Marina SchallAus der Asche

1

Oh Jeaney.
Wie du dahingleitest, so wunderschön und leicht. So stark und so mächtig.
Was dir wohl gerade durch den Kopf geht? Auf dem Weg zur Villa, in diese Höhle.
Sollte ich besser Hölle sagen?
Dich gleich darauf verschlingend, in den Tiefen seiner dunklen Seele.
So unheimlich verletzlich und naiv.
Ein verlassenes Reh auf einer hell erleuchteten Wiese, weit weg vom Schutz des dichten, dunklen Waldes.
Unsicher, welcher Weg dich beschützen wird und hinter welcher Abzweigung Gefahr lauert.
Glaub mir, sie ist hier. In solch greifbarer Nähe. Spürst du es? Siehst du sie?
Und egal, für welchen Weg du dich entscheiden magst, ich werde da sein.
Auf dich warten.
Dich empfangen und umarmen.
Dich trösten.
Dich töten.

 

2

Eigentlich war es eine recht schöne Villa. Umhüllt von einem weitläufigen Rasen im englischen Stil. Vereinzelte Baumgrüppchen, die die Strenge des grünen Teppichs hier und da auflockerten.
Kies knirschte unter ihren Füßen, als sie auf das Haus zugingen.
Jeaney wollte auf keinen Fall Aufmerksamkeit erregen. Heute verfluchte sie die Enge der Jeans, durch die sich jetzt die Umrisse des Handys zeichneten. Es musste einem der Männer beim Training aus der Tasche gefallen sein.
Das Mauerwerk der Villa war dunkel, doch die bodentiefen Fenster ließen viel Licht in das Innere hinein, ein freundliches Gegengewicht.
Sie kamen dem Eingang mit jeder Verandastufe näher.
Jeaney hätte sich vielleicht wie eine Hofdame fühlen können, die ihr geschütztes Zuhause betritt, um weiter ein leichtes und unbeschwertes Leben zu führen.
Wäre da nicht die Pistole im Anschlag, deren kalter Lauf selbst durch ihren dicken Pulli zu spüren war.

Sie, das waren Jeaney, ihr Erzeuger und seine drei Leibwächter.
Die Tür öffnete sich geräuschlos und es ertönte der unnatürlich hohe Singsang der Haushälterin.
„Einen wunderschönen guten Morgen! ich hoffe, Sie hatten wieder einen sehr…“
„Frau Doutry,…“, er sprach, während sie an ihr vorbeigingen, „…vielen Dank für Ihre Mühen. Stören Sie uns für den Rest des Tages nicht.“
Verwirrt hob Jeaney den Kopf. Das war anders. Und auch, dass sie Jeaney direkt in sein Büro führten. Sämtliche Fenster blieben hinter zugezogenen Gardinen in ihrer Funktion verstummt.
Während der eine die Stehlampe in der Ecke anmachte, schlug ein anderer die schwere Holztür hinter ihnen zu.
Sie zuckte zusammen. Ok, das alles war definitiv anders.
Jeaney spürte, wie ihre Muskeln verkrampften, hoch bis zu ihrem Nacken, der es ihr nun unmöglich machte, ihren Blick von ihrem Erzeuger abzuwenden.
Sämtliche Hände packten Jeaney an den Schultern. Blitzschnell warfen sie sie rücklings auf den steinernen Boden.

Knack.

Stille.
Ihr Herz blieb stehen.
Gleich würden sie das Handy entdecken.

