fahrt tippte Lisa jemand auf die Schulter. “Liebes Fräulein, sie sind mal wieder eingeschlafen, wir sind am Ende unserer Fahrt angekommen, sie müssen aussteigen.” sagte der nette Zugbegleiter zu ihr, der regelmäßig diese Tour begleitete und Lisa bereits kannte. ” Oh danke, das war eine anstrengende Schicht heute” erwiderte Lisa ihm und stand auf um die Bahn zu verlassen. “Warten sie Fräulein, sie haben was vergessen” rief der Schaffner ihr hinterher und hielt ihr die Hand entgegengestreckt. Lisa drehte sich um und nahm den Gegenstand, den der Schaffner ihr entgegenhielt. Es war ein Smartphone. Lisa trat auf den Bahnsteig. Durch ihre Müdigkeit hatte sie nicht sofort bemerkt, dass es nicht ihr Smartphone war. Sie wollte den Irrtum aufklären, drehte sich um, aber die Türen der Bahn waren bereits geschlossen und der nette Schaffner winkte ihr von drinnen beim Abfahren der Bahn. Sie schaute sich das Smartphone genauer an um einen Hinweis auf seinen Besitzer zu entdecken, aber sie fand nichts. Es war durch einen Zahlencode gesperrt und der Sperrbildschirm war eine schöne aber nichts sagende Blumenlandschaft. Sie steckte das Smartphone erst einmal in ihre Jackentasche und machte sich mit der aufgehenden Sonne auf den Heimweg. Sie musste dringend ins Bett, sonst würde sie noch an Ort und Stelle einschlafen. Um das Smartphone würde sie sich kümmern, wenn sie ausgeschlafen hat. Als sie zuhause in ihrer kleinen zwei Zimmer Wohnung angekommen war, putze sie sich schnell die Zähne und ließ sich dann in die tausend Kissen in ihr Bett fallen. Sie schlief sofort ein.

Lisa wurde wach und schaute auf ihren Wecker, es war bereits 14Uhr. Sie streckte sich, rieb sich die Augen und ging ins Bad. Als sie sich den Schlaf aus den Augen wusch und sich im Spiegel ansah, dachte sie kurz, ob sie das geträumt hatte oder hatte ihr der Schaffner wirklich ein Smartphone mitgegeben? Sie ging zu ihrer Jacke, die an der Garderobe hing und griff in die rechte Jackentasche. Tatsächlich sie zog ein Smartphone raus und schaute es sich noch einmal genau an. Zum entsperren benötigte man einen 6 -stelligen Code, da würde sie ja ewig brauchen den herauszufinden. Das Beste wäre, sie würde es zur Polizei bringen, die wüssten bestimmt etwas damit anzufangen. Sie musste eh noch einkaufen gehen, daher zog sie sich schnell an, schnappte sich ihre Tasche und ging in Richtung Supermarkt. Auf dem Rückweg würde sie das Smartphone an der nächsten Polizeidienststelle abgeben und denen erklären, wo sie es gefunden hatte. Während des Einkaufes merkte Lisa, wie es in ihrer Jackentasche vibrierte. Sie griff hinein und zog das fremde Smartphone heraus, in der Voransicht sah sie mehrere Kurznachrichten die ankamen. Sie starte ungläubig auf den Bildschirm und dachte, sie würde wieder träumen. Da stand doch tatsächlich “Hallo Lisa ” – “ja, ich meine genau dich!”  – ” du willst wissen was das soll?” und dann erschien eine neue Kurznachricht in der Voranzeige mit einem 6-stelligen Code “270398”. Lisa stand zwischen Konserven und Einmachgläsern und schaute vorsichtig hoch. Sie konnte das grad gar nicht glauben was da geschah. Sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich wissen wollte was das alles soll und was man vor allem von ihr wollte. Sie zögerte, aber tippte dann doch den Code aus der Nachricht über das Display ins Smartphone und es entsperrte sich. Sie hatte nur vier Möglichkeiten die sie anklicken konnte. Die Kurznachrichten die das Smartphone gerade erhalten hatte, den Telefonieren-Button, das Telefonbuch und die Galerie mit Fotos und Videos. Sie klickte zunächst in die Nachrichten und wollte nach dem Absender der Nachrichten sehen. Es handelte sich um eine Handynummer, die nicht im Smartphone eingespeichert war. Danach klickte sie ins Telefonbuch. Dort gab es nur einen einzigen Eintrag: Lisa Maier – das war sie und dahinter stand ihre Mobilnummer. Lisas Hände zitterten, was zur Hölle sollte das alles. Woher hatte da jemand ihre Mobilnummer. Neugierig und ängstlich klickte sie nach dem Telefonbuch die Galerie an, ihr fiel das Smartphone vor Schreck aus der Hand. Ihr kamen die Tränen, sie stellte zitternd den Einkaufskorb ab, kniete sich hin und hob das Smartphone wieder auf. Auf dem Display war eine Galerie mit mehreren Bildern und auf allen Bildern war sie zu sehen. Wie sie die Klinik betrat, wie sie mit ihrer Kollegin vor der Klinik ihre Pause in der Sonne sitzend verbrachte. Das mussten Aufnahmen von vor einer Woche gewesen sein, wo sie Mittagsschicht hatte. Lisa klickte sich ungläubig durch die Galerie. Es waren alles Fotos, die jemand heimlich von ihr geschossen hatte, in Alltagssituationen. Als sie beim letzten Foto angekommen war brach sie endgültig in Tränen aus, es zeigte sie angelehnt an die Scheibe in der S-Bahn, schlafend im Vierer heute Morgen auf dem Heimweg. Sie griff nach ihrer Handtasche und rannte ohne ihre Einkäufe aus dem Supermarkt. Fast hätte sie noch einen jungen Mann, der gerade den Supermarkt betreten wollte umgerannt. Der schrie ihr wütend hinterher: ” Eine Entschuldigung wär nett gewesen”. Aber Lisa konnte gerade an nichts Anderes denken, als an die Fotos und wer sie gemacht haben konnte. Sie rannte nach Hause, holte mit zittrigen Händen ihren Haustürschlüssel raus, rannte die Treppe hoch und als sie die Wohnungstür hinter sich schloss, brach sie in sich zusammen.

