Marco DzebroZwischen Hell und Dunkel

Im sozialen Dschungel der menschlichen Existenz gibt es kein Gefühl der Lebendigkeit ohne einen Sinn für Identität.“ Erik Erikson

12

Wenn man das allererste Mal in die Parker-Barrow Lane abbog, bekam man tatsächlich das Gefühl einen Riss im Himmel entdeckt zu haben, der einen kleinen Ausblick auf das Paradies freilegte. Es war ein harmonischer Ort, der seine Bewohner wärmte und nährte und ihnen das Gefühl eines immerwährenden Frühlings schenkte. Ein traumhaftes Bilderbuchszenario, in dem auch Besucher herzlich aufgenommen, ja sogar mit offenen Armen empfangen wurden. Genau das jedoch war ein Problem. Denn wenn man jeden Gast willkommen heißt, dann kann es schnell passieren, dass auch der Teufel zu Besuch kommt!

 

11

Gleich am Anfang der Straße wartete eine perfekt gesetzte Baumallee, deren dichtes Blätterwerk von kleinen Sommerwinden durcheinander geschüttelt wurde. An den Stämmen der rissigen Borken wucherte Stechdorn, der vom Asphalt der Bürgersteige in seine Schranken verwiesen wurde und in der Luft lag der Geruch von frisch gemähtem Gras.        Es war eine lange, breite Straße einer typischen Vorstadtsiedlung, wie man sie aus unzähligen Spielfilmen kennt. An beiden Seiten reihten sich Einfamilienhäuser nebeneinander, die so angeordnet waren, dass genug Raum zwischen ihnen lag, um für ein entspanntes Miteinander zu sorgen. Die meisten Vorgärten wurden von niedrigen Zäunen umrahmt, die Bürgersteige waren mit bunten Kreidezeichnungen verziert und in fast jeder Einfahrt stand ein Pick-up Truck. Allerdings waren die nicht alle unbedingt in bestem Zustand, genau wie auch der größte Teil des Viertels, das im Laufe der Jahre schon so einiges von seinem ursprünglichen Charme hatte einbüßen müssen. An manchen Häuserfassaden blätterte die Außenverkleidung ab, das Weiß einiger Gartenzäune war mehr in ein trostloses Grau übergegangen und generell wirkte die Parker-Barrow Lane auf den zweiten Blick dann doch eher so, als ob ein ewiger Herbst auf ihr liegen würde. Es war wahrscheinlich einmal der perfekte Ort gewesen, um eine Familie zu gründen und das Leben in vollen Zügen zu genießen. Jedoch war es auch einer, um Geheimnisse zu hüten. Geheimnisse die so gar nicht in diese aalglatte, fast schon ein wenig zu perfekte Idylle passen wollten. Es waren genau solche Geheimnisse, die unter der Oberfläche einer vermeintlich gesunden, harmonischen Gemeinschaft wucherten und deren Wurzeln unkontrolliert immer stärker wurden und sich unaufhaltsam ihren Weg suchten, um tiefe Risse in den Asphalt zu drücken, wodurch die Parker-Barrow Lane einen großen Teil ihrer Unschuld irgendwann eingebüßt hatte. Es war noch immer eine ansehnliche Gegend, aber um weiterhin funktionieren zu können, hatten sich die Bewohner im Laufe der Zeit, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren, auf ein Miteinander geeinigt, bei dem man sich nicht mehr allzu groß dafür interessierte, wie der Nachbar war und wie er nicht war. Dadurch wurde es möglich, eine gewisse Ruhe zu bewahren und jedem die Chance zu geben, sein Leben so zu gestalten, wie er es für richtig hielt. Die Parker-Barow Lane war genau deswegen ein Ort, an dem man seine eigene Geschichte schreiben konnte. Sehnsüchte wurden erfüllt und lang gehegte Träume in die Tat umgesetzt. Für die meisten war es tatsächlich eine Art von Paradies, für einige jedoch eine oberhalb der Erde liegende Hölle.

 

10

Libby kannte sich damit nur allzu gut aus, denn auch sie war vor einigen Jahren einer Teufelskreatur begegnet, der sie nur knapp entkommen konnte: ihrem Ehemann. Und es verging kein Tag, an dem sie nicht an diese unheilvolle Zeit zurückdenken musste, wobei jedes Mal starke Panikattacken über sie herfielen, gegen die sie immense Kraftanstrengung aufbringen musste, um sie wieder loszuwerden. So auch heute. Es war ein besonders heftiger Anfall, der ihr einiges abverlangte. Als Libby ihren Wagen parkte, brauchte sie erst einmal ein paar Minuten Zeit, um wieder klarzukommen. Sie versuchte sich herunterzuatmen, was durch die unangenehm schwüle Luft im Innenraum ihres alten Ford Buicks gleich noch um einiges erschwert wurde, da ihre Klimaanlage nicht funktionierte. Die stickige Hitze schien fast wie ein Raubtier nur darauf gelauert zu haben, sich durch ihre Lungen zu pressen, um sie in Stücke zu reißen. Libby schloss die Augen und versuchte an einen Strand zu denken, einen Hund oder an einen frostigen Januartag. Aus der Seitentasche ihres Sommerkleides, zog sie drei blank gelutschte Olivenkerne heraus und steckte jeden einzelnen mit zitternden Fingern in den Mund. Das Geräusch, das dabei entstand, als sie sich die Kerne mit der Zunge gegen den oberen Mundraum presste und hin und her massierte, hallte durch ihren gesamten Schädel. Es knirschte und schabte und es half ihr, sich zu beruhigen. Als es ihr nach ein paar Minuten ein klein wenig besser ging, nahm sie die Kerne wieder heraus und steckte sie zurück in die Tasche. Nur vorsichtig nippte sie danach an der Wasserflasche, die auf dem Beifahrersitz gelegen hatte, denn ihr Gaumen war durch die raue Oberfläche der Kerne wieder aufgerissen und stark entzündet. Die Schmerzen, die jedes Mal von diesem kleinen Ritual verursacht wurden, halfen ihr, sich zu fokussieren. Zusammen mit den dumpfen Geräuschen, die entstanden, wenn die Olivenkerne aneinander rieben und so klangen, als ob ihr jemand mit einer Spitzfeile den Schädel aushöhlen würde, schaffte sie es, sich abzulenken und die schlimmen Erinnerungen für eine gewisse Zeit zu verdrängen. Libby öffnete die Fahrertür und spuckte Blut auf das Gras des Bürgersteiges, dessen kräftiges, gesundes Grün fast schon so wirkte, als ob es jemand per Hand gemalt hätte. „Ach, verdammt!“, schnaufte sie und griff nach dem Handschuhfach. Mit immer noch leicht zitternden Fingern riss sie die Folie des Twinkies runter und fing an, auf dem weichen Spritzgebäck mit cremiger Füllung herumzukauen. Auf die Panikattacken folgte meist ein Fressanfall und dabei spielte es absolut keine Rolle, wie schlimm die Innenseite ihres Mundes entzündet war. Als sie fertig gegessen hatte und vorerst zur Ruhe gekommen war, konnte sie sich auf die anderen, kleinen Übel konzentrieren, die ihr fast täglich zu schaffen machten. Ihr Rücken schmerzte von der langen Fahrt und da sie in den letzten Jahren schon ein wenig Gewicht zugelegt hatte, bereiteten ihr auch noch die Knöchel immer wieder Kummer. Soweit es ihr möglich war, zog sie den Fahrersitz nach hinten, beugte sich vornüber und versuchte ihre geschwollenen Waden zu massieren, da sie noch einige Schritte zu laufen hatte, denn sie parkte absichtlich nicht direkt an der geplanten Adresse. Das machte sie inzwischen immer so, da meist irgendwelcher Müll in ihrem Auto herumflog und es ihr unsagbar peinlich war, wenn vorübergehende Passanten dies sahen. Es ging niemanden etwas an, dass es ihr Beifahrersitz war, der mit leeren Flaschen ungesunder Zuckergetränke und Süßigkeitenfolien vollkommen zugedeckt war. Nachdem sie sich von ihrem gewalttätigen Ehemann vor ein paar Jahren getrennt hatte, war sie in eine schwere Identitätskrise gerutscht. Sie hatte sich wertlos gefühlt, allein, ziellos. Wie ein Kieselstein, den jemand im hohen Bogen ins offene Meer geworfen hatte, wo er nun hilflos hin und her gespült wurde. Sie war in ein tiefes, schwarzes Loch gefallen und versuchte dieses eine Zeit lang mit allerlei Fressalien so hoch aufzufüllen, dass sie irgendwann wieder den Rand würde greifen können, an dem sie sich dann raus und zurück ins Leben ziehen wollte. Inzwischen hatte sie sich aber wieder gefangen, ihr Leben neu ausgerichtet und die Naschereien in den Griff bekommen. Wobei das natürlich nicht ganz zu hundert Prozent der Wahrheit entsprach: Libby schaute ihren vollgemüllten Beifahrersitz an und versuchte zu lachen, als sie sich im Rückspiegel betrachtend die Cremefüllung des Twinkies aus dem Gesicht wischte, wobei ihr Tränen die Wangen herunterliefen. Die weiße Paste zog sich von den Mundwinkeln teilweise bis knapp unter ihre Ohren. Sogar in ihren langen, blonden Haaren fand sie einige Krümel, die wie kleine Dämonen an ihrem Äußeren zogen und zerrten, um einen Weg in ihr Inneres zu finden.

