skueblerAufgespürt

Nur mal eben kurz. Von wegen. Nur mal eben kurz hatte sie zum Supermarkt fahren wollen, weil ihr plötzlich eingefallen war, dass sie noch gar nichts für Ostern eingekauft hatte. Das war mal wieder typisch. Alles andere war in den vergangenen Tagen wichtiger gewesen. Und jetzt war es Donnerstag vor Ostern und sie hatte weder Kaffee im Haus, noch Eier. Von Schokohasen oder Gebäck für die Kaffeetafel ganz zu schweigen.

Also war sie losgerast. Eine Stunde, bevor die Läden schlossen. Die Straßen waren brechend voll. War ja klar. Offenbar hatten die meisten Menschen in ihrer Stadt die vergangenen Tage ähnlich schlecht geplant wie sie und mussten jetzt auf den letzten Drücker los. Es schien, als sei ihre gesamte Nachbarschaft auf den Beinen, um die letzten Besorgungen für die Feiertage zu erledigen. Es bildeten sich Staus, wo sonst keine waren. An der Kreuzung zu ihrem Stammsupermarkt hatte sie eine gefühlte Ewigkeit warten müssen. Fünf Ampelphasen, bis sie endlich abbiegen konnte. Als sie mit ihrem Kombi über die Kreuzung huschte, war es fast schon wieder rot. Dunkelgelb hieß das früher bei ihr immer.

Auf dem Parkplatz vor dem Laden war ebenfalls die Hölle los. Alles war voll. Auf der Suche nach einem freien Platz war sie Schlangenlinien gefahren. Ständig stand ein Fußgänger im Weg oder es ragte ein Einkaufswagen auf die Fahrspur. Und immer wieder rote Rücklichter, gelbe Blinker und unvorsichtig ausparkende Autos, die sie zu rammen drohten.

Nachdem sie endlich einen Parkplatz gefunden hatte, drehte sie den Motor aus und ließ sich im Autositz zurückfallen. Kurz die Augen schließen und durchatmen.

Ganz ruhig, sagte sie zu sich selbst. Es ist doch nur Ostern. Eigentlich etwas schönes.

Das Einkaufen an sich war vergleichsweise schnell erledigt. Sie wusste genau, was sie wollte und wo im Laden alles zu finden war. Die Gänge waren eng. Überall standen Sonderangebote mit Osterkrempel. Süßigkeiten, Backzutaten, Alkohol. Dazwischen alles vollgestopft mit Menschen. Doch sie ging zielstrebig durch die Reihen, fand alles, was sie brauchte und füllte langsam ihren Einkaufswagen.

Und nun stand sie hier an der Kasse und es war das reinste Chaos.

In weiser Voraussicht hatte der Marktleiter offenbar genug Personal eingeteilt und alle fünf vorhandenen Kassenposten besetzt. Doch das war bei weitem nicht genug. Die Warteschlangen reichten bis in den Drogeriebereich. So etwas hatte sie hier noch nie erlebt.

Die Stimmung unter den Wartenden war gereizt. Sie selbst beobachtete einen Streit vier Einkaufswagen vor sich. Ein Kunde versuchte, das Regal mit dem Hundefutter zu erreichen, das allerdings von einem anderen in der Warteschlange versperrt wurde. Es entbrannte ein Wortgefecht darüber, wer jetzt zur Seite gehen musste und wer nicht. Der Kunde in der Warteschlange klammerte sich immer fester an seinen Wagen und positionierte ihn wie einen Schutzschild vor sich. Wie zwei Römer im Streitwagen standen sich die beiden gegenüber und keiner wollte einen Millimeter nachgeben. Erst als etwas Bewegung in die Warteschlange kam und sich von selbst eine kleine Lücke auftat, entspannte sich die Situation wieder.

Nach und nach rückte sie immer weiter vor. Einkaufwagen klapperten, die Kassenscanner piepten, Kinder quengelten. Irgendwo klingelte ein Handy. Eine wahre Supermarktsymphonie, dachte sie.

Wieder ging es einen Schritt voran. Zwei Wagen vor ihr legte ein älterer Herr seine Waren auf das Band.

„67,13“, sagte die Kassiererin zu dem Kunden ganz vorne in der Schlange. Der Glückliche hatte es gleich geschafft.

Erneut klingelte ein Handy. Diesmal lauter und näher dran. Zweimal. Dreimal. Viermal. Will da niemand rangehen? Sie blickte sich um, konnte die Quelle aber nicht ausmachen. Niemand hatte ein Telefon am Ohr. Das Klingeln verstummte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit war sie endlich an der Reihe und konnte ihre Waren aufs Kassenband legen. Gleich würde sie bezahlen und dann war sie hier wieder raus. Mittlerweile dauerte das Anstehen schon länger als das eigentliche Einkaufen.

