WaywardGirl15Zeit heilt keine Wunden

 

„Hey, bleiben Sie stehen, stop!“ Ich versuchte der Person hinterher zu laufen, die gerade ihr Smartphone während des Laufens neben mir verloren hatte. Aber ich war schlicht und einfach zu unsportlich für solche Aktionen. Wie eine verrückte fuchtelte ich mit dem Gerät hinter ihr her, erfolglos. Die Person hatte nichts von all dem mitbekommen und ich war zu langsam als das ich sie einholen konnte. Verdammt, dachte ich. Was mach ich denn jetzt mit diesem blöden Handy? Einfach irgendwo hin legen käme mir nicht richtig vor. Wenn die Person merken würde, dass sie es verloren hat, würde sie bestimmt wollen, dass es jemand beim Fundbüro abgibt. Das mache ich auch, dachte ich. Gleich morgen nach der Arbeit werde ich kurz dort anhalten und es abgeben. Aber jetzt war es schon zu spät geworden.
Eigentlich wollte ich gemütlich eine Runde über den Friedhof spazieren und mich gedankenverloren auf der Bank neben dem unbeschriebenen Grabstein niederlassen.
Ich hatte keine Ahnung wer und ob dort überhaupt jemand lag. Und auch sonst kannte ich keinen, der auf diesem Friedhof begraben worden war, jedoch beruhigte mich dieser Ort einfach. Es ist so wunderbar still dort. Man kann seine Gedanken kreisen lassen, durchatmen und einfach mal alles Andere vergessen. Keiner sonst würde auf die Idee kommen um 22 Uhr am Abend einen Friedhof zu überqueren. Und genau aus diesem Grund liebte ich es.
Bevor ich allerdings dort ankam, lief mir diese Person in die Arme und verlor ihr Handy genau vor meinen Füßen. Es war völlig unversehrt geblieben und ich steckte es in meine hintere Hosentasche. So kehrte ich um und machte mich auf den Weg zurück nach Hause. Ich hatte am nächsten Tag Frühschicht im Supermarkt und konnte mir nicht erlauben wieder zu verschlafen. Um vier würde der Wecker klingeln.
Zuhause angekommen versuchte ich leise zu sein, ich achtete darauf möglichst wenig Licht an zu machen. Meine Mitbewohnerin und beste Freundin Jana schlief bestimmt schon. „Hey Lia, bist du schon zurück?“, rief es plötzlich aus dem Wohnzimmer. „Ähm ja.“ Ich ging zu ihr, setzte mich neben sie auf die Couch. „Ich dachte du schläfst schon.“ Sie lachte. „Ach Quatsch, ich hab doch Urlaub. Das muss genossen werden. Ich bleibe so lange wach, bis mir die Augen von allein zu fallen, das weißt du doch.“ Merkte sie belustigt an.
„Ja stimmt, ich hatte diese merkwürdige Eigenart an dir kurz verdrängt. Normale Menschen gehen eben schlafen, wenn sie müde sind. Auch wenn sie Urlaub haben.“ „Das sagt ausgerechnet die, die es liebt nachts über toten Menschen spazieren zu gehen.“ Dabei zuckte sie mit den Schultern, was mich zum Lachen brachte. „Touche`, aber ich war heute nicht auf dem Friedhof.“ Ich erzählte ihr von dem Läufer, dem Smartphone und dass es mir quasi direkt vor die Füße gefallen war.
„Und?“, fragte sie. „Und was?“ „Findest du das nicht komisch? Jemand verliert sein Handy neben der einzigen Person, die gerade in der Nähe ist und merkt es nicht einmal. Was ist denn auf dem Handy drauf, hast du mal reingeschaut?“ „Wieso sollte ich? Das Handy gehört mir nicht und es geht mich nichts an was dort drauf zu sehen ist. Ich werde es morgen früh im Fundbüro abgeben und damit hat sich die Sache erledigt.“
„Nein, sei doch nicht so langweilig Lia. Erstens hat der Spinner selber Schuld, wenn er nicht auf seine Sachen achtet. Zweitens kann er froh sein, dass ausgerechnet du es gefunden hast und morgen zum Fundbüro bringst, statt es zu verscherbeln und drittens, sie blickte mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. Der Blick den sie immer auflegte um zu sagen: Es ist zwar nicht richtig aber es macht Spaß, könnten wir ja eventuell eine Nummer in den Kontakten finden, die wir anrufen können. So sparst du dir den Gang zum Fundbüro.“ Mit dem Argument hatte sie mich. Aber ich wollte es nicht zugeben. Stattdessen behauptete ich, dass das Handy bestimmt mit einer PIN gesichert sei. „Nope, ist es nicht.“ Jana war schon total in ihrem Element und fummelte bereits am Handy herum.