 

09

Libby stieg aus ihrem Wagen und lief die Parker-Barrow Lane entlang. Die duftenden, weißen Blüten der Baumallee flogen durch die gesamte Siedlung, als ob sie Einladungen verteilen wollten, an diesem schwülen Sonntag, der die Hitze flatternd auf dem Asphalt tanzen ließ. Libby war froh darüber, dass sie sich morgens für ein Sommerkleid entschieden hatte. Zwar besaß sie lange nicht mehr die Konfektionsgröße, die sie vor ein paar Jahren noch hatte und empfand ihre Kleidungsstücke mehr als schlabberig flatternde Säcke, aber immerhin kroch ihr so ein wenig mehr Luft unter den Stoff. Es war ein knapp 10 Minuten langer Spaziergang bis zu der Adresse, an der ein Garagenverkauf stattfinden sollte, von dem sie im Internet gelesen hatte. Als sie das Einfamilienhaus mit der Nummer 211 von weitem sehen konnte, fiel ihr auf, dass bereits einige Leute vor den Kisten standen, die dort aufgereiht waren und in ihnen herumstöberten. Libbys Puls drehte wieder nach oben, je näher sie dem Haus kam, weshalb sie schnell die Olivenkerne hervorkramte und sich so tief in die Handfläche drückte, dass ihr bald ein kleines Rinnsal Blut durch die Finger tropfte. Als sie nur noch wenige Schritte von dem Anwesen entfernt war, stellte sie jedoch fest, dass es sich bei der kleinen Gruppe von Leuten um eine Familie handelte, die sich aufmachte weiterzuziehen, noch bevor Libby die Adresse erreicht hatte. Trotzdem stieg die neue Panikattacke scheinbar unaufhaltsam an und drohte ihr den Boden unter den Füßen wegzufressen. Die letzten Schritte waren mehr ein fahriges Taumeln, weshalb sie versuchte, sich schnell die Olivenkerne in den Mund zu stecken. Aber ihre Bewegungen waren so unkoordiniert, dass sie ihr entglitten und im hohen Gras verschwanden. Libby krampfte erschrocken auf und kam zum Stehen. Vollkommen von Sinnen starrte sie auf den Boden, während ihr Kreislauf sich wie dampfendes Essigwasser aufzulösen schien und jede Zelle ihres Körp … „Ach herrjeh, Sie bluten ja!“ Die junge Dame hatte eine der Stimmen, die weich und einladend klangen oder vertraut, was aber natürlich gar nicht sein konnte, da sie sich noch nie zuvor begegnet waren. „Kommen Sie, ich gebe Ihnen erst einmal ein Taschentuch, bevor Sie sich noch das schöne Kleid vollsudeln!“ Sie packte Libby vorsichtig, aber mit einer gewissen Bestimmtheit am Arm, und führte sie über den Rasen des Vorgartens. Libby fühlte sich zwar leicht überrumpelt, aber im Grunde konnte ihr das nur recht sein, da der kleine Schreck sie aus der Panikattacke gerissen hatte. Sie blickte noch zurück und versuchte die Stelle auszumachen, an der die Olivenkerne lagen, konnte aber schon nicht mehr genau sagen, wo sie ihr aus der Hand gefallen waren. „Alles ok?“, fragte die junge Frau und zog weiter Richtung Garage, vor deren Einfahrt eine große Anzahl Kartons aufgebaut war. Sie fing an in einem kleinen Rucksack zu kramen, der hinter dem langen Tapeziertisch lag, auf dem Geschirr und weitere Gegenstände aufgereiht standen, die wahrscheinlich zerbrochen wären, wenn sie lose in den Kartons gelegen hätten. Die junge Frau zog eine Packung Taschentücher aus dem Rucksack und eine kleine Flasche Mineralwasser, die noch unbenutzt zu sein schien. „Hier. Trinken Sie mal einen Schluck und dann spülen Sie die Hand ab! Was haben Sie da überhaupt gemacht?“ Libby kam langsam wieder zu sich, drehte den Verschluss der Flasche auf und spürte, wie ihr jeder einzelne Schluck wieder stabilere Gedanken in den Kopf schwemmte. Sie setzte ab, musste nach Luft schnappen und konnte noch im letzten Moment einen riesengroßen Rülpser unterdrücken. Der jungen Frau schien das nicht entgangen zu sein, weshalb sie herzhaft auflachte. „Alles was keine Miete zahlt muss heute raus, was?“, sagte sie und für einen kurzen Moment musste auch Libby über den Spruch lachen, den sie zwar schon zigmal gehört hatte, in Kombination mit dem Garagenverkauf dann aber doch irgendwie ganz lustig fand. „Ja, tut mir leid!“, sagte sie. „Und danke für das Taschentuch und das Wasser. Hab mich wohl am Autoschlüssel geschnitten.“ „Ich bin Francine“, sagte die junge Frau, die Libby auf ungefähr Mitte Zwanzig schätzte. Ihr Lächeln wirkte unbekümmert, losgelöst und einladend.