Wieder riss sie das Klingeln eines Handys aus den Gedanken. Der gleiche Klingelton wie eben, nur jetzt direkt neben ihr. Sie drehte den Kopf und stutze. Konnte es sein, dass der Schokoriegel dort im Regal klingelte? Sie schaute genauer hin und entdeckte ein Handy zwischen den Süßigkeiten. Sie nahm es in die Hand und schaute auf das Display. Der Klingelton schien nun durch den ganzen Supermarkt zu dröhnen.

„Jetzt gehen Sie endlich ran, verdammt!“, schnauzte der Mann hinter ihr sie an.

Erschrocken blickte sie ihn an. Dann wieder auf das Handy. Irgendetwas stimmte hier nicht. Der Name auf dem Display war ihr durchaus bekannt. Doch das konnte gar nicht möglich sein. Dieser Anruf konnte unmöglich für sie sein. Und dann auch noch von ihm!

Sie drückte auf den grünen Hörer und das Klingeln verstummte. Wie in Zeitlupe nahm sie das Handy ans Ohr.

„H… Hallo?“, sagte sie.

Doch sie hörte nichts weiter als ein regelmäßiges Tuten. Das Zeichen dafür, dass am anderen Ende offenbar gleich wieder aufgelegt worden war.

Fassungslos blickte sie wieder auf das Handy in ihrer Hand. Das Display war nun wieder schwarz, als wenn nie etwas gewesen wäre.

Sie wollte das Gerät gerade wieder zurück zwischen die Schokolade legen, da gab es erneut ein Geräusch von sich. Zwei Pieptöne kurz hintereinander als Signal dafür, dass eine Kurzmitteilung eingegangen war. Sie drückte auf „OK“. Die Nachricht öffnete sich. Und sie wäre fast in Ohnmacht gefallen.

Sie musste einen Schrei unterdrücken und sich mit der anderen Hand am Regal festhalten. Das Blut schoss ihr in den Kopf und ihr wurde schwindlig. Sie hatte nur noch ein Rauschen in den Ohren und ihr wurde unglaublich heiß. Entgeistert blickte sie auf das Handy. Das konnte doch unmöglich wahr sein!

Die Nachricht, die sie geöffnet hatte, enthielt keine Worte, sondern nur ein einziges Bild. Ein Foto, das grausamer nicht sein konnte, verkörperte es doch alles, was sie in den vergangenen Jahren tief in sich vergraben hatte. So tief, dass es mittlerweile fast schon nicht mehr wahr war. Das Foto hatte eigentlich nie wieder an die Oberfläche kommen sollen. Doch nun stand sie hier mitten im Supermarkt und wurde zwischen unzähligen fremden Menschen unvermittelt von ihrer Vergangenheit eingeholt.

Das Foto zeigte einen Mann, den sie schon fast vergessen hatte. Seinen Namen hatte sie eben auf dem Handydisplay gelesen. Das war unmöglich! Denn dieser Mann auf dem Foto erfreute sich nicht gerade bester Gesundheit. Mit anderen Worten: Er war mausetot. Ermordet. Blutüberströmt. Und bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Von ihr. Sie hatte das getan. Vor einer gefühlten Ewigkeit. Aus einer Notlage heraus. Das hatte sie sich jedenfalls immer eingeredet.

Über ihr Schicksal hätte eigentlich ein Richter entscheiden müssen. Doch sie war nie gefasst worden. Sie war unentdeckt geblieben und soweit sie wusste, führte auch keine Spur der Polizei zur ihr.

Sie war geflohen. Noch in der selben Nacht, in der es passierte. Sie hatte die Leiche in einem abgelegenen See versenkt. Danach hatte sie die Koffer gepackt, sich ins Auto gesetzt und erst wieder angehalten, als der Tank leer war. So war sie in diesem kleinen Städtchen gelandet. Verschlafen genug, um von der Bildfläche verschwinden zu können, aber groß genug, um nicht mit jedem Bekanntschaft schließen zu müssen.

Vier Jahre war das nun schon her und in letzter Zeit hatte sie kaum noch an diese grausame Nacht denken müssen. Sie hatte sich hier ein neues Leben aufgebaut. Hatte einen guten, unauffälligen Job, ein paar lockere Freundschaften und eine unscheinbare Wohnung im zweiten Stock eines gewöhnlichen Wohn- und Geschäftshauses in einer Nebenstraße. Alles schien sich gerade wieder zu beruhigen. Und jetzt das.