Die Männer nutzten ihren Schreckmoment und fixierten sie.
Hilflos wie eine Schildkröte auf dem Panzer, gezwungen ihm ins Gesicht zu schauen.
Sie sammelte ihre ganzen Kräfte, versuchte, sich gegen diese Kerle zu stemmen!
„Ach Schatz, muss ich es dir immer wieder erklären? Verschwende nicht deine Kraft.“ Er tat, als würde er ernsthaft nachdenken. „Aber das ist gut, mehr Adrenalin.“
Sie war so wütend! Ihr gesamter Körper schmerzte vor Anspannung.
„Sag verdammt nochmal was du willst!“ Ihre Zähne knirschten bei jedem einzelnen Wort, die Augen fest zusammengekniffen.
Sein Grinsen wurde nur noch breiter. Er fischte amüsiert eine Flasche Bourbon aus der Bar und genehmigte sich einen großen Schluck daraus.
Auf einmal klatschte er sich an die Stirn.
„Ach Mensch, fast vergessen!“ Er hob ein Blatt vom Schreibtisch auf und gab es dem Kerl, der sich in seiner Nähe befand.
Dieser, breiter und jünger als die anderen, Tim, glaubte Jeaney, kam mit gemächlichen Schritten auf sie zu.
Einer der anderen beiden bückte sich zu ihr hinunter. Der Druck auf ihrer Brust verstärkte sich gefährlich. Während sie nach Luft japste, streichelte er ihr zärtlich über ihre Wange, ihren Hals.
Es war so erniedrigend.
Es schien, als brauchte dieser Tim eine Ewigkeit zu ihr.
Währenddessen fuhr ihr Erzeuger fort.
„Du wirst gleich hoffentlich erkennen, wie ernst die Lage ist.“
Auch der Große hockte sich nun zu ihr. Ihr Hals schwoll an, die Luft wurde knapper.
Langsam drehte er das Blatt um. Ein Foto.
Sie riss sich los, diese Kraft war gewaltig! Und spuckte ihm vor die Füße!
„DU ELENDER…!“
Ihr Satz wurde ruckartig unterbrochen, als sie mit voller Wucht wieder zurückgeschleudert wurde. Ihr Kopf knallte auf.
„Tyler! Die Fesseln!“
Sie versuchte sich zu drehen, wandte ihren Körper hin und her.
„Lasst sie gehen!“ Mit jedem Wort wich das Adrenalin nunmehr einem tiefen Schluchzen, sie konnte nicht mehr.
Die Griffe verschärften sich.
„Das euch das nicht noch einmal passiert, ihr Waschlappen! Wofür habt ihr dieses Spezialtraining absolviert, he?!“
Jetzt endlich sah sie ihn an, von unten herauf. Sie wollte wissen, ob er wirklich jegliche Menschlichkeit verloren hatte.
Sein kalter Blick untermauerte seine Entschlossenheit.
Kraftlos fragte sie, was sie tun sollte. Sie wollte dieses Foto nehmen und ihm damit einen Schnitt durch sein verdammtes Grinsen ziehen.
Doch ihre Arme waren festgeschnallt, wie bei ihrer Mutter auf diesem schrecklichen Bild. Kniend in der Mitte eines kaltgemauerten Kerkers.
Dann fuhr er amüsiert fort, schaute dabei jeden Einzelnen an.
„Unsere schöne Stadt besitzt viel Geld. Geld, das die Menschheit nicht braucht, in etwas Sinnvolles zu stecken, in die Wissenschaft – das ist unser Ziel. Du kannst dir nicht vorstellen, wie teuer du warst, mein Schatz.“ Er stieß einen tiefen Seufzer aus. „Wenigstens das, was du für später brauchst, war ein voller Erfolg.“ Mit den nachfolgenden Worten wandte er sich wieder an seine Leibwächter.
„Bereitet sie auf heute Abend vor.“

 

3

Mit dem Handy in der Hand saß sie auf dem Bett.
Wen sollte sie anrufen? Die Polizei? Die würde ihr bestimmt jedes einzelne Wort dieser unfassbaren Geschichte glauben.
Und doch ist sie wahr.
Aber so oder so, es spielte alles keine Rolle ohne die Gewissheit, ob ihre Mutter bei der ganzen Sache lebendig rauskommen würde.
In Gedanken versunken öffnete sie die Galerie. Sie wollte wissen, wem von diesen Kerlen das Handy gehörte.
Als sie aus den aktuellsten Fotos nicht schlau wurde, scrollte sie zurück. Ihr Finger stoppte, noch bevor sie überhaupt realisieren konnte, wer sie da anlächelte.
Das Handy fiel zu Boden.

Das konnte nicht sein!
Sie hatte dieses Handy noch nie gesehen, geschweige denn, sich fotografieren lassen!
Klar, dieses Bild konnte ja auch auf das Handy geladen worden sein, versuchte sie sich zu beruhigen.
Aber Lachen?!
Es gab keinen einzigen Moment in ihren Erinnerungen, in dem sie glücklich war.
Sie hob das Handy wieder auf.
Aber diese Jeaney lächelte. Eindeutig.
Und diese Jeaney war im selben Alter wie sie. Ihr stockte der Atem.
Hatte sie eine Zwillingsschwester?