08

Ich glaube nicht an einen gerechten Gott. Ich glaube an das, was als nächstes passiert.“ Libby zuckte ein wenig zusammen, als sie Francine dies sagen hörte, weil ihr plötzlich bewusst wurde, wie intensiv und persönlich ihr Gespräch inzwischen schon war und das, obwohl die beiden Frauen sich gerade einmal seit höchsten einer halbe Stunde kannten. Aber sie hatten schnell einen guten Draht zueinander gefunden und waren auch sofort in sehr persönliche Themen eingestiegen. Vielleicht kam das ein wenig daher, dass dort vor der Garage ein ganzes Leben einer Person aufgebaut war, in dem die beiden Frauen absolut ungestört herumstöbern konnten. Das führte einem die eigene Zerbrechlichkeit vor Augen und legte sensible Zugeständnisse frei, die man sonst wahrscheinlich einer Fremden gegenüber nicht so schnell gemacht hätte. Francine erklärte Libby, dass der Besitzer des Hauses vor kurzem verstorben war und da es keine Angehörigen gab, die man hätte kontaktieren können, musste sie sich nun um die Angelegenheit kümmern. Francine arbeitete als Nachlassverwalterin und versuchte durch den Verkauf der Hinterlassenschaften Kosten zu decken, die durch den gesamten, kommenden Verwaltungsakt inklusive der Bestattungsgebühren entstehen würden. „Ich bin echt ein wenig überrascht“, sagte sie, während ihre Hände gezielt durch die Kartons sortierten. Immer wieder kramte sie Gegenstände hervor, von denen sie annahm, dass Libby eventuell Gefallen an ihnen finden könnte. „Für einen Mann sind hier einige Sachen dabei, die ich so gar nicht erwarten würde! Manches davon ist richtig geschmackvoll. Das hätte ich eher einer Frau zugetraut!“ „War er denn verheiratet?“ „Nein, war er nicht. Hat wohl auch allein gelebt. Eiserner Junggeselle, wenn ich das den Unterlagen richtig entnommen habe.“ Francine entdeckte eine kleine Schale, die man meist für Potpourri verwendete. „So was hier zum Beispiel!“, sagte sie und hielt sie Libby direkt unter die Nase. Der war die ganze Sache teilweise recht unangenehm, weshalb sie sich ein wenig abwandte. „Ja. Schaut gut aus. Das würde mir auch gefallen“, bemerkte sie schüchtern. „Hat er bestimmt mal geschenkt bekommen!“, stichelte Francine und kramte weiter in den Kisten herum. „Suchst du eigentlich was Bestimmtes? Immerhin war deine Anfahrt ja schon etwas länger. Nimmt man so einen langen Weg extra auf sich, nur um mal ein wenig herumzustöbern?“ „Garagenflohmärkte sind so eine Art Hobby von mir. Mag vielleicht ein wenig komisch klingen, aber den kleinen Ausblick in fremde Leben finde ich irgendwie beruhigend.“ Libby hoffte, dass sich Francine mit dieser Antwort zufriedengab und nicht noch weiter nachhaken würde. „Weil dein eigenes nicht ganz so toll ist?“ Libby wollte gerade antworten, obwohl ihr trauriger Blick wahrscheinlich schon Bände sprach, entdeckte in dem Moment aber die Schallplatte einer Blues-Band, die schreckliche Erinnerungen in ihr weckte: es war das Album der Black Lake Louisianas, das an dem Tag im Hintergrund lief, als ihr damaliger Ehemann so zerstörerisch auf sie einprügelte, dass sie nur knapp mit dem Leben davon gekommen war. Wut mag der Antrieb gewesen sein, aber die Gier nach Zerstörung, nach der kompletten Vernichtung ihrer Seele, hatte ihn damals in einen absoluten Rausch versetzt. Die harten Schläge seiner Faust brachen ihr mehrfach die Nase und einige Rippen. Ihre Wangenknochen platzen auseinander, als er ihren Schädel immer wieder gegen die Wand schmetterte und Tage später noch war ihr Kot blutig und voller Knochensplitter. „Für dich bricht Gottes Reich an. Dafür solltest du blöde Schlampe dankbar sein. So ein Stück Dreck wie du hat es gar nicht verdient so viel Liebe zu erfahren, so fromme, herrliche Liebe!“, hatte er damals immer wieder gebrüllt und ihr genau diese herrliche Liebe Gottes mit unerbittlicher Härte zwischen die Beine getreten. Sie erlitt unter anderem einen schlimmen, abartig schmerzhaften Schambeinbruch und eine Hüftpfannenfraktur. „Das meiste hier ist wirklich nichts wert“, hörte sie Francine sagen. Ihre Stimme klang dumpf und weit weg. Libby spürte wie die schlimmen Erinnerungen mit langen, dürren Fingern nach ihr ausstreckten, die sie in einen Strudel tosender Panik reißen würden, wenn sie es nicht schaffen sollte, ihnen zu entkommen. Das schien auch Francine aufzufallen. „Mein Gott, du bist ja schon wieder ganz blass im Gesicht!“ Sie umfasste Libbys Hüfte und begleitete sie vorsichtig zu einem alten, klapperigen Gartenstuhl, der sich hinter dem Tapeziertisch befand und bugsierte sie hinein. Dafür musste sie vorher aber einen Karton herausnehmen, der auf dem Stuhl stand. „Hier, halt das mal fest. Ich hole dir schnell irgendwas aus der Küche mit einem guten Schuss Zucker drin! Ich bin gleich wieder da. Schaffst du das? Kipp mir bloß nicht vom Stuhl!“ Francine rannte ins Haus, während Libby sich nicht sicher war, wie sie die neue Panikattacke handhaben sollte. So wie sie gerade dasaß, zwischen all den Kartons und Hinterlassenschaften, kam sie sich selbst wie aussortierter Müll vor, für den niemand mehr Verwendung hatte: „Das meiste hier ist wirklich nichts wert!“, hallten ihr Francines Worte durch den Kopf. Vollkommen benebelt schweifte ihr Blick suchend umher, um irgendwo Halt zu finden und landete schließlich in der Kiste auf ihrem Schoß, deren etwas moderiger Geruch ihre Aufmerksamkeit erweckte. Darin befand sich ein kleines Modellauto eines Ford V8, das in liebevoller Kleinarbeit zusammengesetzt worden war, ein Gedichtband namens „The Ham“ und ein Handy. Libby fiel auf, dass einige, kleine Stickereien an der Seite des Handys angebracht waren, die so gar nicht zu einem männlichen Besitzer passen wollten. Ihre Hände zitterten stark, als sie danach griff und den Knopf suchte, mit dem man es anschalten konnte. Es war tatsächlich noch geladen. Der Sperrbildschirm blitze auf und zeigte das Foto einer jungen Frau: schlank, mit schwarzen, raspelkurzen Haaren. „Hübsch, nicht wahr?“, sagte Francine, die plötzlich hinter Libby stand, der vor Schreck der gesamte Karton vom Schoß rutschte. Das Modellauto brach in unzählige Teile auseinander und fasste damit ganz gut zusammen, wie Libbys bisheriges Leben so verlaufen war.