Es gewitterte draußen stark, in den Nachrichten warnten sie vor dem großen Sturm, der dort auf sie zu fegte. Der Regen prasselte wie hämmernde Fäuste gegen die Fensterscheiben, so laut, dass man sein eignes Wort kaum verstand. Es blitze, Lisa zuckte zusammen. Sie war gerade ganz frisch auf der Geburtenstation und dann direkt eine solche Nachtschicht. Es waren 4 Geburten gleichzeitig, zwei normale, eine Zwillingsgeburt und eine, die schwierig zu werden schien. Das Baby saß im Geburtskanal fest und zwei Ärzte und die Hebamme versuchten ihr Bestes, um das Kleine zur Welt zu bringen. Lisa stand daneben und reichte an, was immer man ihr zurief. Nebenan im Kreissaal hörte man schon das Neugeborene schreien, dort war es anscheinend bereits geschafft. Lisa konzentrierte sich wieder auf ihre Assistenz, als sie wieder vor Schreck zusammenzuckte als draußen der Himmel vom Blitz hell erleuchtet wurde. Plötzlich ging es ganz schnell, das Neugeborene schrie, der Arzt schnitt die Nabelschnur durch, Lisa reichte ihm ein Handtuch in dem das Neugeborene eingewickelt wurde. Man reichte es Lisa, um es zu wiegen, zu vermessen und sauber zu machen. Lisa ging mit dem Kleinen im Arm nach nebenan, es sah so hilflos und klein aus. Völlig entkräftet von der schweren Geburt lag es ganz friedlich da und ließ alles über sich ergehen. Lisa legte das Babys eingewickelt in die leere Wanne, um es sauber zu waschen. Plötzlich rief die Hebamme nach ihr “Lisa komm schnell, wir brauchen deine Hilfe”. Sie ließ in der Hektik das Kleine in der Wanne liegen und rannte hinüber in den Kreissaal. Ihr wurde fast schlecht bei dem Anblick den sie dort erblickte. Überall war Blut, die Ärzte und die Hebamme rannten hektisch hin und her, versuchten die Blutung zu stoppen und die junge Mutter, die gerade mutterseelenallein ihr Kind auf die Welt gebracht hatte zu retten. Plötzlich hörte Lisa das durchgehende Piepsen der Herzrhythmus Maschine und die Ärzte hörten auf hecktisch hin und her zu laufen und ließen die Köpfe sinken. Sie hatten es nicht geschafft, die junge Mutter war den schweren Komplikationen bei der Geburt erlegen. Sie war alleine ins Krankenhaus gekommen, wer der Vater des kleinen Jungen war, den sie gerade zur Welt gebracht hatte wusste niemand. Da fiel Lisa wieder ein, dass das Neugeborene ja noch nebenan lag. Sie rannte rüber und es schlief seelenruhig und erschöpft, eingewickelt in dem Tuch in der Wanne. Lisa nahm es vorsichtig hoch, ihr schossen die Tränen in die Augen. So jung und schon alleine. Was ist, wenn man den Vater nicht ausfindig machen konnte? Wo kommt der Kleine dann hin? Dann kam eine andere Krankenschwester mit zwei kleinen Knäulen in den Armen hinein. Das waren vermutlich die Zwillinge aus dem Kreissaal nebenan. “Ach Lisa, gut dass du hier bist” sagte die andere Krankenschwester. “Kannst du die beiden Kleinen bitte direkt mit fertigmachen, ich muss schnell wieder nach nebenan, dort bei der Nachgeburt helfen – Mensch das ist aber auch eine Nachtschicht – hier ist ja heute die Hölle los und dann noch dieses Wetter draußen”. Die andere Krankenschwester sah die Tränen in Lisas Augen gar nicht vor lauter Hektik auf der Station und schon war sie auch wieder verschwunden. Nun stand Lisa da mit drei kleinen Würmchen, eingewickelt in ihre Tücher. Sie nahm den kleinen Jungen aus der Wanne hoch, wickelte ihn aus und fing an ihn sauber zu machen. Er ließ alle ohne nörgeln und schreien über sich ergehen. Er machte keinen Mucks. Die beiden Zwillinge lagen nebeneinander auf dem Tisch mit der Waage, dort gab es eine geschützte Ablage mit hohem Rand so dass die Babys nicht runterfallen konnten. Auch diese beiden schliefen vor Erschöpfung. Ein Neugeborenes nach dem anderen wusch Lisa und füllte die Blätter zur Geburt mit den Daten der Kleinen aus. Als sie den zweiten Zwilling hochnahm, um ihn zu waschen war er extrem ruhig und gräulich im Gesicht. Lisa wickelte ihn aus und fühlte den Puls. Nichts, sie konnte keinen Puls fühlen. Sie nahm sich ein Stethoskop, was an der Wand hing. Auch hier nichts, kein Herzschlag. Sie dachte sich “nicht du auch noch, tu mir das bitte nicht an, nicht heute Nacht” Sie drückte mit zwei Fingen auf den kleinen Brustkorb und beatmete das Kleine mit Mund zu Mund, doch nichts tat sich. Lisa schossen erneut die Tränen in die Augen, der andere kleine Junge hatte nun keine Mutter mehr und die Zwillinge würden nie als Zwillinge aufwachsen. Wie ungerecht die Welt in diesem Moment doch war. Da kam ihr eine Idee: was wäre, wenn sie die Babys austauschen würde. Der Kleine hätte dann eine richtige Familie und würde mit viel Liebe und einer Zwillingsschwester aufwachsen. Sie schaute sich um, ob sie jemand sah oder hören konnte aber alle waren so beschäftigt mit dem hektischen Treiben auf der Station, dass sie immer noch alleine mit den drei Kleinen war. Sie wickelte den kleinen Jungen in die Decke des zweiten Zwilling und legte ihn zusammen mit der echten Zwillingsschwester in das dafür vorgesehene Bettchen. Dann nahm sie das tote Baby, was eigentlich der zweite Zwilling war, wickelte es in das Handtuch in dem sie den kleinen Jungen vorhin von der sterbenden Mutter weg getragen hatte. Sie ging, immer noch in Tränen aufgelöst, rüber in den Kreissaal in dem sich das Ärzteteam um das Chaos dort kümmerten. Die Hebamme sah Lisa mit dem grau angelaufenen kleinen Wurm im Arm, weinend und da kamen auch der Hebamme direkt die Tränen. “Nein, er auch?” sagte sie fragend. Lisa nickte nur und übergab ihr den Kleinen. Was danach alles passierte, war wie durch eine Nebelwand. Die Familie mit den Zwillingen lag direkt nebenan, als alle Formalitäten in ihrem Kreissaal erledigt waren, ging Lisa über den Flur und sah wie die Eltern glücklich mit den beiden Babys im Arm dort saßen und Lisa sagte nur ganz leise “dort wirst du es mit Sicherheit gut haben – ich wünsche dir alles Glück dieser Erde”. Dann ging Lisa völlig übermüdet und erschöpft von dieser anstrengenden ersten Nachtschicht auf ihrer neuen Station nach Hause. Sie war sich sicher, etwas Gutes getan zu haben.