„Du sag mal, bist du sicher, dass du den Eigentümer des Teils nicht kennst?“
„Keine Ahnung, es war dunkel. Ich weiß ja nicht mal, ob es ein Kerl oder eine Frau gewesen ist. Wieso fragst du?“ „ Weil hier Fotos von dir drauf sind, und zwar NUR Fotos von dir. Keine Adressen, keine Nummern, Keine Chats oder andere Bilder. Nur du.“
„Was?! Wenn das jetzt ein Scherz sein soll, dann ist es kein Guter.“ An der Art wie sie mich anblickte merkte ich jedoch, dass ihr nicht zum Scherze auflegen zumute war. Ich riss ihr das Handy aus der Hand. Schockiert stellte ich fest, dass sie Recht hatte. Fotos. Von Mir. Zu Schulzeiten. Fotos von meiner Einschulung, von Klassenfahrten und Ausflügen aus der neunten Klasse, sowie Kindefotos aus der Grundschulzeit. Sogar als Kindergartenkind.
Was zum Teufel soll das? Wer würde sowas machen und warum? Ein Pädophiler? Aber das würde keinen Sinn machen. Jetzt bin ich erwachsen. Ein Fremder? Der hat doch kein Motiv mir solche Angst einzujagen. Und mit Matt bin ich damals in Frieden auseinander gegangen. Außerdem hat er schon längst eine neue Freundin. Ich scrollte etwas weiter. Noch mehr Bilder. Ein aktuelles von mir, wie ich auf der Bank des Friedhofes sitze, während ich in den Sternenhimmel blicke. Und… was sollte das denn? Ist dieses Bild ein Versehen gewesen? Der Müllcontainer unseres Supermarktes, in dem wir die nicht-verkäuflichen Lebensmittel entsorgen müssen. Jetzt verstand ich gar nichts mehr.
„Verdammt was soll der Scheiß?“ Entfuhr es mir. Ich spürte die Panik in mir hochschnellen, meine Hände schwitzten, mein Kopf glühte. Es fühlte sich an, als würde er gleich explodieren.
„Beruhig dich erstmal.“ Versuchte Jana mich zu entspannen. Doch sie war noch nie gut darin. „Es ist spät, du musst morgen früh raus. Versuch zu schlafen und denk nicht so viel daran ja? Das war bestimmt nur ein blöder Witz von irgendwem.“
„Ja du hast recht, ich steigere mich da jetzt nicht rein, ich geh schlafen. Gute Nacht Jana.“
Ich hörte zwar was ich sagte, aber selbst glauben tat ich es nicht. Das war kein Witz, ebenso kein Zufall. Jemand hat mit Absicht dieses Handy vor mir FALLEN LASSEN. Er wollte, dass ich es aufhebe und die Bilder darauf finde. Er weiß wo ich mich aufhalte und vermutlich auch wo ich arbeite und wo ich wohne. Jemand möchte mir Angst machen, mich in den Wahnsinn treiben. Und dieser Jemand ist auf einem verdammt guten Weg, dass ihm dies gelingt.
                      ***
Ich tat die ganze Nacht kaum ein Auge zu. Immerzu musste ich an diese Bilder denken und daran welcher geisteskranke Mensch mir solch eine Angst einjagen wollte. Am meisten ärgerte mich der Fakt, dass es funktionierte. Ich hatte Angst. Und das nicht zu wenig. Zur Frühschicht im Supermarkt musste ich zu Fuß laufen, im Dunkeln und für mein Empfinden mitten in der Nacht um 5 Uhr. Denk nach Lia. Wer hätte ein Motiv? Nach langem überlegen kam mir tatsächlich ein Gedanke. Aber das war absolut irre. Das konnte nicht sein. Aber was wenn doch? Was ist wenn es Jana war? Sie war schließlich diejenige gewesen, die darauf bestanden hatte, das Handy zu durchsuchen. Sie hat quasi dafür gesorgt, dass ich die Bilder darauf sehe. Ohne sie hätte ich das Handy nie genauer angesehen. Sie musste sich sicher sein, dass dieser Fall eintritt. Total fassungslos war sie schließlich auch nicht gewesen. Eigentlich sogar relativ gefasst.