07

Tut mir leid. Das wollte ich nicht“, stotterte Libby, aber Francine nahm den kleinen Verlust eher gelassen hin: „Ist nicht schlimm! Den Quatsch hätte bestimmt eh niemand mehr haben wollen. Das war schon ganz zerlöchert.“ „Hier“, sagte sie, drückte Libby ein Glas Zitronenlimonade in die Hand und machte sich wieder auf, in einem der umstehenden Kartons herumzuwühlen. „Ich glaube, irgendwo müsste auch noch eine dazu passende Hülle herumfliegen, falls das Handy dich interessieren sollte. Allerdings kann ich dir gleich sagen, dass du wohl erst zu einem Techniker damit gehen müsstest. Da ist nämlich eine Displaysperre mit Pincode drauf. Ich habe es zwar auch schon versucht zu entriegeln, aber da gibt es ja tausend Kombinationsmöglichkeiten! So ein Techniker kann es dir vielleicht komplett zurücksetzen und neu einrichten oder …“ Mitten im Satz brach Francine ab, schaute auf ihre Uhr und fluchte erschrocken auf. „Ach verdammt: der Techniker!“ Vollkommen aufgescheucht rannte sie ins Haus, um irgendwelche Unterlagen zusammenzusuchen, die sie anschließend in ihren Rucksack stopfte. „Herrgott … ok, ich weiß, dass das jetzt eventuell ein wenig viel verlangt ist, aber könntest du mir einen riesengroßen Gefallen tun? Ich habe vollkommen verschwitzt, dass ich heute noch kurz in die Stadt fahren muss, um beim Elektriker ein paar Baupläne abzuholen, die ich nächste Woche brauche, wenn das Haus gelistet werden soll.“ „Es wird verkauft?“ „Nächste Woche kommt es auf den Markt.“ Zappelig hüpfte Francine von einem Bein aufs andere. „Hör zu: könntest du bitte auf die Sachen hier aufpassen? Ich habe keine Zeit mehr, das jetzt alles in die Garage zu räumen und der Elektriker macht in 1 Stunde schon zu. Selbst wenn der Verkehr einigermaßen gut ist, werde ich trotzdem ungefähr 30 Minuten brauchen, bis ich bei ihm bin. Ich sag dir was: wenn du mir diesen Gefallen tust, dann bekommst du das Handy geschenkt und kannst dir noch zwei, drei Sachen aussuchen, die dir gefallen.“ Libby kam der Vorschlag ganz recht, ein wenig Zeit für sich selbst zu haben. „Ich warte einfach so lange hier. Ist kein Problem“, sagte sie. „Du bist ein Schatz!“, rief Francine während sie zu ihrem Auto rannte. Mit viel zu hoher Geschwindigkeit raste sie die Parker-Barrow Lane herunter und ließ Libby ganz allein in ihrem Gartenstuhl sitzen, die gar nicht dazu kam, sich über Francines naives Vertrauenszugeständnis zu wundern, denn sie war damit beschäftigt einen Pincode zu finden, mit dem sie das Handy würde entsperren können. Es klappte gleich beim dritten Versuch.

06

Libby zog das schwere Tor nach unten und verriegelte es. Sie befand sich nun ganz allein in der Garage. Der restliche Plunder, der noch draußen aufgebaut war und jederzeit von vorbeigehenden Passanten hätte geklaut werden können, interessierte sie dabei kein bisschen. Mit schnellen Schritten umlief sie den Pick-up Truck, um zur Rückwand der Garage zu gelangen. Dort stemmte sie sich mit ganzer Kraft gegen den hohen Metallschrank, der auf den ersten Blick so aussah, als ob er fest in der Wand verankert war, jedoch mit ein wenig Mühe tatsächlich verschoben werden konnte. Es kam eine im Boden eingelassene Tresortür zum Vorschein. Libbys Herz pochte wie wild, fühlte sich im gleichen Moment jedoch auch unglaublich müde an. Ihr Körper konnte der Versuchung eines kompletten Zusammenbruchs nur mit Mühe widerstehen. Der Tresor war mit einem elektronischen Bedienfeld ausgestattet. Libbys Blick wanderte auf das Handy, das sie noch immer in der Hand hielt. Erneut betrachtete sie das Foto auf dem Sperrbildschirm: schlank, mit kurzen, schwarzen Haaren und einem Lächeln, das ein Happy End noch nicht ganz ausgeschlossen hatte. So hatte sie vor vielen Jahren tatsächlich noch ausgesehen. Damals, als sie ihren ersten Ehemann Chestnut kennengelernt und sich auf diesen Vernichtungsschlag aus Demütigungen und Quälerei eingelassen hatte. Natürlich kam die Überraschung, dass ihr Ehemann seine dunklen Seiten hatte, nicht ganz unangekündigt, denn wenn man jemanden über eine Website für Brieffreundschaften mit einsitzenden Schwerverbrechern kennenlernte, sollte einem klar sein, dass man einem Ausgestoßenen der Gesellschaft das Herz öffnete und die Chance bestand, dass er es einem wahrscheinlich irgendwann herausreißen würde und zwar nicht nur bildlich gesprochen. Aber Libby konnte nicht anders. Sie hatte es mit normalen Männern versucht, wenn es so etwas überhaupt gab. Aber immer wieder zog es sie auf diese Website, die einen Blick auf das schlimmste Übel der Gesellschaft ermöglichte. Der Reiz dieser Männer nahm sie vollkommen ein, benebelte sie und gab ihr das Gefühl, das Ziel einer langen, verworrenen Reise erreicht zu haben. Es fing mit ein paar harmlosen Briefen an, die sie sich schrieben. Dann besuchte sie Chestnut mehrmals im Gefängnis und schließlich heirateten sie sogar hinter Gittern. Genau 4 Jahre später wurde er entlassen, da er seine Haftstrafe wegen schwerer sexueller Vergehen komplett abgesessen hatte und als resozialisierbar eingestuft wurde. Die Tatsache, dass er verheiratet war und Libby mit ihrem Haus und Ersparnissen finanzielle Sicherheit garantierte, die einen sozialen Abrutsch verhindern konnte, bis er einen neuen Job finden würde, halfen bei der Entscheidung des Entlassungsgremiums ungemein. Chestnut zog bei Libby ein und noch am gleichen Abend schlug er ihr das erste Mal mit der flachen Hand so stark ins Gesicht, dass sie sich einen tiefen Riss in der rechten Wange zuzog. Das war an einem trüben Nachmittag im Mai. Am 23ten, um genau zu sein. Der Tag, an dem das Grauen seinen Anfang fand. Und genau dieses Datum tippte sie nun erneut in das Handy ein: 2305. Die Bildschirmsperre war ausgeschaltet. Libby öffnete mehrere Ordner und Bildergalerien, fand jedoch immer nur das gleiche Foto von sich selbst, das auch schon auf dem Sperrbildschirm zu sehen war. Ihr fiel dabei auf, dass es nicht aufs Handy geladen, sondern anscheinend von jemandem abfotografiert worden war. Wahrscheinlich aus einem der unzähligen Fotoalben, die sie aufgegeben hatte, als sie vor Chestnut nach jahrelanger Tortour endlich geflüchtet war und einfach alles zurückgelassen hatte. „Das Telefonbuch!“, schoss es ihr plötzlich durch den Kopf. Sie öffnete die Kontaktadressen, scrollte sich durch unzählige Einträge und suchte dabei einen ganz bestimmten Namen: Johanna. Als sie ihn gefunden hatte, tippte sie die dahinterstehende Nummer in das elektronische Bedienfeld der Tresortür. Einem Fremden wäre die genaue Handhabe der Schaltfläche wahrscheinlich schwergefallen, aber Libby kannte sich bestens damit aus. Chestnut hatte ihr schließlich ganz genau gezeigt, was zu tun war, als er den Tresor dort eingebaut hatte. In dem Haus, das Libby selbst einmal gehörte.