Nach ein paar Minuten hatte sich Lisa wieder gefangen, sie stand auf und setze sich auf die Couch im Wohnzimmer. Sie nahm das Smartphone und schaute sich die Fotos von ihr noch einmal genau an. Das letzte Foto war auf ihrem Heimweg in der Bahn geschossen worden. Aber sie war doch mutterseelenalleine in der Bahn gewesen. Außer dem Schaffner war niemand dort gewesen. Den kannte sie, der könnte es nicht gewesen sein. Sie überlegte was sie jetzt machen sollte. Zur Polizei gehen? Aber was sollte sie denen sagen, nein, die würden ihr nicht helfen. Sie klickte noch einmal die Kurznachrichten an, die jemand auf das Smartphone geschickt hatte:

“Hallo Lisa “

“ja ich meine genau dich!”

” du willst wissen was das soll?”

“270398”

Wer steckte dahinter und was wollte derjenige von ihr? Sie lehnte sich zurück. In dem Moment fing das Smartphone an zu vibrieren. Ein Anruf von der Nummer, von der auch die Kurznachrichten gesendet worden waren. Lisa zögerte, ran zu gehen, aber das war ihre Chance zu erfahren, was man von ihr wollte. Mit zitternden Händen drückte sie den grünen Telefonhörer und sagte ganz leise mit zittriger Stimme “Hallo”. Am anderen Ende ertönte eine Stimme, verzerrt und damit unkenntlich gemacht. “Hallo Lisa” sagte jemand. Lisa erwiderte “Wer ist da und was willst du von mir?”. “Das wirst du noch früh genug erfahren” antwortet die Stimme. “Merke dir jetzt genau, was ich dir sage Lisa”. Lisa schluckte und musste die Tränen unterdrücken. “Du hast mein Leben zerstört und deswegen werde ich jetzt deins zerstören. Du wirst mir nicht entkommen, egal was du machst. Wenn du zur Polizei gehst, werde ich deiner Mutter einen Besuch abstatten. Komm morgen pünktlich um 17:00 Uhr zur Eisenbahnbrücke am S-Bahnhof. Bis dahin bleibst du zuhause und rührst dich nicht vom Fleck. Haben wir uns verstanden?” Lisa packte die Panik und sie konnte die Tränen nicht weiter zurückhalten, sie schrie aufgelöst in den Hörer „Wer zur Hölle bist du und was soll ich getan haben? Ich verstehe nicht was du von mir willst. Bitte, ich hab nie was Schlimmes getan in meinem Leben, du musst mich mit jemandem verwechseln”. „Morgen 17:00 Uhr, sei pünktlich, sonst muss Deine Mutter dafür bezahlen.” Dann hatte ihr Gegenüber aufgelegt. Lisa ließ das Smartphone fallen und hielt sich beide Hände vors Gesicht. Sie wusste nicht wie ihr geschah. Sie war eine einfache Person, die ruhig und friedlich in ihrer 2-Zimmer Wohnung wohnte und nicht viele Freunde hatte. Wem sollte sie das Leben zerstört haben. Dann kam Lisa wieder zu sich. Ihre Mutter, die Person die ihr ganzes Leben für sie da war, war in Gefahr. Sie musste sie warnen. Sie nahm ihr eigenes Telefon in die Hand und drückte die Kurzwahltaste, unter der ihre Mutter gespeichert war. Ihre Mutter war schon alt und brauchte immer etwas bis sie ans Telefon ging. Meistens saß sie in ihrem TV Sessel und musste erst einmal aufstehen, um zum Telefon zu gehen. Es klingelte weiter, dann endlich hörte sie die Stimme ihrer Mutter „Maier hier”. „Hallo Mama, ich bin´s Lisa”. „Ah, gut das du anrufst Liebes, ich…” Lisa unterbrach ihre Mutter mitten im Satz. „Mama, hör mir mal eben zu, es ist wirklich wichtig. Hattest du heute oder in den letzten Tagen irgendwie Besuch?” „Nein, wieso Liebes?” „Das erkläre ich dir später. Es ist wirklich wichtig, dass du niemanden ins Haus lässt außer mir”. „Aber du hast doch einen Schlüssel, dich brauche ich doch gar nicht hereinlassen”. „Ja Mama, das weiß ich. Aber wenn es klingelt, niemanden rein lassen, bitte. Das musst Du mir versprechen!” „Aber Lisa, was ist denn los, warum soll ich niemanden hereinlassen?” „Das erkläre ich dir später, einfach auf mich hören!” „Du machst mir Angst Lisa, was ist denn los?” „Ich muss auflegen Mama. Mach dir keine Sorgen!”