Nein Lia, jetzt drehst du durch. Jana ist deine beste Freundin und das auch erst Seit 7 Jahren. Die Schulzeit ist schon 10 Jahre her. Wir kannten uns zu dem Zeitpunkt als die Bilder entstanden noch überhaupt nicht. Außerdem hat sie kein Motiv.
Aber sicher sein konnte ich mir nicht. Immerhin war auch ein aktuelles Foto dabei. Aber was zum Teufel sollte mir der Müllcontainer mitteilen? Bei dem Versuch eine Antwort darauf zu finden, vielen mir letztendlich doch noch die Augen zu und ich fiel in einen unruhigen zweistündigen Schlaf.
Völlig übermüdet kam ich am nächsten Morgen um halb sechs bei der Arbeit an. Ich quälte mich den halben Tag mit tausenden Gedanken. Die Arbeit erledigte ich halbherzig, völlig durcheinander und mit der ständigen Angst im Hinterkopf und dem Gefühl, mich würde jemand beobachten.
In meiner Pause checkte ich meine Nachrichten, als plötzlich ein eingehender Anruf auf dem Display angezeigt wurde. Nummer unterdrückt. Sofort fing mein Herz an schneller zu schlagen. Ich atmete schneller, versuchte mich jedoch zu beruhigen. Schließlich nahm den Anruf entgegen.
„Hallo?“ Ich gab mir Mühe mir meine Angst nicht anmerken zu lassen, meine Stimme aber klang heiser und viel zu hoch. „Hier ist Lia Sichelmeier, wer ist da?“ Tatsächlich antwortete mir die Person am anderen Ende. „Ich weiß wer du bist, Dreckstück! Mein Name geht dich einen Scheiß an. Wichtig ist, was ich dir jetzt sage. Also hör genau zu und laber mir nicht dazwischen.“ Die Stimme gehörte eindeutig zu einer weiblichen Person, sie wurde nicht verstellt und sie kam mir bekannt vor. Ich konnte sie jedoch niemandem zuordnen. Sie war voller Hass, jedes Wort und jeden Buchstaben sprach sie übertrieben deutlich aus mit einem tiefen Unterdruck und sehr langsam, sehr ruhig.
„Ich beobachte dich schon seit einiger Zeit. Ich kenne deine Vergangenheit und ich kenne deine Gegenwart. Bemerkenswert wie du solch ein unbesorgtes und perfektes Leben führen kannst, nach allem was du getan hast.“ Ich erschrak, mein Mund war so trocken, dass ich nichtmalmehr schlucken konnte. Ich war unfähig auch nur im Ansatz irgendwie zu reagieren. Mein Körper und meine Stimme waren gelähmt. Meine Beine zitterten. Nicht mehr lange und sie würden ihren Dienst aufgeben. Die Stimme fuhr mit ihrer Ansprache fort. „Ja Lia, süße unschuldige Lia. Ich kenne dich. Und das sogar sehr gut. Ich weiß wie unschuldig du wirklich bist. Ich werde persönlich dafür sorgen, dass du niemanden mehr verletzen wirst. Ich werde dich töten Lia, hast du das verstanden? Du wirst leiden, du wirst solche Schmerzen haben, dass du dich  nicht einmal mehr daran erinnern kannst wie du heißt. Du wirst merken wie sich dein Leben langsam von dir verabschiedet. Und dann wirst du sterben!“
Aufgelegt.
Scheiße, scheiße, scheiße. Was mach ich denn jetzt? Ich bin am Ende, ich werde sterben. Wer auch immer dort am Telefon zu der Stimme gehörte, sie hasste mich so sehr, dass sie mich umbringen wollte. Wer um Himmels Willen hasste mich so sehr? Ich konnte mir keinen Reim auf das Gespräch machen. So sehr ich es auch versuchte, ich konnte beim besten Willen nicht nachvollziehen, was diese Frau gemeint hat, als sie von meiner Vergangenheit sprach. Was meinte sie mit „Ich weiß wie unschuldig du wirklich bist“ und damit, dass ich nie wieder jemanden verletzen würde? Ich habe nie etwas getan, was zu solch einer Reaktion führen könnte.