05

Die massive Tür ließ sich mit ein wenig Kraftanstrengung nach oben hin aufrichten. Im Inneren gab es nicht wirklich etwas Spannendes zu sehen. Ein paar Ordner, eine Schmuckschatulle und ein kleiner Goldnugget, der einmal ihrem Großvater gehört hatte. All dies interessierte sie aber nicht und sie fing an, den Inhalt mit hektischen Bewegungen auszuräumen. Wenn man es nicht wusste, dann war es auch so gut wie unmöglich zu erahnen, dass sich der Boden des Tresors öffnen ließ. Libby entfernte das Zwischenfach, das ihn in zwei kleine Hälften unterteilte und schob die untere Wand anschließend zur Seite. Der Tresor war in Wahrheit nichts anderes als ein perfekt getarnter Einstieg. Libby holte sich die in der Nähe stehende Gartenleiter, kletterte hindurch und gelang in einen Raum, der groß und lang genug war, dass man aufrecht in ihm stehen konnte. Sofort schlug ihr schimmeliger Geruch entgegen. Sie nahm die Hand vor den Mund und griff nach dem Schalter neben der Öffnung, durch die sie gerade gekrabbelt war. Die kleine Deckenlampe funktionierte noch. Die Lüftung jedoch war nur noch so leise wahrnehmbar, dass man davon ausgehen konnte, dass sie ihren Geist aufgegeben hatte. Es war fast zwanzig Jahre her, als Libby das letzte Mal dort gestanden hatte, aber natürlich konnte sie sich noch an alles ganz genau erinnern. So etwas vergisst man nicht. Wenn man einmal in den kalten Blick des Monsters geschaut hat, bekam man die Bilder nie wieder aus dem Kopf. Libby befand sich in einer körperlichen Verfassung, in der sie eigentlich gar nicht mehr hätte funktionieren dürfen, aber das Adrenalin, das durch ihre Adern schoss, trieb sie immer weiter voran. Noch eine weitere Tür. Der Schlüsselbund, der unmittelbar neben ihr an der Wand hing, fühlte sich zentnerschwer an. Libby hielt kurz inne, atmete tief durch und schloss dann auf.

04

Sofort erbrach sie alles, was sich in ihrem Magen befand, denn der Gestank von schalem Fleisch und Pisse war schier unerträglich. Das kleine Verlies besaß natürlich keine Fenster und jegliche Form von körperlicher Ausdünstung hatte sich auf alle Zeit in die lehmigen Wände gefressen. Libby putzte den Mund mit dem Handrücken ab und richtete sich wieder auf, wobei ihr Magen schmerzhaft krampfte. Sie schaute sich um und entdeckte einige Zeichnungen an der Wand. Ein paar Bücher, ein provisorisches Waschbecken, einen kleinen Fernseher, leere Dosen von Konservenfrüchten und weitere schauerliche Reste dessen, was davon zeugte, dass hier einmal ein Mensch gelebt hatte. Gefangen. In einem Verlies, das aus Einsamkeit, Zerstörung und unvorstellbaren Schmerzen bestand. Weggeschlossen von allem was das Leben lebenswert machte, war es eine Katakombe der Qualen, die kaum Bewegung und ganz sicher keine Hoffnung zuließ. Libby setzte behutsam einen Schritt vor den nächsten und ging ans andere Ende des zwar langen, aber verdammt schmalen Raumes, weil sie wusste, dass sich dort um die Ecke noch eine Einbuchtung befand, in der ein Bett stand. Jeder weitere Schritt riss tiefe Wunden in ihr auf, die nie tatsächlich verheilt waren. Je näher sie der Stelle kam, desto klaffender fühlten sich diese Wunden an und deformierten jegliches Verständnis von ihr selbst zu einem matschigen Etwas aus Fleisch, Abscheu und schreienden Gedanken. Sie fühlte sich mehr als Ding, statt wie ein tatsächliches Lebewesen. Mit letzter Kraft griff sie an die Kante der Mauer und zog sich um die Ecke.