Lisa legte auf und überlegte was sie jetzt machen sollte. Die Stimme hatte ihr verboten, zur Polizei zu gehen, aber wer sollte ihr sonst helfen? Wer würde ihr eine so verrückte Gesichte glauben? Die einzige, die ihr einfiel, war ihre Freundin Jessie. Sie wählte das Telefonbuch an ihrem Telefon an und drückte auf “anrufen” bei der Mobilnummer ihrer besten Freundin. Es klingelte, aber niemand hob ab. Jessie war genau wie sie Krankenschwester, sie kannten sich seit der Ausbildung. Jessie würde eventuell noch schlafen, sie hatte genau wie Lisa eine Nachtschicht im Krankenhaus hinter sich. Lisa schaute auf die Uhr. Es war 16 Uhr. Jessie, du Langschläferin, dachte sich Lisa. Sie überlegte kurz, dann nahm sie ihre Handtasche und verließ die Wohnung. Sie packte die Wut. Diese dumme Stimme hatte ihr zwar verboten, die Wohnung zu verlassen, aber sie musste etwas tun. Sie lief in schnellem Schritt bis zum Mehrfamilienhaus in dem Jessies Wohnung lag. Sie drückte die Klingel immer wieder und klingelte Sturm. Nach ein paar Minuten hörte sie Jessie müde Stimme durch die Gegensprechanlage.”Maaann, wer zur Hölle ist da?” „Jessie, ich bin´s Lisa, bitte lass mich rein. Es ist dringend” Lisa hörte den Summer der Haustür, sie drückte dagegen und rannte so schnell sie konnte in die dritte Etage. Dort stand Jessie im Schlafanzug, mit zerknautschtem Gesicht und strubbligen Haaren in der Wohnungstür. “Mensch Lisa, was willst du hier? Ich hab noch geschlafen.” „Ich weiß” sagte Lisa, „aber ich brauche dringend deine Hilfe, ich erkläre dir alles drinnen”. Lisa setzte sich mit Jessie in der Küche an den Esstisch. Während Jessie sich einen Kaffee kochte, erzählte ihr Lisa alles. Wie sie an das fremde Smartphone gekommen war, wie sie mitten im Supermarkt die Nachrichten las und dann das verrückte Telefonat. Jessie hörte zu und ihre Augen wurden immer größer „Mensch, Lisa, da verwechselt dich jemand. Du kannst doch keiner Fliege was zu leide tun. Zeig mal her das Smartphone.” Lisa zog das Smartphone aus ihrer Tasche und gab es Jessie in die Hand. „Wie lautet noch mal der Code von dem du gerade erzählt hast?” Lisa antwortete wie aus der Pistole geschossen, “270398”. „Wow, du kannst dir doch sonst nicht gut Zahlen merken”. Lisa dachte kurz nach, Jessie hatte recht. Sie war sehr schlecht darin, sich Zahlen zu merken, deswegen nutzte sie immer bei Zahlencodes ihr Geburtsdatum oder das ihrer Mutter. „Das ist es” schrie Lisa auf. Jessie, der Code ist ein Datum, der 27.03.1998. “Ja und was war an diesem Datum? fragte Jessie. „Das weiß ich nicht, aber 1998 waren wir bereits Krankenschwestern. Jessie guckte nachdenkend an die Decke. Um genau zu sein, erst seit einer Woche. Ich weiß noch, dass ich den ganzen Januar und Februar gelernt hatte für die Prüfungen Mitte März”. „Du hast Recht, ich war gerade frisch auf die Geburtenstation gekommen und hatte direkt eine Nachtschicht nach der anderen. Aber was hat das jetzt mit dem Anruf zu tun?” Jessie schaute sie an und sagte „Du bringst doch jeden Tag neues Leben auf die Welt, wie solltest du damit jemanden das Leben versaut haben?” Lisa schaute plötzlich auf den Boden und fing an zu weinen: „Jessie, ich muss dir was erzählen, das habe ich noch niemandem erzählt. Nicht mal meiner Mutter. Aber ich glaube damit hängt das alles zusammen.” Unter Tränen erzählte Lisa ihrer besten Freundin, was sie damals in der Gewitternacht erlebt hatte und wie sie die beiden Babys vertauscht hatte um dem kleinen Jungen als neuer Zwilling ein besseres Leben zu ermöglichen. Jessie nahm sie in den Arm und versuchte sie zu beruhigen „Das mag nicht ganz richtig gewesen sein, wie du damals gehandelt hast, aber du hast doch damit niemandem geschadet. Der Junge wär sonst als Waise in einem Heim aufgewachsen.” Lisa schaute beschämt und immer noch weinend zu Boden. Sie hatte die Situation von damals völlig verdrängt und nie wieder über den kleinen Jungen nachgedacht. „Und du denkst jetzt, dass dieser Anruf vorhin von diesem Jungen von damals kam?” fragte Jessie. „Keine Ahnung, vielleicht. Oder von seinen Eltern, die es herausgefunden haben. Ich weiß es nicht. Aber das ist das einzige was ich mir vorstellen könnte, warum mir jemand was Böses will.”