Auf einmal ploppte mein Sperrbildschirm auf, um mir mitzuteilen, dass nun auch noch eine MMS eingegangen war. Mit zitternden und schweißnassen Händen öffnete ich diese.
Mir schossen sofort Tränen in die Augen, ich verlor jegliche Kontrolle über meinen Körper und sackte zu Boden. Meine Chefin betrat den Raum, fand mich schluchzend und nach Luft ringend am Boden liegend. Ich fühlte mich so elend, konnte kein Wort zur Erklärung meines Zustandes hervorbringen. Nach einer gefühlten Ewigkeit fand ich mich schließlich in Ihren Armen wider.
Das Bild, das per MMS verschickt wurde zeigte ein weiteres Foto von mir. Ich lag auf dem Boden, neben mir eine riesige Blutlache. Mein Bauch war komplett zerfetzt, als hätte jemand mit einem rostigen Messer hunderte Male darauf eingestochen. Aus meinem Mund lief Blut. Ich war tot, eindeutig. Das Bild war Perfekt bearbeitet. Es sah so verdammt echt aus.

Nachdem ich wieder ein wenig zur Ruhe kam, gab mir meine Chefin für den Rest des Tages frei. Ich erzählte ihr nichts von dem Anruf oder dem bearbeiteten Foto. Ich wollte einfach nur schnell raus, wieder Luft einatmen. Ich beschloss nach langem überlegen zur Polizei zu gehen. Meine Gegnerin hatte vielleicht einen Fehler gemacht. Das gefundene Handy hatte keine Sim Karte. Man hätte also nicht weiter verfolgen können, wer der Eigentümer gewesen ist. Aber die Nummer, von der der Anruf und das letzte Bild kamen, die konnte die Polizei vielleicht zurückverfolgen. Schließlich musste sie ja irgendein Handy dafür benutzen. Egal wie klein die Chance war. Ich musste es versuchen. Zu groß war die Todesangst, die ich mittlerweile in mir trug.
Die Polizei gab die Daten an ihre Spezialisten der IT Abteilung weiter und gab mir gute Hoffnung auf ein Ergebnis. Es würde jedoch eine Weile dauern, da die MMS und auch der Anruf stark verschlüsselte Informationen enthielten. Da kannte sich jemand aus. Aber nicht gut genug, dachte ich.
Trotz der relativ positiven Aussichten, ging ich mit einem mulmigen Gefühl nach Hause. Hoffentlich war es doch kein Fehler gewesen die Polizei einzuschalten.
Als ich nach Hause kam, viel mir Jana direkt um den Hals. „Hey süße, wie geht es dir? Ich hab uns was gekocht. Warum bist du schon so früh zurück? Verdammt, wie siehst du denn aus?!“ Ich war mir unsicher, ob ich Jana von dem Ganzen erzählen sollte. Trotz Allem war ihre Unschuld noch nicht bewiesen. Aber ich hörte auf mein Bauchgefühl. Also erzählte ich ihr von Allem was ich heute erlebt hatte. Darüber hinaus MUSSTE ich einfach mit jemandem sprechen. Zu meiner Erleichterung reagierte sie genau, wie ich es von meiner besten Freundin gewohnt war. Sie nahm mich fest in den Arm, versicherte mir, dass es genau richtig war, die Polizei dazu zuschalten und dass diese Irre aufgehalten werden muss. „Die gehört doch in die Klapse.“ „Ja, nur leider ist sie da nicht, sondern läuft hier irgendwo rum und treibt mich in den Wahnsinn. Am Ende bin vermutlich ich es, die in der Klapse landet.“
„Ach Quatsch Lia, du wirst sehen, die Polizei wird das regeln, das ist deren Job. Die Sache wird schneller vorbei sein, als sie angefangen hat.“ Es beruhigte mich, dass Jana das so sah, denn wenn sie selbst die Täterin sein würde, hätte sie doch anders reagiert, oder?
Den Rest des Tages verbrachte ich auf dem Sofa, völlig fertig mit den Nerven und ständig in Gedanken an den nächsten Morgen. Wieder Frühschicht. Wieder im Dunkeln. Wieder allein.