Sie ging Foto für Foto zurück. Jedes zeigte Freude. Beim Kuchen essen mit einer Frau, die dieser Jeaney sehr vertraut schien, dann neben einem glücklichen jungen Mann.
Wo war sie? Lebte sie noch?
Sie blieb an einem weiteren Bild hängen.
Nein, das ist absolut unmöglich.
Sie führte das Handy näher an ihre Augen, als würde sie dadurch klarer sehen.
Aber nichts passierte. Es strahlte ihr weiterhin unverändert entgegen.
Diese Jeaney im selben Alter, ihr Erzeuger daneben jedoch um einiges jünger als heute.
Aber es war eindeutig er. Da gab es keinen Zweifel.
Oder doch? Ein jüngerer Bruder? Ein Sohn?
Ihre Gedanken kreisten wirr umher.
Nicht in der Lage, sich zu konzentrieren und eine plausible Erklärung zu finden.
Um sie herum vermischte sich alles zu einer bunten Masse.
Jeaney fing an, ihren Verstand zu verlieren.
Und merkte dabei nicht, wie sich die Tür zu ihrem Zimmer öffnete.

„Das bist du nicht.“
Dieser Satz riss sie unsanft zurück in die Realität.
Die bunte Masse wich wieder den ihr bekannten Konturen.
Und den Konturen von einem der Männer, der nun plötzlich direkt vor ihr stand.
Tyler.
„Und ich hätte gerne das Handy.“
Ihr Mund stand offen.
Sie rechnete mit allem.
Dass er sie an den Haaren packen, sie die Treppe runterzerren, nein, runterstoßen würde, direkt vor die Füße ihres Erzeugers.
Dass sie in Ketten gelegt und im Kerker neben ihrer Mutter versauern würde.
Er packte ihren Arm und riss sie hoch. Sie stand jetzt direkt vor ihm. Die Angst wuchs.
Unsanft nahm er ihr das Handy ab und beugte sich hinunter an ihr Ohr, sie selber unfähig, sich zu bewegen.
„Das bist nicht du auf den Fotos,…“ wiederholte er flüsternd und erstickte auch ihren nächsten Gedanken, „… und du bist auch nicht mit ihr verwandt. Und dieses Handy hast du nie gesehen, verstanden?“
Sie konnte es nicht fassen.
Bevor sie in irgendeiner Weise reagieren konnte, steckte er das Handy weg und zog sie Richtung Tür.
„Komm jetzt, es geht los.“
Der Ton in seiner Stimme nahm ihr jeglichen Raum, ihre Fragen laut auszusprechen.
Vielleicht war es auch gut so, denn sie war sich nicht sicher, ob es ein Feind oder Verbündeter war, der sie nach draußen zu den anderen führte.
Sie war sich über rein gar nichts mehr sicher.

4

Es setzte bereits die Dämmerung ein, als sie Jeaney im Wagen festketteten.
Ihr blieb nur noch der Blick durch die abgedunkelte Scheibe auf der rechten Seite.
Was war da gerade passiert?
Sie schloss die Augen, spürte, wie das Auto den ebenen Asphalt verließ und in einen Waldweg bog.
Ihre Finger suchten nach dem Knopf. Die Scheibe fuhr herunter. Natürlich nur einen kleinen Spalt breit. Eine weitere der vielen „Sonderausstattungen“.
Sie sog die frische Waldluft ein, feucht vom Regen.
Freiheit. So greifbar nah.
Wären da nicht die Fesseln.
Und ihre Mutter.
Eigentlich waren die Fesseln überflüssig.

Der Wagen kam leise zum Stehen. Sie hatten den Stadtrand erreicht. Ohne ein Wort stiegen die Männer aus. Einer von ihnen kettete Jeaney ab.
Schnalle für Schnalle.
Als würde sie sich wehren.
Als läge ihr nichts an ihrer Mutter.
Sie stieg aus.
Ein spitzer Schrei entfuhr ihr, als Tyler ihr eine Pistole in die Hand drückte.
Sämtliche Blicke bohrten sich wütend in ihre Augen.
Schließlich brach ihr Erzeuger die Stille.
„Falls jemand meinen Plänen in die Quere kommen sollte, egal wie, zöger nicht!“
Alles bäumte sich in ihr auf. Ihr Hass wuchs ins Unermessliche.