„Wir müssen damit zur Polizei.” sagte Jessie und verschwand nach nebenan um sich anzuziehen. “Nein Jessie, das können wir nicht. Was soll ich denen denn erzählen. Das ist strafbar was ich damals gemacht habe, dafür kann ich ins Gefängnis kommen.” „Ja, aber was willst du denn stattdessen machen? Hier rumsitzen und warten bis der oder die sich wieder meldet?” Lisa wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, schaute plötzlich entschlossen hoch und sagte: „Nein, wir gehen ins Krankenhaus und schauen in den alten Akten nach, wie die Familie von damals heißt und machen sie ausfindig. Ich will das ein für allemal aufklären und mich nicht verstecken.“ Jessie schaute skeptisch zu Lisa „Glaubst du, dass wir die nach all der langen Zeit so einfach wiederfinden?” „Ich muss es versuchen” sagte Lisa entschlossen und zog an der Hand ihrer besten Freundin in Richtung Wohnungstür. Sie liefen zusammen zur S-Bahn Station und stiegen in die Bahn Richtung Innenstadt. Es war mittlerweile 17:00 Uhr, sie hatten noch 24 Stunden Zeit um herauszufinden, wer Lisa da bedrohte. Während der halben Stunde in der Bahn rutschte Lisa ständig nervös hin und her, sie schaffte es nicht ruhig sitzen zu bleiben bis Jessie sich neben sie setzte und ihre Hand nahm. Da beruhigte sie sich. Sie schauten stumm aus dem Fenster, bis sie am Krankenhaus angekommen waren. Sie gingen am Empfang vorbei und fuhren mit dem Aufzug direkt in den dritten Stock. Dort lag die Geburtsstation. Lisa schaute vorsichtig durch die Scheiben ins Schwesterzimmer. Es war niemand zu sehen. Sie huschten leise und unauffällig hinein und setzen sich an den Schreibtisch auf dem der PC stand. Lisa tippte das Passwort ein und der Bildschirm öffnete sich. Jessie saß neben ihr und flüsterte „In dem Ding willst du die Akte finden? 1998 haben wir doch noch nicht alles digital gespeichert?” Lisa entgegnete ihr „Aber alle alten Akten sind digitalisiert und im Zentralrechner abgespeichert worden” Lisa klickte sich gekonnt durch die Jahre, bis zu dem Datum, das sie durch den Handycode erfahren hatte. Am 27.03.1998 gab es insgesamt 5 Einträge. „Hier, das sind sie, die einzigen Zwillinge die in dieser Nacht zur Welt gekommen sind. Thomas und Sarah Henrichs stand in der Zeile, in der die Babynamen festgehalten wurden. Als Lisa weiter blätterte, kam sie auf die Seite, auf der die Geburt und der Todeszeitpunkt des kleinen Jungen festgehalten wurde, den sie versucht hatte zu retten in dieser Nacht. Dort stand kein Name, nur – 23:46 Uhr Geburt; Kind männlich und 0:18 Uhr Todeszeitpunkt, Kind männlich. Vater unbekannt. Mutter Elisabeth Kutscher, geboren 15.05.1973, verstorben bei der Geburt 27.03.1998. In Lisa breitete sich ein beklemmendes Gefühl aus, so wie damals, als die den kleinen leblosen Jungen in das Handtuch einwickelte und der Hebamme übergab. Sie drückte auf Drucken um sich beide Seiten auszudrucken. Der Drucker sprang an und beide schreckten zusammen. Jessie flüsterte hektisch: „Man Lisa, das ist zu laut. Uns erwischt nachher noch jemand.” Lisa nahm die beiden Seiten aus dem Drucker, stopfte sie hektisch in ihre Tasche und zeigte Jessie an, schnell zu verschwinden. In dem Moment kam die Stationsleitung ins Büro und schaute die beiden streng an: “Was haben sie hier zu suchen? Frau Maier, sie haben doch heute keinen Dienst und was macht Frau Ewald hier? Die hat auf einer fremdem Station nichts zu suchen.” Lisa überlegte kurz und stotterte dann: ” Ich, ich ähm hatte nur mein Telefon vergessen und Jessie war so nett, mich zu begleiten. Wir sind sofort wieder weg.” Die beiden huschten schnell in Richtung Aufzug, wo Ihnen die Stationsleitung mit einem bösen Blick hinter her schaute. Als die Türen des Aufzugs geschlossen waren, atmeten beide tief durch und entspannten sich. Jessie schaute Lisa an und fragte: „Und was willst du jetzt damit machen?” „Hier steht eine Adresse und eine Telefonnummer, dort fahren wir jetzt hin.” Jessie riss die Augen auf: „Bist du Irre? Erstens wissen wir gar nicht, ob die noch da wohnen nach über 20 Jahren und was willst du denen denn erzählen? Hallo, ich bin Lisa, ich habe damals ihr Baby vertauscht?” „Ach keine Ahnung Jessie, das weiß ich doch auch nicht, aber irgendwas muss ich doch tun. Ich kann doch nicht bis morgen einfach so rumsitzen und darauf warten, was passiert. Die Stimme hat am Telefon gesagt, sie wird mein Leben zerstören. Da kann ich doch nicht einfach rumsitzen und nichts tun.” Jessie nickte ihr zustimmend zu und nahm ihr den Zettel mit der Adresse aus der Hand. Die Aufzugtüren öffneten sich und beide stiegen aus. Jessie zückte Ihr Smartphone und gab die Adresse in Google Maps ein. „Das ist hier ganz in der Nähe, ich weiß wie wir dort hinkommen.” Sie gab Lisa den Zettel zurück und die beiden gingen los. Wenig später standen sie vor einem großen weißen Einfamilienhaus, der Vorgarten sah gepflegt aus und in der Einfahrt stand eine schwarze große Limousine. Alles sah aus wie bei einer gut situierten Familie, selbst die Vorhänge und die Deko im Fenster sah teuer aus. Beide standen auf der anderen Straßenseite und schauten zum Haus rüber. „Und hier will sich jemand an dir rächen, weil du sein Leben angeblich versaut hast?” sagte Jessie fragend. „Also ich wär froh, wenn ich in so einem Haus aufgewachsen wär, wir hatten nur ne poplige 3-Zimmer Wohnung in der 5ten Etage.“ Lisa ging wortlos rüber in Richtung Hauseingang. Jessie folgte ihr und hielt sie an der Schulter fest: „Warte Lisa, was willst du denn sagen, wenn jemand aufmacht?” Lisa schaute sie an: „Da wird mir schon was einfallen, lass uns erst mal sehen, ob jemand zuhause ist.” Sie gingen zur Haustür und Lisa drückte den Klingelknopf. Darüber hing ein selbstgebasteltes Schild, auf dem in Kinderschrift stand – Hier wohnt Familie Henrichs. Jessie sah das Schild und sagte: „Mensch, die wohnen ja immer noch hier.” Man hörte, wie sich im Haus jemand bewegte und langsam zur Tür schlurfte. Ein Mann, fast im gleichen Alter wie Lisa und Jessie, eventuell etwas älter öffnete den beiden die Tür. Er hatte tiefe Augenringe und war in Schlafanzug und Bademantel gekleidet. Er schaute die beiden nicht einmal an und sagte ganz leise: ” Ja bitte?” Lisa überkam irgendwie Mitleid, als sie den Mann sah und überlegte kurz was sie sagen sollte: „Kennen sie einen Thomas Henrichs?” Der Mann schaute sie mit seinen müden Augen an: „Ja, das ist mein Sohn, aber warum fragen sie?” Lisa überlegte wieder, doch Jessie war schneller: „Wir waren früher Betreuer von Thomas in der Schule und wollten ihn mal wieder besuchen, aber wissen nicht genau, wo er heute wohnt.” Dem Mann traten die Tränen in die Augen. „Das weiß ich leider auch nicht. Wissen sie, Thomas ist vor einem Jahr verschwunden.” antwortete der Mann und ich habe heute Morgen meine Frau beerdigen müssen, wenn sie mich also entschuldigen würden.“ Lisa und Jessie konnten darauf nichts mehr erwidern und der Mann schlug Ihnen die Tür vor der Nase zu. Die beiden schauten sich verwundert an und wussten zuerst gar nicht, wie Ihnen geschah. Jessie fand als erstes ihre Worte wieder: „Der sah jetzt aber nicht so aus, als wenn er dich erkannt hätte. Geschweige denn, dass er hinter alle dem steckt. Der sah eher so aus, als wenn er tagelang nicht mehr geschlafen hätte”. Lisa schaute ihre beste Freundin böse an: „Ja natürlich nicht, der Mann hat gerade seine Frau beerdigt und weiß nicht wo sein Sohn ist, wie würde es dir da gehen?” Jessie antwortete: „Ja, aber Thomas ist ja eigentlich gar nicht sein Sohn” Lisa hielt ihren Zeigefinger vor die Lippen und zog Jessie ein Stück weiter von der Haustür weg: „Pssttt, und das muss er auch nicht durch uns jetzt hier zwischen Tür und Angel erfahren.”