Doch bevor ich die Gelegenheit hatte genauer darüber nachzudenken, vielen mir die Augen zu.
                            ***
Am nächsten Morgen kam ich völlig außer Atem bei der Arbeit an. Ich rannte fast den Weg dort hin. Ständig drehte ich mich um, bei jedem Geräusch zuckte ich zusammen wie ein kleines Kind.
Ich entsicherte den Alarm an der Tür und hoffte, dass die nächsten Kollegen nicht allzu lange auf sich warten ließen. Auf einmal fing mein Handy an zu klingeln. Nein, dachte ich. Bitte nicht. Nicht schon wieder. Nicht jetzt. Wer sollte mich um diese Uhrzeit schon anrufen? Ich schaute mit einem Auge auf mein Handydisplay. Es zeigte mir die Rufnummer der örtlichen Polizei an. Ich kannte die Nummer, da  vor ein paar Jahren mal ein Freund von Jana dort gearbeitet hat. Die Erleichterung war unbeschreiblich groß, also nahm ich ab. „Guten Morgen Frau Sichelmeier, hier ist Kommissar Blanket von der örtlichen Polizeidienststelle. Wir konnten den Anrufer tatsächlich zurückverfolgen und den Namen ausfindig machen.“ Mein Herz raste wie verrückt. „Wer ist es?“ „Die Anruferin ist gemeldet als eine gewisse Mary Higgers.“ Der Name sagte mir überhaupt gar nichts. „Ich verstehe nicht, die Person…“ „Hören sie zu.“ Unterbrach mich der Kommissar. „ Diese Frau hat vor zehn Jahren  ihren Namen ändern lassen. Sie ging mit Ihnen zusammen zur Schule. Damals war sie bekannt als Claire Giese. Wo sind sie gerade Frau Sichelmeier?“
Claire? Was hat sie mit dem Ganzen zu tun? Ich hab sie schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Wir haben keinerlei Kontakt mehr. Ich verstehe das nicht. „Frau Sichelmeier, sind sie noch dran?“ „Ja, Ja ich bin noch dran. Ich bin im Supermarkt bei der Arbeit in der Karlsonstraße 3, wieso fragen sie mich das?“ Jetzt überkam mich ein ungutes Gefühl. Wieso wollte der Polizist wissen wo ich bin? „Das hab ich mir fast gedacht.“ Entgegnete Kommissar Blanket am anderen Ende. „Hören sie gut zu Frau Sichelmeier. Weshalb ich sie so früh anrufe und frage wo sie sind. Wir haben das Mobiltelefon von Mary Higgers geortet, um sie festzunehmen und zu der Sache befragen zu können. Es befindet sich in diesem Moment ebenfalls an derselben Adresse an der sie sich aufhalten.“ Ich drehte mich ruckartig um, versuchte meine Umgebung genau zu untersuchen. Doch ich sah nichts. Panik kam in mir auf. Sie wird mich töten. Wie sie es gesagt hat. Hier und heute. „Frau Sichelmeier hören sie mir zu. Sie müssen versuchen Ruhe zu bewahren. Suchen sie sich einen Raum in dem sie sich einschließen können und warten sie, bis die Einsatzkräfte eintreffen. Die Gefahr, die von Mary Higgers ausgehen könnte, ist schwer einzuschätzen, jedoch nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Wenn sie möchten bleibe ich solange mit Ihnen am Telefon und…“, wie aus dem Nichts schlug mir jemand von hinten das Telefon aus der Hand, schmiss es gegen die Wand, sodass es in hunderte Einzelteile zersprang. Keine Sekunde später wurden mir die Füße vom Boden weggerissen. Ich knallte mit dem Kopf auf den Fußboden, spürte wie mir warmes Blut am Hinterkopf herunterlief. „Keine schlaue Idee die Polizei einzuweihen Schätzchen. Jetzt muss ich mich damit beeilen dir den Tod zu schenken.“ Ich blickte hoch, Claire, oder Mary, sie zeigte mit einer Schusswaffe auf mich. Ihre Augen waren Blutunterlaufen und ihre blonden Haare völlig zerzaust. Sie sah aus als hätte sie Tagelang weder geschlafen noch geduscht. Und doch sah sie aus wie damals. „Claire was soll das? Was hab ich dir je getan, dass du dich so an mir Rächen willst?