03

Die Leiche auf dem Bett war zugedeckt. Ihre Umrisse, die unter dem Laken erkennbar waren, ließen darauf schließen, dass sie wahrscheinlich bereits skelettiert war. Libby verlor jegliches Gefühl dafür, wie viel Zeit verging, in der sie einfach nur dastand und wie betäubt auf diesen Rest von Menschen starrte. Nie im Leben hätte sie gedacht, dass sie den Anblick einer Leiche ertragen würde, selbst wenn sie, wie in diesem Fall, von einem Tuch bedeckt war. Aber Libby spürte in diesem Moment etwas, das sie am ehesten wohl noch als christliche Ruhe beschreiben konnte. „Und am Ende finden wir alle unser Grab“, dachte sie und fühlte sich erleichtert. Das erste Mal seit vielen Jahren. Doch dann bemerkte sie etwas, das auf der Leiche lag, jedoch fast hinter das Bett gerutscht wäre, was passiert sein musste, als das Fleisch irgendwann im Laufe der Jahre matschig von den Knochen geflossen war und sich das Laken dabei ein wenig verschoben hatte. Es war ein Brief, der ganz offensichtlich gezielt dort platziert wurde und auf jeden Fall gefunden werden sollte. Ihre Erleichterung wich einer gierigen Angst mit rostigen Zähnen, die sich unheilvoll in ihren Nacken bohrte. Auch wenn sie es gar nicht wollte, musste sie die Botschaft lesen, um mit der Sache ein für alle Mal abschließen zu können, das wusste sie. Behutsam faltete Libby das Stück Papier auseinander. „Wenn du diesen Brief findest, bin ich noch ein niemand für dich.“ Mit einem Schlag sackte sie zusammen und musste sich auf den Boden setzen. Sie kroch dabei so nah an das Bett heran, dass sie mit dem Rücken Halt daran fand, indem sie sich stützend dagegen lehnte. Ihr Kreislauf schien ihr gleich warmer, geschmolzener Butter aus dem Körper zu fließen und für einen kurzen Moment verschwammen die nächsten Sätze immer wieder vor ihren Augen. „Wenn du diesen Brief findest, bin ich noch ein niemand für dich. Das mag mehrere Gründe haben. Einer davon ist der, dass ich selbst gar nicht weiß, wer ich überhaupt bin. Vor einigen Monaten habe ich ein Buch gelesen, in dem davon gesprochen wurde, dass Identität der Schnittpunkt zwischen dem ist, was eine Person sein will, und dem, was die Welt ihr zu sein gestattet. Nun, alles was ich in den letzten Jahren und unzähligen Stunden sein wollte, war frei zu sein. Aber genau diesen einen Wunsch, hat mir die Welt eben nicht gestattet. Und damit meine ich dieses Verlies, in dem du dich gerade befindest und das viele Jahre lang meine komplette Welt gewesen ist. Eine Welt in der ich nur als kümmerliches Ding funktionierte. Ein Ding, das geschaffen wurde, um es zu zerstören. Immer und immer wieder. Und derjenige, der mich dazu benutzt und fast täglich geschändet, vergewaltigt und erniedrigt hat, dieses Ungeheuer mit toten, buckeligen Augen, fand genau darin seine größte Erfüllung: dass ich ein Nichts war. Hilflos, mit verbrannter Seele und der immerwährenden Frage danach, was all dies zu bedeuten hatte. Aber die großen Fragen im Leben haben meist die simpelsten Antworten, nicht wahr? Ich war einfach die Erfüllung eines abartigen Traums. Gefangen und von der Außenwelt weggesperrt. Ich diente nur dem Zweck Macht auszuüben, vergewaltigt und in Stücke gerissen zu werden. Aber das weißt du alles schon, nicht wahr? Da erzähle ich dir nichts Neues. Schließlich warst du diejenige, die mitgeholfen hat, Chestnut all dies überhaupt erst möglich zu machen!“

02

Libby liefen Tränen über die Wangen. Unzählige, bittere Tränen. Tränen derer sie sich schämte und die jetzt in dem dreckigen Boden versanken, der über so viele Jahre hinweg genau damit gefüttert worden war: Schreie, Tränen, Blut und fürchterliche Angst. „Libby, du bist tatsächlich zurückgekehrt. Zurück in das Haus, das einmal dir gehörte, bevor du es deinem prügelnden Ehemann überschrieben hast, für das Versprechen, dass er dich daraufhin nie wieder aufsuchen würde. Das hat dir die Chance gegeben, nochmal ganz neu im Leben anzufangen. Ob du sie sinnvoll genutzt hast, ist Ansichtssache, denn inzwischen hast du ja gleich zweimal wieder geheiratet. Beides waren inhaftierte Straftäter. Hybristophilie heißt es in der Fachsprache, wenn man sich zu Sexual- und Gewalttätern hingezogen fühlt. Aber das weißt du sicher bereits und wahrscheinlich ist es dir vollkommen egal. Genauso wie es dir damals vollkommen egal war, was aus der Frau werden würde, die du hier zurückgelassen hast und die dein Ehemann in diesem Loch gefangen hielt. Ein Gefängnis, das er von dem kleinen Erbe deines Großvaters überhaupt erst hatte bauen können, was du tatenlos hingenommen hast. Du erinnerst dich noch an diese Frau, nicht wahr? Johanna! Die Frau, die entführt, jahrelang hier unten festgehalten, verprügelt und immer wieder von deinem Ehemann brutal vergewaltigt wurde! Die Frau, die du hättest erlösen können, wenn du der Polizei von ihr erzählt hättest, nachdem es dir endlich gelungen war, deinem sadistischen Ehemann zu entkommen. Aber anscheinend wolltest du so schnell es geht mit der Sache einfach nur ein für alle Mal abschließen. Dass du es jedoch nicht ganz vergessen hast, zeigt allerdings die Tatsache, dass du gerade eben diese Zeilen hier liest, die außer dir sonst niemals jemand zu sehen bekommen hätte. Denn nur du wusstest, wie das Handy zu entschlüsseln war und vor allem unter welchem Namen du den Code für den Tresor finden würdest, den Chestnut dir ja nie verraten hatte. Johanna ist übrigens tot. Er hat sie erschlagen. Erschlagen an dem Tag, als sie sich das erste und damit auch das letzte Mal versucht hat zu wehren. Und das tat sie gar nicht einmal für sich selbst, sondern um ihre Tochter zu beschützen! Ja, du hast richtig gelesen: Chestnut hat Johanna geschwängert! Ich kam in diesem abartigen Verlies zur Welt und wuchs damit auf, immer wieder mit ansehen zu müssen, wie meine Mutter brutal geschändet wurde, während du bei einem Glas Wein auf Dating-Websites unterwegs warst und Männer für dich ausgesucht hast, denen genau so etwas wahrscheinlich richtig gut gefallen würde.“