Die beiden gingen schweigend die Straße entlang, Lisa grübelte und blieb plötzlich stehen.

Jessie schaute Lisa fragend an und Lisa sagte: „Ich glaube, ich gehe doch lieber zur Polizei, das wird mir alles zu kompliziert”. Jessie antworte darauf sehr energisch „Nein, Lisa, bist du bescheuert? Erstens; was wollen die machen und zweitens kommst du dann ins Gefängnis, dann hat dieser Thomas doch was er wollte. Er hat dir dein Leben ruiniert. Vielleicht will er ja genau das.” Lisa schaute ihre beste Freundin an und sagte “Meinst du? Vorhin meintest du doch noch ich soll zur Polizei gehen. Aber vermutlich hast du Recht. Aber was soll ich denn deiner Meinung nach machen?” Jessie überlegte einen Moment und sagte dann: „Ich hab da einen Kumpel, den frage ich ob er uns morgen Abend begleitet. Wir gehen zu diesem Treffpunkt, den die Stimme dir genannt hat und schauen wer da kommt und was der will. Wenn er dir was antun will, sind ich und mein Kumpel da um dich zu beschützen. Vertrau mir.” Lisa schaute skeptisch, aber willigte mit einem stummen Nicken ein und Jessie nahm sie in den Arm. „Du wirst schon sehen, es wird alles gut werden. Wir gehen jetzt erst einmal zu dir nach Hause und ich bleibe heute Nacht bei dir”

Lisa und Jessie liefen zur nächsten S-Bahn Station und stiegen ein. Sie fuhren den gewohnten Heimweg. Als sie fast an der Endhaltestelle angekommen waren, vibrierte das Telefon von Jessie. Sie ging ran und sagte “Ja Hallo” nach einer kurzen Pause hielt sie den Telefonhörer unten mit der Hand zu und sagte zu Lisa „Du, das ist wichtig, ich muss mal eben telefonieren” und stand auf um ein paar Meter von Lisa entfernt das Gespräch weiter zu führen. Lisa wunderte sich, warum sie dafür von ihr wegging, eigentlich hatten Lisa und Jessie keine Geheimnisse voreinader und sowas machte sie sonst auch nicht. Aber genauso schnell wie der Gedanke gekommen war, war er auch schon wieder verflogen. Lisa kam nach ein paar Minuten wieder. „Wer war denn das?” fragte Lisa. „Ach, kennst du nicht” erwiderte Jessie nur ganz kurz und dann stoppte auch die Bahn und Jessie zeigte ihr an, dass sie austeigen mussten. Sie gingen zusammen zu Lisa nach Hause, es war bereits wieder dunkel geworden und Lisa war von dem Ganzen so angestrengt, dass sie bereits wieder müde war. Eigentlich brauchte sie nach einer Nachtschicht immer etwas, bis wieder zur normalen Zeit abends müde war, aber der Tag heute war ja auch wie kein anderer zuvor. Sie legte sich zuhause auf die Couch mit dem Kopf auf Jessies Schoß, die ihr so durch die Haare fahren konnte. Trotz allem was heute passiert war, fühlte sich Lisa gerade wohl und schlief vor Erschöpfung ein.

Lisa wachte auf. Sie lag zugedeckt auf der Couch. Sie richtete sich auf und schaute auf Ihr Smartphone was auf dem Wohnzimmertisch lag. Es war 03:00 Uhr nachts. Jessie schien sie zugedeckt und auf dem Sofa liegen gelassen zu haben. Sie hatte noch ihre komplette Kleidung an. Sie stand auf, um zu sehen wo Jessie geblieben war. Sie ging in ihr Schlafzimmer, das Bett war leer, nirgends in der Wohnung war Jessie zu finden. Dann entdeckte sie einen Zettel an der Wohnungseingangstür klebend. Dort stand in Jessies Handschrift “Bin nach Hause gefahren, keine Angst, ich komme direkt morgen wieder.” Nun war sie mutterseelenallein in der dunklen Wohnung. Sie zog sich aus und legte sich in ihr Bett, ob sie jetzt noch wieder einschlafen könnte? Aber sie musste noch etwas schlafen, um morgen fit zu sein. Lisa öffnete ihre Nachtischschublade und suchte eine kleine Pillenpackung hervor. Sie hatte wegen der Wechselschichten eine Zeitlang mal Schlafprobleme gehabt und noch ein paar der Schlaftabletten übrig. Sie schluckte eine davon mit einem großen Schluck Wasser herunter, aus der Flasche, die ihr Jessie bereitgestellt haben musste. Sie wollte ihrem wahr gewordenen Alptraum wenigstens noch für ein paar Stunden entfliehen, bevor Jessie wiederkam und sie später zu dem gefürchteten Treffen gehen würden.