“ Ich verstand es immer noch nicht. Claire und ich waren beste Freunde damals in der Oberstufe. Bis wir einen heftigen Streit hatten und nie wieder miteinander redeten. Mein Kopf brannte so sehr, mir wurde schwindelig, aber ich musste aufmerksam bleiben. „Was du mir angetan hast?!“ Ihre Stimme überschlug sich fast. Sie war das komplette Gegenteil von der ruhigen, kontrollierten Person, die gestern das Telefonat mit mir führte. „Ich fasse es nicht, dass du das nicht mehr weißt. Bin ich dir so egal geworden Lia? Ich hätte mir eigentlich denken können, dass dir nicht einmal das Foto mit dem Müllcontainer auf die Sprünge helfen würde. Du hast dir damals schon nichts dabei gedacht. Denken war nie deine Stärke gewesen.“ „Dann erkläre es mir Claire, bitte, ich verstehe es nicht.“ Ich hatte Mühe dabei, gefasst zu klingen. „Mein Gott Lia, bist du wirklich so schwer von Begriff? Hast du die ganze Sache schon so verdrängt? Wir waren beste Freunde Lia. Seit dem Kindergarten waren wir unzertrennlich. Bis wir diesen unsinnigen Streit hatten und du einfach mir nichts dir nichts mein größtes Geheimnis veröffentlicht hast.“ Verdammt. Nun viel es mir wie Schuppen von den Augen. Claires Eltern haben damals ihre Jobs verloren und konnten nicht mehr genug Geld für Lebensmittel auftreiben. Deshalb musste Claire häufig in Müllcontainern von Supermärkten nach verzehr baren Lebensmitteln suchen. Es war ihr unglaublich unangenehm gewesen. Niemand außer mir wusste darüber Bescheid. Bis wir diesen Streit hatten. Sie hat mir Dinge an den Kopf geworfen die mich damals sehr verletzten. Ich wäre eine reiche Oberzicke und würde mich nur um mich selbst kümmern. Wäre egoistisch und selbstsüchtig. Wir waren niemals reich gewesen. Claire konnte mit ihren Lebensumständen einfach nicht umgehen. Es war unfair gewesen, mir solche Vorwürfe zu machen. Ich war so sauer auf sie, dass ich ein Foto von ihr aufnahm, wie sie im Container wühlte. Ich schickte es in der Schule herum und machte sie vor allen Mitschülern lächerlich. 
„Claire…DESWEGEN willst du mich jetzt umbringen? Wegen dieser lächerlichen Geschichte von vor 10 Jahren?“ Ich konnte es nicht fassen. Was passierte hier grade? Claire richtete immer noch die Waffe auf mich. „Lächerlich?! Du empfindest das als LÄCHERLICH?! Lia, du hast mit diesem Bild mein komplettes Leben zerstört. Von da an war die Schule die reinste Hölle für mich. Ich wurde herum geschubst, man hat mich mit den labbrigen Gurkenscheiben der Kantinenbrötchen abgeworfen. Die müsste ich dann später nicht aus dem Müll holen. Nach der Schule wurde ich abgefangen. Man hat mich beleidigt und verprügelt, Mülleimer über mir ausgeleert, bis ich schluchzend am Boden lag und wünschte, dass ich tot wäre. Du warst schuld daran. Und du hast mich allein gelassen. Also hab ich beschlossen mich an dir zu Rächen, nach all den Jahren sollst auch du dich fühlen, wie ich mich damals fühlte. Allein. Hilflos. Ich wusste du würdest dir das Handy genauer ansehen. Fremdes Eigentum war dir immer genauso egal gewesen wie die Gefühle Anderer. “ Mir liefen Tränen übers Gesicht. Ich hatte nie gewusst, dass es Claire deswegen so schlecht erging. „Aber Claire, wieso hast du nicht mit mir gesprochen? Ich hätte dir doch geholfen da wieder raus zu kommen.“ „Von wegen. Du warst doch mit deinen neuen Freunden beschäftigt gewesen. Niemals wärst du zurück zu der Müllsammlerin gegangen. Das hätte deinen schönen Ruf ruiniert. Die perfekte Lia, mit ihrem perfekten Körper und ihren ach so perfekten langen Haaren, ihrem perfekten Leben, gibt sich wieder mit DER ab. Du hast keine Ahnung Lia, wie schrecklich diese Zeit für mich gewesen ist. Du kannst es dir nicht im Ansatz vorstellen wie fertig mich das machte. Ich änderte sogar meinen Namen, weil ich dachte das würde vielleicht irgendetwas ändern, irgendetwas besser machen. Aber diese Zeit, die Gefühle und die Angst. All das verfolgte mich. Nichts wurde besser, nichts hat sich geändert.