Mit aller Kraft versuchte sie sich auf die nächsten Schritte zu konzentrieren.
Mit übergestülpter Maske ging sie auf das Bankgebäude zu.
Wissend, das sich darin ein schwerbewaffneter Wachmann befand. Dass ihre Waffe schneller auf seinen Kopf gerichtet war, als er es überhaupt registrieren würde.
Die meterdicke Tür des Tresors ging geräuschlos auf.
Und genauso geräuschlos verschwand Jeaney mit Taschen voll Geld wieder in der Dunkelheit.

Natürlich hätten das auch die Männer machen können, aber Jeaney war um einiges stärker und schneller als es einer dieser Kerle je sein könnte. Hier war das Experiment erfolgreich. Trotzdem galt es als gescheitert, denn sie fühlte.
Nicht nur Hass und Gleichgültigkeit, nein.
Sie fühlte auch Gerechtigkeit und Schmerz.
Wäre da nicht das Foto, das Jeaney wieder Tränen in die Augen trieb.
Sie hätte sich gewehrt. Und sie wusste, sie wäre erfolgreich gewesen.

„Hier.“
Jeaney schmiss ihm die Taschen vor die Füße.
Einer der Kerle hob sie hoch und verstaute sie stumm im Kofferraum.
„Sehr gut.“
Wie ihr Erzeuger das sagte, etwas stimmte hier nicht.
Und während ihr ein unbehagliches Gefühl den Rücken hochkroch, bestätigte er ihren Verdacht. „Lasst uns keine Zeit verlieren!“

Tyler steuerte den Wagen nicht zurück unter die schützende Abschirmung des Waldes.
Mit zittriger Stimme setzte sie zum Reden an, doch ihr Erzeuger kam ihr zuvor.
„Offene Rechnungen müssen einmal beglichen werden und da du, Jeaney, deine zarten Hände wieder freihast, wird es Zeit, sie richtig dreckig zu machen.“ Mit dem letzten Satz drehte er den Rückspiegel so, dass er ihr direkt in die Augen sehen konnte.
In ihrem Kopf spielte sich plötzlich alles Mögliche ab, dabei versuchte sie einen Gedanken ganz besonders wegzudrücken.
Sie schüttelte den Kopf. Nein, das würde er nicht verlangen.
Und während er sprach, schaute sie aus dem Fenster. Die einzelnen Lichter der Straßenlaternen rauschten immer schneller an ihnen vorbei und verschwammen nun zu einem endlos langen Strahl.
Er sprach es aus wie kochen, reden, fahren. Nur ein Wort.
Und er meinte es ernst.
Töten.

Als sie auf das Grundstück fuhren, war es bereits kurz nach Mitternacht. Der Hinterhof war in ein schwaches Licht getaucht. Wie jeder andere Casinobesitzer legte auch dieser viel Wert auf Anonymität.
Jeaney weigerte sich.
Sie weigerte sich auszusteigen, reinzugehen, Schulden einzutreiben, nur um dem Besitzer dann feige eine Kugel in den Kopf zu jagen.
Sie knallte ihm wütend die Worte an den Kopf und endete schreiend mit der Frage, wieso ausgerechnet sie das machen sollte?!
Er drehte sich auf seinem Sitz um und antwortete ihr provokativ. „Noch ist es nicht zu spät für eine Korrektur.“
Sie verstand. Darum ging es hier.
Abschalten der Menschlichkeit.

Sie mussten Jeaney an den Haaren zerrend aus dem Wagen manövrieren, so sehr wehrte sie sich.
Widerwillig steuerte sie auf den Eingang zu, mit jeglichen auf sie gerichteten Waffen im Rücken.
Sie wäre nicht gegangen, auf diesen bunt erleuchteten Eingang zu, sie hätte sich erschießen lassen, doch diese Dreckskerle hatten sie in der Hand.
Würde sie gleich zur Mörderin werden?

 

5

Es war leichter als erwartet, denn sie tauchte unter im regen Treiben. Überall wurde gehofft, geflucht und gelacht. Nur eine einzige Tür lag ruhig und verlassen im hinteren Teil des Gebäudes, nahezu vollständig verdeckt von einem aufgeständerten Banner.
Mit einem Griff zur Waffe vergewisserte sie sich, dass diese einsatzbereit war.
Angst stieg in ihr auf.
Auf dem Weg dorthin rückten die vielen Lichter und Stimmen in den Hintergrund.
Mit einem letzten Blick über die Schulter öffnete sie die Tür und trat ein.