Es klingelte Sturm. Lisa war noch ganz benommen, als sie davon geweckt wurde. Es war einer dieser Momente, wo man nicht richtig wusste ob man noch träumt oder bereits wach ist. Da klingelte es bereits wieder. Lisa sagte ganz leise: „Ja ja, ich komme ja schon” und ging schlurfend und mit halb offenen Augen zur Tür. Sie drückte den Knopf, um die Haustür unten zu öffnen. Sie öffnete die Wohnungstür und hörte das Klackern der Absatzschuhe die Treppe rauf steigen. Es war Jessie, die ihr auf dem Absatz vor ihrer Wohnung bereits zurief: „Mensch Lisa, was ist denn los, ich hab dich seit Stunden versucht zu erreichen. Warum gehst du denn nicht an dein Telefon? Ich hab mir schon Sorgen gemacht.” Ohne dass Lisa antworten konnte, schaute Jessie sie von oben bis unten an und fragte dann “Hast du etwa bis jetzt geschlafen?” Lisa nickte und fragte “Wieso, wie spät ist es denn?” „Es ist schon viertel vor vier meine Liebe” antwortete ihr Jessie. Lisa packte sich an die Stirn, ihr Kopf fühlte sich an, als wenn er gleich zerspringen würde. Sie ging zusammen mit Jessie in ihre Wohnung. „Ich bin heute Nacht irgendwann aufgewacht und du warst nicht mehr da, da hab ich eine Tablette genommen, um noch einmal einschlafen zu können. Aber über 12 Stunden am Stück habe ich davon noch nie geschlafen.” Jessie drängte sie in Richtung Schlafzimmer. „Ist doch egal jetzt, du musst dich anziehen, wir müssen uns langsam auf den Weg machen. Das Treffen ist doch um 17:00 Uhr, ich habe meinem Kollegen schon Bescheid gegeben, er kommt auch pünktlich zum Bahnhof und ich treffe mich mit ihm, wenn wir wissen wo du hinkommen sollst”. Lisa zog sich langsam an, sie konnte sich kaum bücken ohne das ihre Kopfschmerzen noch schlimmer wurden. Sie ging in die Küche und nahm einen großen Schluck Wasser aus einer angebrochenen Flasche die dort stand. “Boah Jessie, mir zerspringt der Schädel, das hatte ich noch nie nach meinen Schlaftabletten und so ausgeknockt war ich auch noch nie, das ist doch nicht normal.” Jessie schaute sie an und sagte dann „Das ist doch jetzt völlig egal, ich hab dich ja wach bekommen und wir müssen uns jetzt auch beeilen. Komm zieh dir Schuhe an, wir müssen los zum Bahnhof, damit wir etwas eher da sind und noch die Lage checken können.”