“ Ihre Stimme wurde leiser. Sie fing an zu weinen und lies die Waffe sinken. Plötzlich tat sie mir unglaublich leid. Jeder Satz wurde von bitterlichen Schluchzern begleitet „Ich litt so sehr an der Vergangenheit, dass ich versuchte mir das Leben zu nehmen. Kannst du dir das vorstellen Lia?“ Nein konnte ich nicht. Sie war immer ein fröhlicher und starker Mensch gewesen. Niemals hätte ich gedacht, dass ihr diese Geschichte so zusetzen würde. „Der Grabstein neben dem du dich immer so gerne hinsetzt, das ist übrigens meiner. Ein schöner Zufall, findest du nicht? Ich lag mehrere Monate im Koma wegen des Selbstmordversuchs. Meine Eltern haben schon ein Grab für mich errichten lassen, falls ich es nicht schaffen würde. Die Ärzte gaben kaum Hoffnung. Nur meinen Namen haben sie noch nicht eingravieren lassen. Das brachten sie nicht übers Herz.“
Ich konnte nicht glauben was ich hörte. Meine Schuldgefühle überkamen mich wie ein Dämon der Besitz von mir ergriff. Ich war nicht mehr Herr meiner selbst. Alles in mir schrie, doch ich konnte mich nicht bewegen. „Es tut mir so unglaublich leid Claire. Wenn ich das gewusst hätte, glaub mir, ich hätte dir sicher geholfen. Ich wollte nie, dass es dir so schlecht ging. Ich kann dir immer noch helfen. Ich kann dir beistehen Claire. Such dir professionelle Hilfe und ich bleibe bei dir. Wir schaffen das zusammen.“ Ich flehte sie förmlich an. „Dafür ist es jetzt zu spät.“ Ohne Vorwarnung hielt sie die Pistole wieder in meine Richtung, dann drückte ab.
                       ***
Die Kugel durchbohrte meinen Bauch. Ein unaussprechlicher Schmerz durchzuckte meinen Körper. Ich wimmerte und krümmte mich. Schnappte nach Luft. Versuchte verzweifelt das auslaufende Blut irgendwie in mir zu halten. Atmen Lia, du musst atmen. Ein, aus. Ein, aus. Verdammt wann kommt denn endlich die Polizei?
„ Arme Lia, jetzt liegst du bald selbst unter der Erde. Da, wo du so gerne spazieren gehst.“
Ich hörte Ihre Worte zu mir durchdringen, aber hatte keine Kraft darauf zu reagieren.
„POLIZEI SOFORT DIE WAFFE FALLEN LASSEN!“ Endlich! „Ich denke gar nicht daran.“
Ich spürte wie ich langsam das Bewusstsein verlor. Mein Atem wurde Flacher. „Claire.“ Stotterte ich mit letzter Kraft heraus. „Wenn ich tot bin ändert das gar nichts.“ Ich musste husten und verschluckte mich an meinem eigenen Blut. „Du brauchst Hilfe.“ Die Polizei kam langsam näher, wiederholte immer wieder, dass Claire die Waffe fallen lassen sollte. Doch sie tat nichts dergleichen. Sie blickte mich an. Diesen Blick werde ich nie wieder vergessen können. Er wird vermutlich das letzte gewesen sein, das ich je sehen würde. Leere Augen. Tunnelblick nach vorne. Sie blickte durch mich hindurch. In diesem Moment wurde mir klar, dass Claire bereits viel zu weit weg war. Ich hatte keine Chance. „Du hast Recht Lia.“ Langsam, völlig abwesend kamen ihre Worte. „Es ändert gar nichts. Ich bin und bleibe das Müllmädchen von damals. Dein Tot macht es nicht besser. Aber meiner wird es.“ Blitzartig drehte sie den Lauf in ihre Richtung und schoss sich selbst in die Brust. Ich konnte nur noch sehen wie Claire zu Boden ging und die Polizisten auf uns zu stürmten. Einer zu Claire, einer zu mir. Der Rest irgendwo anders hin. Dann wurde mir schwarz vor Augen.