01

Chestnut hat mich in den ersten Jahren vollkommen ignoriert und auch kein einziges Wort mit mir gesprochen. Ich war allerhöchstens geduldet. Für lange Zeit meines Lebens war ich mir deshalb gar nicht sicher, ob ich denn überhaupt real oder nur eine traurige Idee meiner Mutter war, da anscheinend ja nur sie mich sehen konnte. Erst an dem Tag, als Chestnut beschloss, dass ich endlich reif genug war, um auch von ihm missbraucht zu werden, schenkte er mir Beachtung. Genau in dem Moment, als er mir das erste Mal ins Gesicht blickte und ich plötzlich Tatsächlichkeit in mir spürte und zu fühlen begann, was es eventuell heißen könnte zu existieren, gab er mir mit seinem irren Blick zu verstehen, dass ich für ihn nur ein Stück Fickfleisch war, das er benutzen und irgendwann entsorgen würde. Als er seine gierigen Hände nach mir ausstrecke, versuchte meine Mutter mich zu beschützen, woraufhin er sie endgültig zu Tode prügelte, direkt vor meinen Augen, nur um mich danach dann unmittelbar neben dem zerfetzten Leichnam das erste Mal brutal zu vergewaltigten. Dies geschah nur wenige Tage nach meinem zehnten Geburtstag. Fast eine ganze Woche ließ er sich dann Zeit, bevor er die Leiche meiner Mutter aus dem Verlies schaffte, um sie im Garten zu vergraben.“ Libby musste für einen kurzen Moment die Augen schließen und innehalten. Die Leiche unter dem Laken war nicht Johanna! „Die nächsten Jahre verbrachte ich vollkommen allein in dieser sich immer wiederholenden Hölle, bei der nicht nur der Missbrauch und die Gewaltausbrüche mir jedes Mal aufs Neue fast den Verstand raubten: wenn man nichts anderes im Leben hat als Schmerz und Zeit, dann wird irgendwann die Zeit der Schmerz selbst. Wie ich es geschafft habe einen klaren Verstand dabei zu behalten, werde ich dir nicht verraten, aus Gründen, die sich dir noch erschließen werden, denn bisher sind wir zwei verschiedene Kreaturen aus zwei verschieden Welten. Doch ich schaffte es tatsächlich in all den Jahren nicht unterzugehen. In mir reifte eine Persönlichkeit heran, die für mich zwar nicht in Worte zu fassen war, mir aber unmissverständlich klar machte, dass ich niemals aufgeben durfte. Der Grund dafür war eine Form von Hass, die mir erst später schlüssig werden und mir ein konkretes Ziel im Leben setzen sollte. Irgendwann kam Chestnut nur noch ab und zu einmal vorbei, um Essensreste in die Zelle zu werfen. Er hatte das Interesse an mir verloren, als ihm klar wurde, dass ich mich nicht zu dem gebrochenen Knochenopfer entwickelt hatte, über dessen Willen und Geist er frei verfügen konnte. Er war fortan nicht mehr sonderlich darauf bedacht, mich am Leben zu halten. Dadurch wurde er auch nachlässig und unachtsam, weshalb sich mir eines Tages tatsächlich die Chance ergab, all dem ein Ende zu setzen. Bei einem seiner selten gewordenen Besuche schlug ich ihn mit einem herausgedrehten Tischbein nieder, als er sich von mir abwandte, um die Zelle wieder zu verlassen. Es waren ca. 50 Schläge, die ich auf ihn niedertrümmern ließ, bevor ich anschließend das allererste Mal in meinem Leben das Gefängnis verlassen konnte. Sofort ging ich hinter das Haus und legte mich dort ins weiche Gras. Die Sonne und ich lernten uns endlich kennen. Die Luft war klar und fruchtig und ein Befreiungsschlag, der durch meinen ganzen Körper strömte. Mehrere Stunden lag ich dort unter freiem Himmel und wuchs wie ein umgekehrter Kadaver dicht und beständig immer weiter zusammen. Abends ging ich dann ins Haus, stellte mich unter die Dusche, etwas das ich auch noch nie zuvor getan hatte und plünderte danach den Kühlschrank. Natürlich übernahm ich mich dabei und verdarb mir den Magen. Mein erster Tag in Freiheit endete damit, dass ich in meinem eigenen Erbrochenen, mit starken Krämpfen und total entkräftet auf dem Boden des Badezimmers liegend einschlief und ich war nie glücklicher in meinem Leben. Die Eindrücke der Außenwelt, die in den darauffolgenden Tagen auf mich niederprasselten, waren anstrengend, mir aber nicht vollkommen fremd, da Chestnut einen kleinen Fernseher in meine Zelle gestellt hatte, durch den ich mit einigen Informationen versorgt worden war. Ich bekam ihn geschenkt als er irgendwann feststellte, dass ich immer intensiver in meinen Tagträumen verloren ging und nur noch apathisch auf dem Boden kauerte, ohne tatsächlich ansprechbar zu sein. Das gefiel ihm natürlich gar nicht, denn Chestnut brauchte mein Leid und dazu musste er mich bei klarem Verstand halten. Ein Opfer, das sich nicht wehrt und schreit und eben nicht jedes Mal aufs Neue versteht, was gerade Schreckliches mit ihm geschieht, war ihm nichts wert. So kam ich also, dank des TV Gerätes, nicht ganz unvorbereitet an die Oberfläche. Und dennoch waren die ersten Tage ein Fieberanfall aus Freude und Zusammenbruch, die sich immer wieder abwechselten. Ich genoss meine Freiheit, meine Selbstbestimmung in vollen Zügen, aber verlor auch immer wieder den Halt darin. Bisher war mein Leben in vorgegebenen Bahnen verlaufen, in denen ich einen ganz bestimmten Zweck erfüllte: ich war ein Nutzobjekt und genau dies zu überleben, war eine sich immer wiederholende Tagesaufgabe. In meiner neuen Freiheit gab es genau dieses Konstrukt nicht mehr und obwohl ich mir nichts mehr im Leben gewünscht hatte, als diesem endlich entkommen zu können, fiel es mir unsagbar schwer, neue Anhaltspunkte zu finden, an denen ich mich orientieren konnte. Da ich schon nicht wusste, wer ich überhaupt genau war, kam es umso schwerer zum Tragen, dass ich nun auch kein Verständnis mehr darüber hatte, was genau ich tun sollte, wo ich meinen Platz finden würde und was genau der Zweck meines Daseins wohl sein könnte. Aber Aufgeben war keine Option, dafür hatte ich bereits zu viel überlebt! Ich ließ mir also Zeit, fand zu neuer Kraft und irgendwann ging mir dann auch auf, wohin meine weitere Reise mich führen würde. Es gab ein neues Ziel in meinem Leben. Eines, das ich lange schon in meinem Herzen trug und nur noch einen Weg finden musste, um es zu erreichen. Ich wurde von Tag zu Tag stabiler und machte ich mich nach knapp 2 Wochen sogar auf, um in einem nahegelegenen Supermarkt einkaufen zu gehen. Dies war der schönste Tag in meinem bisherigen Leben. Ein Tag, der jede Faser meines Körpers mit genug Mut und Kraft füllte, mich der Herausforderung Freiheit zu stellen und meinen neu gesetzten Plan in Angriff zu nehmen. Vor dem Supermarkt fielen mir bei einem meiner dann regelmäßig stattfindenden Besuche irgendwann einmal zwei junge Mädchen auf, die dort auf dem Parkplatz Videos mit ihren Handys drehten. Ich stelle mich ihnen kurz mit ein paar Lügen vor und versuchte mich dabei an all die Gespräche zu halten, die ich jahrelang im Fernsehen angeschaut hatte. Es war ein wenig holperig, aber meine stotternde Hilflosigkeit passte ganz wunderbar in die Geschichte, die ich ihnen erzählte. Nachdem sie mich ein wenig beruhigt hatten, erklärte ich ihnen, dass ich unter sehr strengen Eltern leiden würde, die mich nur selten ausgehen ließen und mir jeglichen Besitz von modernen Gerätschaften verboten hätten. Ich bat sie, mir ein Handy zu kaufen und den Umgang damit zu erklären, wozu sie sich auch sofort bereit erklärten. Wir trafen uns ein paar Mal und für ein kleines Taschengeld zeigten sie mir nicht nur wie ich ein Handy einrichten und benutzen konnte, sondern zudem noch wie das Internet funktionierte. Wir saßen dabei auf dem Parkplatz des Supermarktes, tranken Eistee und lachten, wie drei ganz normale Mädchen, wobei eines davon nur eine ungefähre Vorstellung genau dessen war. Ein paar weitere Tage vergingen und natürlich war ich bestimmt dem ein oder anderen Nachbarn in der Parker-Borrow Lane inzwischen aufgefallen, aber du weißt ja wie es hier so läuft: jeder kümmert sich um seinen eigenen Mist. Chestnut hatte so gut wie keine sozialen Kontakte und wenn sich jemand meldete, erzählte ich ihnen, dass er in irgendeinem Gefängnis gelandet sei, womit keiner was zu tun haben wollte. Ich konnte mich also frei bewegen, denn was die restliche Welt anging, existierte ich ja gar nicht. Finanziell kam ich ganz gut mit dem über die Runden, was Chestnut zurückgelassen hatte. Einen richtigen Job besaß er nicht und die illegalen Geschäfte, die er so erledigte, wurden meist mit Bargeld ausgezahlt. Natürlich würde dieses irgendwann aufgebraucht sein, aber darum wollte ich mir Gedanken machen, wenn ich meinen eigentlichen Plan umgesetzt hatte, denn der stand bei mir an oberster Stelle, gleich einem Leuchtfeuer, das mich durch die dunkelste Nacht führte. Du warst Teil dieses Plans und einen Großteil dessen, was ich wissen musste, um ihn umsetzen zu können, fand ich in deinen Unterlagen, die du zurückgelassen hast: deinen Namen, deine Sozialversicherungsnummer, ein paar Fotoalben. Ich erzählte den beiden Parkplatz-Mädchen, dass ich einen Garagenverkauf veranstalten wollte und bat sie darum, ihn so online zu bewerben, dass du auf jeden Fall davon mitbekommen würdest, natürlich ohne dass den beiden Mädchen klar war, was sie damit in Gang setzen würden. Alles was mir dann noch zu tun blieb, war auf deine Rückkehr zu warten, um dir das Handy unter die Nase zu halten, was dafür sorgen würde, dass du mir den eindeutigen Beweis dafür lieferst, dass du nicht nur von dem Verlies, sondern tatsächlich auch von meiner Mutter darin gewusst hast!“ Libby sprang auf. Jedoch gaben ihre Beine nach wie warmer Pudding und sie prallte mehrfach gegen die Wände und Regale des kleinen Verlieses, als sie versuchte zum Ausgang zu kommen. Ihre Knochen brachen laut auf und zersplitterten, als sie sich das rechte Handgelenk brach, weil sie mit voller Wucht gegen die Tür prallte, die jetzt jedoch fest verriegelt war. Heulend und vollkommen entkräftet sackte sie zusammen. Ein wildes Feuerwerk entfachte. Sie schloss die Augen und sah farblose Explosionen all ihrer psychischen Konflikte und innerer Spannungen, die von ihrem schlechten Gewissen angetrieben wurden. Eine tiefe Ohnmacht brach über sie herein, die sicherlich mehrere Stunden gehalten hätte, wenn sie nicht plötzlich etwas an ihrer gebrochenen Hand bemerkte, das sich direkt neben ihr auf dem Boden befand. Francine musste es in die Zelle geworfen haben, kurz bevor sie die Tür heimlich für immer verschlossen hatte. Als Libby die Augen für einen kurzen Moment öffnete, sah sie vor sich im Schmutz drei blank gelutschte Olivenkerne liegen.