Lisa wurden die Knie ganz weich als die das große grüne „S“ oben auf dem roten Backsteingebäude thronen sah. Jessie sah sich suchend um und hielt anscheinend Ausschau nach ihrem Kollegen, den sie zur Hilfe gerufen hatte. Was sie ihm wohl erzählt hatte, worum es geht? Da merkte Lisa, wie es in ihrer Jackentasche anfing zu vibrieren. Das Smartphone, mit dessen Fund alles begann, klingelte und eine nicht eingespeicherte Nummer blinkte im Display auf. Lisa schaute Jessie fragend an. Jessie machte eine fordernde Geste und sagte : „Na geh schon ran, und schalte auf laut, damit ich mit hören kann.” Lisa drückte zögernd den grünen Telefonhörer zum Annehmen des Gespräches und sagte sehr leise “Hallo”. Die Stimme am anderen Ende war wie beim ersten Anruf verzerrt und unkenntlich gemacht. „Hallo Lisa, wie ich sehe bist du nicht alleine gekommen.” Lisa schreckte auf und schaute sich um, wo jemand stehen könnte um sie zu beobachten. Aber sie entdeckte niemanden. Da sprach die Stimmer weiter: „Du kommst jetzt hoch auf die Fußgängerbrücke, die von den Gleisen zum Hintereingang führt und deine tolle Freundin bleibt gefälligst wo sie ist.“Lisa schossen die Tränen in die Augen, aber sie war immer noch so erschöpft durch die Nacht und die Kopfschmerzen, dass sie nichts sagen konnte. Jessie nickte ihr nur zu. Lisa ging in Richtung S-Bahnhof um dort durch den Hintereingang auf eines der Gleise zu gehen um dann den Ausgang am Ende des Gleises hoch zur Fußgängerbrücke zu nehmen, welche alle Gleise mit der Straße hinterm S-Bahnhof verband. Lisas Knie waren so weich, dass sie fast bei jedem Stufenschritt nachgaben. Als sie oben auf der Brücke angekommen war und in die Richtung des Hinterausganges schaute, sah sie fast am Ende der Brücke jemanden stehen. Er stand in einem schwarzen Kapuzenpulli mit dem Rücken zu ihr. Irgendwie kam ihr die Gestalt bekannt vor. Als sie näher kam, erinnerte sie sich wieder. Sie war gestern Morgen in der Bahn doch nicht so alleine gewesen wie sie es in ihrer Erinnerung gespeichert hatte. Sie erinnerte sich wieder an den schlafenden Passagier, der, wie sie vermutete hatte, vom Feiern gekommen war. Das erklärte auch das letzte Foto von ihr, schlafend an die Fensterscheibe gelehnt auf dem Smartphone und wie das Smartphone auf ihre Sitzbank gekommen war. Ihr lief ein kalter Schauer den Rücken hinab, als ihr klar wurde, dass ihr Peiniger sie beim Schlafen beobachtet haben muss. Warum hat er diese Chance nicht bereits genutzt, um mir etwas anzutun? Sie ging immer noch mit wackeligen Knien weiter auf die Gestalt zu. Als sie ungefähr nur noch 5 m entfernt war nahm sie allen Mut zusammen und rief ihm entgegen: „Thomas, bist du das?” Sie hatte eh nichts mehr zu verlieren, eventuell würde es ihn aus dem Konzept bringen, wenn er merkte, dass sie bereits wusste wer vermutlich dahinter steckte. Die Person drehte sich langsam um und sie schaute in ein schmerzverzerrtes Gesicht eines jungen Mannes. Das Alter war schwer zu schätzen, er hatte tiefe Augenringe und unreine Haut, aber es konnte hinkommen, dass das Thomas Henrichs ist. Lisa traute sich nicht, weiterzugehen aber wusste auch nicht ,was sie jetzt machen sollte. Nach einer unangenehmen Stille, die Lisa minutenlang vorkam, aber vermutlich nur einige Sekunden lang dauerte, nahm ihr Gegenüber die Kapuze ab und ein kahl rasierter Schädel mit Narben kam zum Vorschein. Ihr Gegenüber antworte plötzlich: „Du weißt also, wer ich bin. Dann weißt du vermutlich auch, warum du hier bist?” Lisa hatte ein schlechtes Gewissen wegen damals und ging einen Schritt auf Thomas zu, der wiederum machte sofort eine stoppende Geste und zeigte Lisa an, nicht näher zu kommen. Lisa versuchte sich zu sammeln und überlegte was sie sagen sollte: „Thomas, es tut mit unendlich leid, ich dachte du hättest es gut bei deiner Familie.” Ihr Gegenüber verzerrte das Gesicht, es rollten Tränen die Wangen hinunter und er schrie sie an. „Nichts weißt du, kannst du dir vorstellen, wie es sich anfühlt, wenn du dein Leben lang das Gefühl hast, mit dir stimmt etwas nicht und du passt hier irgendwie nicht rein aber nicht weißt warum? Du hast mein Leben zerstört und das meiner Familie auch.” Lisa wusste gar nicht, was sie sagen sollte und ihr kamen auch die Tränen. Thomas setze seinen Monolog fort: „Durch dein Handeln ist die Frau, die ich Jahre lang für meine Mutter gehalten hatte, jetzt tot und ich weiß nicht, wer meine wirkliche Mutter war. Lisa machte große Augen und fragte „Warum ist deine Mutter jetzt wegen mir tot?” Plötzlich ertönte eine Frauenstimme hinter ihr. „Weil sie es nicht ertragen konnte, dass sie jahrelang ein fremdes Kind aufgezogen hatte, ohne zu wissen, was mit ihrem eigenen Sohn passiert war.” Lisa drehte sich um und traute Ihren Augen nicht. „Jessie? Was, was…” sie konnte ihren Satz nicht beenden, da unterbrach sie Ihre angeblich beste Freundin wieder. „Bei Thomas Mutter wurde vor etwas über einem Jahr Leukämie diagnostiziert. Um ihrer Mutter zu helfen, ließen sich natürlich beide Zwillinge sofort testen ob sie als Stammzellen Spender in Frage kommen würden und rate mal, was dabei aufgefallen ist? Natürlich, das Thomas als Spender nicht in Frage kommen würde, weil er gar nicht das leibliche Kind von Frau Henrichs sei. Erst hielten alle bei uns auf der Station das Ganze für einen Fehler, aber nach mehreren DNA Tests, stand fest, dass Thomas nicht der war, der er sein Leben lang glaubte zu sein. Ich war damals die Assistentin des behandelten Arztes und habe das ganze Drama mit ansehen müssen. Ich habe Thomas getröstet, als es ihm gesagt wurde. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr der Junge am Boden war. Er tauchte ab und seine Mutter hat sich trotz Stammzellen Spende der Tochter nicht mehr erholt. Sie war sehr depressiv als wir sie in Behandlung hatten und als die erste Phase der Behandlung nicht so anschlug, wie wir es gedacht hatten, merkte man bereits, wie ihr der Lebenswille abhanden gekommen war. Vor ein paar Wochen haben wir sie dann in ihrem Krankenbett gefunden, tot. Sie hatte eine Überdosis Schmerzmittel genommen. Sie ist einfach über diesen Schicksalsschlag nicht hinweggekommen und sah keinen Sinn mehr in ihrem Leben.” Lisa schluckte. Sie hatte das Gefühl, als wenn ihr jemand die Luftröhre zu halten würde. Sie versuchte einen klaren Gedanken zu fassen und sagte dann: „Aber Jessie, ich wusste doch nicht…” Doch Jessie unterbrach sie wieder. “Nein, du weißt nie etwas, du bist immer nur das kleine nette Mädchen von nebenan. Schon immer warst du die Unschuld in Person und alle mochten dich. Aber du hast mit einem Fehler gleich eine ganze Familie zerstört. Und mit diesem Fehler musst du nun ein Leben lang leben.” Lisa schaute erst Jessie an und dann zu Thomas. Der war in der Zeit, als Jessie mit Lisa gesprochen hatte auf die Brüstung der Brücke gestiegen und man hörte wie der Nachmittagszug heranfuhr. Dieser hielt hier nicht, sondern fuhr bis zum Hauptbahnhof durch. Lisa kam alles wie in Zeitlupe vor. Sie versuchte zu Thomas zu rennen, um ihn daran zu hindern, sich von der Brücke zu stützen, aber Jessie hielt sie mit aller Kraft zurück. Lisa schrie und versuchte sich loszureißen, aber sie schaffte es nicht. Sie konnte nur noch sehen, wie der komplett in Schwarz gekleidete Junge mit weit ausgebreiteten Armen in den Abgrund stürzte. Sie hörte die Bremsen des Zuges laut quietschen und einen lauten Knall. Lisa brach weinend zusammen und stützte sich auf dem kalten Betonboden ab.

Schreibe einen Kommentar