Sie hatte ein verrauchtes Zimmer mit einem Spieltisch erwartet, doch das hier war mindestens genauso klischeehaft.
Da saß er, turtelnd mit einer der Angestellten.
Sichtlich genervt von der unangemeldeten Unterbrechung sah er auf.
„Hey Mäuschen, hast du dich in der Tür geirrt? Die Umkleide ist dort.“ Er zeigte mit einem Finger zur Spielhalle.
„Ich arbeite hier nicht.“
„Das solltest du aber. Bei deinem Aussehen könntest du viel Trinkgeld verdienen.“ Er lächelte sie an, sein Schoßhäschen tat es ihm gleich. Sie schien unter Drogen zu stehen.
Jeaney wollte keine Zeit mehr vergeuden. „Es geht um Geld, ja.“
Er deutete ihren Satz und Ton richtig, zumindest legte er das gekünstelte Lächeln ab.
„Los Anna, deine Schicht ist noch nicht um.“
Als Jeaney ihr hinterherschaute, wunderte sie sich, wie diese Anna überhaupt noch in der Lage sein konnte, die Tür hinter sich zu schließen.
Während er sich auf dem Ledersessel hinter seinem Schreibtisch niederließ, verfolgte sie ihn mit ihrem Blick.
Jeaney zog die Waffe. Wie in Trance, als gehörte ihr die Hand nicht.
„Hey hey Mädchen!“
Die zuvor verschränkten Arme warf er jetzt schützend vor sich.
„Was wird das? Mach keinen Scheiß!“
Seine Atmung beschleunigte sich auf ein ungesundes Maß, während sie die Pistole langsam auf seine Stirn richtete.
„Hey, bitte! Was möchtest du? Sag was!“
Es machte ihr Angst. Wo war sie? Die Stimme der Vernunft?
Panisch blickte er in alle Richtungen. Er musste gemerkt haben, dass sie kurz abschweifte.
Sein Blick haftete auf der Schublade.
„Die bleibt geschlossen!“ Jeaney, wieder all ihrer Sinne mächtig, streckte den Arm durch. Eine Sekunde der Unachtsamkeit, das hätte fatal enden können.
„Das Geld von Rufus. Jetzt!“
Nach einem kurzen Moment voller Stille stieß er einen langen erleichternden Atemzug aus. Er wollte sich gerade hinunterbeugen, als Jeaney Stop! rief.
Blitzschnell hob er die Arme.
„Hey, hey, du willst das Geld? Es ist hier unter dem Tisch!“
Jeaney sagte nichts, deutete nur mit einem kurzen Blick wieder dorthin.
Er verstand und bückte sich, um im nächsten Augenblick mit je vier Geldbündeln in seinen Händen wieder aufzutauchen.
„Hier. Das ist alles seins. Bitte, nimm es! Damit sind wir quitt, oder?“
Der Schweiß floss seine Wangen hinab.
„Oder?“ Seine Stimme zitterte.
„Ich… Geht es um Zinsen? Ich kann was drauflegen und…“
„Nein.“
Sie ging auf ihn zu, nahm mit der freien Hand die Geldbündel und stopfte sie sich in die Taschen, Blick und Pistole weiterhin auf ihn gerichtet.
„Okay Mädchen, alles gut. Vergessen wir das jetzt einfach, ja? Du kannst die Waffe doch…“
Sie drückte ab.

 

6

Jeaney zitterte am ganzen Körper.
Das schummrige Casinolicht verschluckte sie und ihre blutbefleckte Kleidung.
Zu ihrem Glück waren alle hier krampfhaft damit beschäftigt, unauffällig zu bleiben.
Als Jeaney hinaus in die kalte Nachtluft trat, hoffte sie, keine lebensnotwendige Ader getroffen zu haben. Sie hatte bewusst in seine rechte Schulter geschossen, doch die Menge, die da herausspritzte, war gewaltig.
Himmel, lass ihn durchkommen, betete sie innerlich.
Die Männer warteten bereits mit verschränkten Armen auf sie. Als Jeaney vor ihnen stand, wurde sie eindringlich beäugt. Der Stumme nahm ihren rechten Arm und drehte ihn leicht zur einen, dann zur anderen Seite. Dabei drückte er eine Art Klebestreifen auf Haut und Stoff.
Testete er sie gerade etwa auf Schmauchspuren?
Er riss den Streifen ab und untersuchte ihn.
Ihr war schleierhaft, woher er diese Ruhe nahm.
Nervös verlagerte Jeaney ihr Gewicht.
Doch nichts regte sich, weder auf der Straße, noch im Gebäude.
Endlich blickte der Typ auf und nickte ihrem Erzeuger zu. Jegliche Anspannung löste sich und sie drängten Jeaney wieder ins Auto.