                      ***
Einen Monat nach dem Drama im Supermarkt wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen. Die Verletzung habe ich nach einer Notoperation knapp überlebt. Claire starb. Mit diesem Gedanken musste ich nun mein Leben verbringen. Sie hat sich umgebracht. Und das, wegen einer Sache die für mich damals nicht der Rede wert gewesen ist. Ich habe es nicht ernst genommen. Ich habe nie darüber nachgedacht wie Claire diese Sache aufnehmen würde. Geschweige denn, wie sie diese Sache überhaupt empfand und erlebte. Oder wie sich ihr Leben dadurch veränderte. Nun kann ich es nie wieder gut machen.
Und wenn ich eins aus dieser Geschichte gelernt habe, dann ist es die Erkenntnis, dass man vorsichtig sein muss, mit dem was man tut und was man zu Anderen sagt. Denn man kann nie wissen, welche Vorgeschichte jemand hat, wie derjenige fühlt oder wie er die Dinge erlebt. Nur weil ich etwas gut aufnehme, heißt es noch lange nicht, dass mein Gegenüber dies genauso empfindet.
                      ***
„Und wie geht es Ihnen damit heute, Frau Sichelmeier?“ Die Therapeutin blickte von ihrem Notizblock zu mir hoch. Ihre neongelbe Brille verrutschte dabei etwas. „Nun.“ Begann ich. „Es ist auch heute noch schwer für mich, daran zurückzudenken. Drei Jahre sind vergangen und ich habe immer noch Alpträume und meide immer noch den Friedhof. Deswegen bin ich jetzt hier. Ich möchte, dass die Therapie mir hilft, nicht so zu enden wie Claire und mit der Vergangenheit abschließen zu können. Ich möchte irgendwann soweit sein, Claire an ihrem Grab besuchen zu können.“ „Das ist ein schönes Ziel Frau Sichelmeier. Wir werden nun gemeinsam daran arbeiten, dass sie ihre Vergangenheit akzeptieren und dass sie lernen werden mit dem Geschehenen umgehen zu können.“
Ja, dachte ich und nickte. Das ist ein guter Neuanfang.

~ Always keep fighting ~ Jared Padalecki

 

6 thoughts on “Zeit heilt keine Wunden

  1. HI :),
    vielen Dank für diese spannende Geschichte.
    Ich mag Deinen Schreibstil. Was mir außerdem sehr gut gefallen hat war, dass Lea nicht mal wusste, was es mit dem Geheimnis auf sich hat. Natürlich ist es etwas schade, dass es kein Happy End für sie und ihre beste Freundin aus Schulzeiten gab.
    Mir sind zwei Logik Sachen aufgefallen:
    Du schreibst, dass auf dem Handy Fotos von der Einschulung bzw. aus der Schulzeit waren. Smartphones gibt es ja erst seit ca. 2008 oder 2010. Das heißt, die Bilder müssten eingescannt oder vom PCauf das Handy übertragen worden sen. Das ist zwar ein “großer” Aufwand, allerdings sehr logisch, den Aufwand auf sich zu nehmen, wenn man sich an jemandem rächen möchte.

    Die Idee, dass Lea einen unbeschrifteten Grabstein findet, gefällt mir richtig gut. Allerdings habe ich gehört, dass es bei Gräbern erst eine Zeit lang dauert, bis man einen Grabstein einsetzen kann, weil sich am Anfang die Erde noch etwas verändert. Zu Beginn steht da ja “nur” ein Holzkreuz.

    Ich drücke Dir die Daumen, dass Du es ins Buch schaffst. Die Botschaft Deiner Geschichte gefällt mir sehr gut und ich lass gerne ein Herz da.

    1. Vielen lieben Dank für dein Feedback! Du hast recht, die zwei “Logikfehler” sind mir selbst nicht aufgefallen. Ich hatte leider auch keine Testleser und das mit dem Grabstein wusste ich zum Beispiel gar nicht 😁. Ich hab mich sehr über dein Feedback gefreut. Dankeschön 😊

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