In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Es konnte sich hierbei doch nur um einen schlechten Scherz handeln, oder? ODER?!

Doch wer konnte wissen, dass sie sich ausgerechnet jetzt hier befand? An diesem Ort? In diesem Supermarkt? War ihr jemand möglicherweise schon seit längerem auf der Spur? Wurde sie beobachtet?

Sie schreckte hoch und war wieder in der Gegenwart. Der Mann hinter ihr blickte sie immer noch finster an. Doch er wollte nur, dass sie ein Stück weiter ging, damit er seine Sachen auf das Band legen konnte.

Gehetzt schaute sie sich um. Wurde sie in diesem Augenblick etwa beobachtet? Es musste so sein. Wie sonst hätte das klingelnde Handy ausgerechnet sie erreichen sollen?

Sie bekam Todesangst. Es schnürte ihr buchstäblich die Kehle zu und Panik stieg in ihr hoch.

Jetzt nur nicht verrückt werden, sagte sie zu sich selbst. Nicht ausrasten, nichts Unüberlegtes tun. Kurz durchatmen. Es ist Ostern und alle freuen sich.

Unauffällig schob sie das Handy in ihre Jackentasche und wandte sich zum Bezahlen der Kassiererin zu. Sie verstaute ihre Einkäufe in der Stofftasche und versuchte, nicht allzu hektisch zu wirken. Sie bekam sogar ein Lächeln hin und wünschte der jungen Frau zum Abschied frohe Feiertage.

Betont unauffällig steuerte sie auf den Ausgang des Supermarktes zu. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie verstohlen die Umgebung. Wurde sie verfolgt? Kam ihr jemand zu nah? Würde sich gleich jemand auf sie stürzen?

Nichts passierte. Unbehelligt erreichte sie ihr Auto. Ihre Einkäufe schleuderte sie unachtsam auf die Rückbank. Die Tasche würde sie heute sowieso nicht mehr auspacken.

Sie ließ den Motor an und verließ den Parkplatz auf dem gleichen Weg, wie sie gekommen war. Wieder blickte sie verstohlen nach rechts und links aus den Autofenstern. Niemand schien von ihr Notiz zu nehmen. Auch im Rückspiegel war nichts verdächtiges zu erkennen.

An der Kreuzung musste sie wieder einige Zeit bei Rot warten. Als die Ampel auf Grün sprang, gab sie Gas. Sie achtete nicht auf die Geschwindigkeit. Jetzt war sowieso alles egal. Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie wusste, was nun zu tun war. Tief im Innern hatte sie immer gewusst, dass dieser Moment eines Tages kommen würde.

Während sie durch die Abenddämmerung raste, versuchte sie sich daran zu erinnern, wo sie ihren fertig gepackten Notfallkoffer gelassen hatte.

2 thoughts on “Aufgespürt

  1. Hallo?
    Was ist denn hier los?

    Du hast eine großartige Geschichte geschrieben.

    Herzlichen Glückwunsch zu deiner Story.
    Warum bitte sehr hast du erst so wenige Herzen und Kommentare?

    Du müsstest schon mindestens 10 x so viele haben.

    Das meine ich ernst.

    Man spürt deutlich und bereits nach wenigen Sätzen, dass du DEFINITIV viel Erfahrung im Bereich des Schreibens hast.

    Deine Grundidee ist gut gewählt und ordentlich dargestellt. Die Handlung hat mich überzeugt und dein Talent ist nicht zu übersehen.
    Das Finale ist wirklich toll angelegt und überraschend.

    Ich mag deinen Schreibstil sehr.
    Man spürt deutlich, wie sehr du die Geschichte magst.

    Deine Protagonisten sind hervorragend angelegt und die Dialoge wirken realistisch und echt.

    Danke für deine tolle Geschichte.

    Sie hat mich gefesselt und berührt und perfekt unterhalten.

    Ich wünsche dir und deiner Geschichte alles Gute und viel Erfolg.
    Und noch viel mehr Likes und Herzchen.
    Und vor allem noch viele bezaubernde Kommentare.

    Denn du hast es dir verdient.

    Ich wünsche dir nur das Beste der Welt.
    Und bitte schreib weiter.
    Denn du kannst es.
    Ach ja, ich gebe dir sehr gerne ein Like.

    Ganz liebe Grüße,
    Swen Artmann (Artsneurosia)

    Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, auch meine Story zu lesen.
    Ich würde mich sehr freuen.

    Meine Geschichte heißt:
    “Die silberne Katze”

    Ich danke dir.
    Swen

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