Die Anonymität der Stadt verschluckte sie und all die anderen, die sich zu dieser Zeit hierher verirrten.
Tief im Strom von Sorgen um ihre Mutter versunken, bemerkte sie das Scheinwerferpaar hinter ihnen nicht, das schon seit geraumer Zeit auf sie gerichtet war und nach Verlassen der Stadt immer näher kam.

Egal, was das wissenschaftliche Gequatsche um ACTN3 oder ACE zu bedeuten hatte und erst recht egal, für welche unmenschlichen Zwecke er sie so erschaffen ließ, das heute zeigte ihr die Möglichkeit zu handeln, zu entscheiden auf, ja, keine Marionette mehr zu sein.
Ein völlig absurder Gedanke kam ihr, als sie wieder an diese Jeaney auf den Handyfotos denken musste.
Wenn es schon möglich war, körperliche Leistungen neu zu definieren, noch bevor ein Baby überhaupt geboren wurde, konnten die Gene für das Aussehen dann auch gesteuert werden?
Ihr Herz schlug schneller.
Sie schüttelte heftig den Kopf, um diesen völlig unvorstellbaren Gedanken loszuwerden. Doch je mehr sie sich anstrengte, umso stärker schien er sich festzubeißen.
War sie etwa ein…? Weiter kam sie nicht.
Ein kräftiger Stoß riss sie aus den Gedanken.

Die Reifen drehten durch, stockten, drehten durch, im schnellen Wechsel. Die Männer schrien wild durcheinander.
Panik. Hektik. Wut.
„Halt das Lenkrad fest!“
„Ich versuchs ja!“
Sekunden vergingen, bis Tyler das Auto wieder unter Kontrolle brachte.
Er drückte das Gaspedal durch. Sie sah nach hinten.
„Tyler, schneller!“
Die Scheinwerfer hinter ihnen wurden größer.
„Es geht nicht, Mason!“
Dann knallte es immer und immer wieder. Sie versuchten diesen Verrückten abzuknallen! Jeaney hielt sich die Ohren zu, kniff die Augen zusammen und schrie.

Ein weiterer Stoß!
Der Wagen geriet ins Schlingern, diesmal heftiger und schneller.
Und mit einem letzten gewaltigen Aufprall schleuderten sie gegen die Felswand.
Alles drehte sich. Die Umgebung löste sich auf, verschwamm.
Und mit ihr auch Jeaneys Bewusstsein.

 