0

Libby, wenn mein Plan aufgeht, dann endet deine bisherige Reise genau hier und eine neue beginnt. Aus eigener Erfahrung kann ich dir versprechen, dass sie deinen Verstand in Stücke reißen wird und zwar so weit und so oft, dass du irgendwann gar nicht mehr sicher sein wirst, wer du überhaupt bist. Sie wird dir alles nehmen und dein Ich in Flammen aufgehen lassen und dann wirst du feststellen, dass genau das dein kostbarster Schatz gewesen ist. Meiner wurde mir lange verwehrt. Die Taten deines Ehemanns und deine eigenen haben nicht nur das Leben meiner Mutter zerstört, sondern sie haben dazu geführt, dass hier unten ein formloses, hilfloses, verlorenes Ding geboren wurde, das fast 20 Jahre lang auf der Suche nicht nur nach Freiheit und Erlösung, sondern auch nach seiner eigenen Identität gewesen ist. Aber wenn du diese Zeilen hier liest, dann lasse dir gesagt sein, dass ich genau dies nun gefunden habe. Ich bin jetzt frei. Ich bin erlöst. Und ich weiß endlich auch ganz genau wer ich bin: Mein Name ist Francine … und ich bin die Rache meiner Mutter!

 

 

5 thoughts on “Zwischen Hell und Dunkel

  1. … ich verstehe gerade gar nichts mehr…

    Wie kann es sein, dass so eine brillant geschriebene Geschichte es nicht ins Buch geschafft hat? Und wo sind eigentlich diese 1000 roten Herzen, die diese Geschichte verdient hat?!
    Lieber Marco, ganz großes Kino! Mehr habe ich nicht zu sagen. Punkt.

    LIKE!

  2. Hallo Marco,
    Wirklich eine krasse Geschichte.
    Klasse Aufmachung mit den herunterzählenden Kapiteln, das macht es mega spannend.
    Dein Schreibstil gefällt mir auch sehr gut und so detaillierte, außergewöhnliche Beschreibungen, wie mit den Olivenkernen, gehen mir durch Mark und Bein. Sehr guter Einfall, mega gut recherchiert.
    Auch wenn der Inhalt sehr krass ist und mich wirklich geschockt zurück lässt… Wäre nicht ganz das, was ich lesen würde, bin ich froh, dass ich diese Geschichte gelesen habe.
    Ich verstehe nicht, warum hier so wenig Likes und Kommentare sind. Ich hoffe für dich, dass sich das noch ändert.

    Liebe Grüße,
    Jenny /madame_papilio (Nur ein kleiner Schlüssel)

  3. Hallo Marco,
    ich habe im Juli – Der Beweis- gelesen.
    Diese Geschichte ist ganz anders, aber beide sind unglaublich gut!!!
    Leider haben viel zu wenig Personen sie entdeckt, aber großes Kompliment an dich, für die wortgewaltigen Bilder, die du erschaffst.
    Alles Gute
    Jana (Strafe)

Schreibe einen Kommentar