7

Etwas Kaltes drückte gegen ihre Wange. Asphalt.
Der Wind strich Haarsträhnen über ihre Haut, sanft wie Federn.
Wach auf, schien er ihr sagen zu wollen. Öffne deine Augen.
Sie gehorchte.
Langsam, Stück für Stück, wich die Dunkelheit einzelnen Schattierungen.
Geldscheine rieselten vor ihr hinab, seicht schwingend im tänzelnden Wind. Eines der Reifen hörte allmählich auf, sich zu drehen. Das Auto, es lag auf dem Dach. Ihre Augen schweiften weiter Richtung Wageninneres. Schlaffe Körper hingen in den Gurten.
Wach auf. Ihr Blick wanderte gemächlich zur Fahrerkabine.
Wo waren Tyler und ihr Erzeuger?
Jeaney konnte das Lenkrad nicht sehen, etwas versperrte ihr die Sicht.
„Wach endlich auf!“
Und mit diesem Satz trat er ihr in den Bauch, sie landete auf dem Rücken.
„Was…?“ Sie japste nach Luft. Ihr ganzer Körper verzerrte sich vor Schmerz.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ihn an. „Wer…?“
Als er sich langsam zu ihr hinhockte, sah sie sein Gesicht.
Ein bekanntes, nicht vertraut.
„Hallo Jeaney, endlich lernen wir uns kennen. Ich hätte da eine Frage an dich, bevor ich dem Ganzen hier ein Ende setze. Kann man sich eigentlich mit etwas identifizieren, was nie das Licht der Welt hätte erblicken dürfen? Kannst du?“ Er atmete tief aus, bevor er weitersprach. „Ich verrate dir ein Geheimnis. Ich konnte es nie.“
Warme Flüssigkeit sammelte sich in ihrem Mund.
Was meinte dieser Wahnsinnige damit?
Sie drehte sich zur Seite, stemmte sich auf ihre Knie, trotzte dem Widerstand in jeglicher Faser ihres Körpers. Sie musste weg.
Hier kniete sie nun, auf allen Vieren. Nicht fähig, irgendeine weitere Bewegung zu machen. Blut floss aus ihrem Mund. Weg hier!
Doch der Befehl kam nicht bei ihren Muskeln an.
Er trat wieder zu, diesmal kräftiger, hasserfüllter. Knack.
Sie drehte sich mehrmals um ihre eigene Körperachse, bis sie auf dem Bauch landete.
Zu schwach, um sich noch einmal hochzudrücken.
Jeaney verfolgte seine Füße, die sich langsam auf sie zubewegten.
Es tut mir Leid, Mutter.
Mit seinem nächsten Schritt trat er auf ihren Hals.
Knack.
Ein letztes Mal blickte sie hinauf. Sie erkannte ihn.
Und schloss die Augen.
Verschlungen von Dunkelheit.
Ein Schuss.

 

8

Strahlend weiß. So wunderbar warm und weich. Sie war im Himmel.
Es war so schön, federleicht. Gleich würde sie ihrem Schöpfer gegenübertreten.
Würde er sie hier wieder mit ihrer Mutter vereinen? Ein beruhigender Gedanke.
War er es überhaupt? Ihr Schöpfer?
Sie war frei. Sie hatte die Welt überwunden.
Eine Tür öffnete sich, ganz weit hinter Nebel. Da war sie. Ihre Mutter.
Langsam auf sie zuschwebend, durch den verschleierten Tunnel.
Oh Mama, bitte weine nicht. Auch Jeaneys Augen füllten sich mit Tränen. Wir sind doch wieder zusammen. Jeaney hob ihre Arme, sie würde ihre Mutter nie mehr loslassen.
„Das würde ich an deiner Stelle nicht tun.“ Eine männliche Stimme.
Jeaney verstand nicht.
Er trat heraus, der Nebel löste sich auf. Tyler!
Mama, hinter dir! Dreh dich um, lauf!
War er etwa auch…? Er sollte in der Hölle schmoren!
Wieso reagierte sie nicht?
Jeaney wollte auf ihn losgehen, ihrer Mutter Vorsprung verschaffen.
Wieso konnte sie sich nicht bewegen? Mama!
Panisch drehte sie ihren Kopf hin und her.
Plötzlich stand er direkt vor ihr und packte sie an den Schultern.
„Das solltest du erst recht lassen!“
Ihre Augen brannten, sie schienen herauszuquellen. Lass uns in Ruhe!
Ihre Stimme. Wieso konnte sie ihre Stimme nicht hören?
„Schatz,…“ ihre Mutter trat wieder hervor, „…hör auf ihn. Du musst dich schonen!“
Mich schonen? Erkannte sie den Ernst der Lage nicht? Wusste sie nicht, wer das da ist?
Sie würde sich schonen, wenn sie Tyler aus ihrer Nähe geschafft hat!
Er löste eine Hand und führte sie langsam an ihren Mund.

 

9

Jetzt würde er zudrücken.
Wieso lächelte ihre Mutter?
„Jeaney, die Maske ist verrutscht, du musst dich beruhigen!“
Sie bekam kaum noch Luft.
Luft? Im Himmel? Etwa eine Atemmaske?
Es dämmerte ihr. Sie war nicht tot.
Und als Tyler fertig mit der Maske war, als wieder genug Sauerstoff seinen Weg in ihre Lungen fand, fuhr er fort.
„Du bist im Krankenhaus, in Sicherheit.“
Bei dem letzten Wort musste sie an die unheimliche Begegnung auf der Straße denken.
Tyler fiel wohl ihr vielsagender Blick auf, als er weitersprach.
„Niedergeschossen.“
Hast du..? Sie deutete mit der rechten Hand eine Schreibbewegung an.
Ihre Mutter nickte, verschwand und kam mit Zettel und Stift wieder zurück.
Jeaney legte sich das Papier zurecht.
Hast du ihn erschossen? Dabei sah sie Tyler an.
„Ja. Naja, eher angeschossen. Er ist jetzt in Gewahrsam.“
Jeaney machte weiter. In ihrem Kopf schwirrten so viele Fragen umher.
Wo sind die anderen?
„Sie sind tot.“
Dabei seufzte er nicht einmal, fiel Jeaney auf.
Wer war dieser Wahnsinnige auf der Straße?
„Nico.“ Er zog das Handy, was sie beim Training fand, aus der Tasche und tippte darauf. „Nico und Liana – dein ´Zwilling´, wie du vielleicht dachtest – waren die leiblichen Kinder von Rufus.“
Sie stockte für einen Moment, machte dann weiter.
Wieso hasste Nico mich?
Jeaney fasste sich kurz, jedes einzelne Wort kostete immense Kraft.
„Nico macht dich für die Morde an seiner Schwester und Mutter verantwortlich. Er war das jüngere Kind, das erste Experiment.“
Mit Tränen in den Augen traf ihr Blick den ihrer Mutter.
Tyler sprach weiter.
„Nico sah nicht ein, wieso er sich mit solch einer Kraft so zurückhalten sollte. Alles geriet außer Kontrolle. Er rannte weg. Sie mussten…“
Plötzlich hielt Tyler inne und senkte seinen Blick zu Boden.
Er musste sich sammeln.
 „Nein, wir mussten alle Zeugen beseitigen – der eigentliche Grund für die Morde.“
Tyler blickte auf und sah Jeaney mit seinen nächsten Worten an.
„Doch als Nico herausfand, dass wir am nächsten Experiment arbeiteten, war er besessen von dir. Er wollte Rache, weil du in seinen Augen seine Mutter und Schwester nutzlos für Rufus gemacht hattest. Nico fand die Schuld immer woanders, nie bei sich.“
Aber das erklärte immer noch nicht…
Wieso ähnelten Liana und ich uns so sehr?
„Nenn es wie du willst, Sehnsucht, Wiedergutmachung. Liana war seine richtige Tochter, nie ein Experiment. Oder wie man heute vielleicht sagen würde, nie ein Designbaby. Er hatte sie geliebt. Bis sich dieser verrückte Gedanke in sein Hirn fraß.“
Also ein..? Sie konnte es nicht ausschreiben, doch das musste sie nicht. Tyler nickte.
Ein Klon.
Geschaffen nach seiner ermordeten Tochter, um als Experiment wieder aufzuerstehen.
Sie ließ den Stift fallen.
Und fasste sich an ihr Gesicht, folgte den Linien von Mund und Nase.
Dann stoppte sie. Eine lange Naht am rechten Mundwinkel.
Hier würde eine Narbe zurückbleiben.
Und auch wenn der Grund dafür schrecklich war, Jeaney fühlte sich leicht.
Es war ihre Narbe, zugezogen im Kampf um das eigene Leben.
Gestanden an der Schwelle der Entscheidung, wer sie wirklich war, ob sie weitermachen und wer sie sein wollte.
Ja, jetzt war sie auferstanden. Wie ein Phönix.
Neugeboren aus der Asche voll krankhafter Vorstellungen ihres Erzeugers und mit weit entfalteten Flügeln bereit für die Welt, für die Freiheit, für sie.
Ihre Mutter umschloss ihre Hand.
Jeaney schaute zu Tyler, streckte ihm ihre andere entgegen.
Unsicher nahm er sie. Ein Verbündeter.

Jeaney lächelte und erinnerte sich an Nicos Frage.
Ja, sie konnte.

 

10

Oh kleines Rehkitz.

So nah.

One thought on “Aus der Asche

  1. Liebe Marina,
    Wow. Da hast du uns aber ganz schön was aufgetischt. Wahnsinn. Das liest sich nicht so einfach nebenher, da ist man schon voll und ganz gefragt. Schön! Dein Einstieg hat mir ebenfalls sehr gut gefallen und deine Gliederung macht das lesen wirklich angenehm. Viele Szenen hast du wirklich sehr detailgetreu und wortakrobatisch beschrieben. Da hat wer wirklich Talent!
    Dran bleiben!
    Herzlich, die Lia 🌿

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