lin.readsBitte lächeln!

Sie sind hinter dir her und wollen dich umbringen. Glaube mir und renn weit weg. Schnell raus aus diesem Raum!“, schreit die Stimme in meinem Kopf. Sie ist so laut. Sie soll endlich die Klappe halten.

Ich stehe auf, um aus diesem Seminarraum zu flüchten. Der Gang ist dunkel und das rettende Licht scheint so weit weg zu sein. Meine Schritte beschleunigen sich, um zu den verfallenen und renovierungsbedürftigen Toiletten zu flüchten. Als ich am Waschbecken angekommen bin, drehe ich das immer kalte Wasser auf und richte meinen Blick auf die junge, dünne Frau im Spiegel vor mir. Weder die Züge einer Mutter noch die eines Vaters erkenne ich in mir. Wie auch? Ich weiß nicht einmal, woher ich komme und wer meine Eltern sind. Das Einzige, was ich mit Sicherheit sagen kann, dass ich seit Wochen oder schon seit Monaten den Verstand zu verlieren scheine.

„Tief durchatmen und bis zehn zählen“ haben sie gesagt. Die böse Stimme aus meinem Kopf scheint tatsächlich den Rückzug angetreten zu haben und ich kann den Wasserhahn wieder abdrehen und richte den Blick auf den historischen Campus, der sich vor den alten Fenstern erstreckt. Die herbstliche Sonne geht langsam hinter den Wäldern Potsdams unter und taucht die alten Gemäuer der Universität in ein warmes Licht. Doch tief in mir ist es kalt und ich wünschte, ich könnte mir ein wenig Wärme und Kraft von  der Sonne stehlen, um endlich frei leben zu können.

Aufgrund meines kleinen Zusammenbruchs habe ich nicht viel von dem Seminar zur Kulturgeschichte Europas mitnehmen können. Das ist mir im Moment egal, denn ich möchte nur noch nach Hause. Sicherheit. Ein Zuhause, welches ich erst seit Kurzem so nenne.

Bevor das Wintersemester begann, habe ich noch in Berlin gewohnt. Eine Stadt, die niemals still steht und in der sich niemand kennt. Anfänglich dachte ich noch, dass diese Voraussetzungen ideal für mich sind. Ich wollte in der Masse untergehen, doch das lief gründlich schief. In dem dunklen Hochhaus am Rande der Stadt, in dem ich für eine kurze Zeit gewohnt habe, hatten die Wände Ohren und vielleicht auch Äuglein. Sie waren immer noch hinter mir her, das wusste ich einfach. Egal, wohin ich gegangen bin, ich wurde verfolgt. Das habe ich nicht ausgehalten und musste meine Zelte abbrechen und mir eine neue Bleibe suchen.

In der Nähe des Universitätscampus westlich des Potsdamer Zentrums konnte ich die Ein-Zimmer-Wohnung in kürzester Zeit beziehen, musste mich aber dafür an der Universität immatrikulieren. Obwohl das in meinem Plan eigentlich nicht vorgesehen war, schrieb ich mich für Kulturgeschichte und Philosophie ein. Beides würde in der Nähe meiner Unterkunft unterrichtet werden und tangierte wenigstens in Ansätzen meinen Interessen.

Nur noch zehn Minuten laufen. Die untergehende Sonne spendet noch Licht und begleitet mich auf dem Heimweg. Schneller als andere Studierende gehe ich auf das Wäldchen zu.

Hinter dem Wald bin ich in Sicherheit. Um mich herum sind Grüppchen von jungen Menschen, die sich über bevorstehende Klausuren, Partys und die Erlebnisse während der vorlesungsfreien Zeit unterhalten. Doch ich will nur weg.

In einem dieser psychologischen Ratgeber habe ich gelesen, dass man nicht stur auf den Boden schauen soll, sondern den Blick auf das Kommende und das Vorausliegende richten soll. Ein kurzer Versuch. Aber das kann ich nicht. Sobald ich nach vorne schaue, sehe ich, wie weit der Weg ist. Er kommt mir unendlich lang vor. Der Waldboden hingegen ist beruhigend. Ich sehe Fußspuren, Äste, Erde, Ameisen und ein Smartphone. Ein Smartphone?! Abrupt bleibe ich wie eingefroren stehen. Das gehört hier nicht hin.

Aber wie ist es dann hier hin gekommen? Begehe ich nicht sogar eine Straftat, wenn ich es hier lasse? Umweltverschmutzung, unterlassene Hilfeleistung oder so? Aber was ist, wenn auf diesem Telefon eine Spionage-Software installiert ist und sie so herausfinden, wo ich wohne? Was ist, wenn es Bestandteil einer Straftat ist und ich mich verdächtig mache, sobald ich es anfasse und meine Fingerabdrücke auf dem Smartphone zu finden sind? Ich könnte es zur Polizeistation bringen, aber dann würde ich vermutlich erst im Dunkeln nach Hause kommen und dann könnten sie mich überfallen.

Nur einmal kurz auf die Entsperrtaste drücken. Vielleicht finde ich Informationen, die auf den Besitzer schließen lassen. Ich ziehe mir meine Strickjacke über die Hand, um das Smartphone nicht direkt zu berühren. Das Display wird hell. Was ich auf dem Bildschirm sehe, lässt mich beinahe aufschreien. Ein Bild von mir, wie ich das Haus 9 der Universität betrete. Dort finden meine Seminare statt.

Nein, nein, nein.

Sie haben mich gefunden. Ich muss mich mit der zweiten Hand abstützen und streife dabei versehentlich den Bildschirm und das Handy entsperrt sich. Kein Pin. Kein Passwort. Kein Face-Scan. Ungeachtet jeder Vorsichtsmaßnahmen, die ich vorher getroffen habe, nehme ich das Handy jetzt in meine bloßen Hände. Die zuletzt geöffnete Anwendung erhellt den Bildschirm. Hunderte Fotos verteilen sich über dem zersplitterten Glas. Alles Fotos von mir. Galle schleicht sich meine Speiseröhre hinauf und ich stolpere drei Schritte tiefer in den Wald, bevor ich mich übergebe. Tränen bedecken meine Sicht.

„Renn endlich! Die Sonne ist gleich hinter dem Horizont verschwunden, dann bist du hier mit dem Handy in dem Wald alleine und sie finden dich. RENN!“, brüllt die Stimme in meinem Kopf. Mir ist alles egal und ich renne einfach los. Das Smartphone immer noch fest umklammert mit meiner feuchten Hand. Knorrige Baumwurzeln und heruntergefallene Äste bringen mich ins Straucheln, aber ich lasse mich nicht aufhalten. Das hässliche Wohnhaus schon in Sichtweite krame ich mit der freien Hand nach meinem Schlüsselbund in meiner Jackentasche ohne dabei langsamer zu werden. Erst als ich an der Haustür angekommen bin, hören meine Beine auf zu rennen. Gleich bin ich in Sicherheit. Es kann nichts mehr passieren. Meine Hände zittern so stark, dass ich das verdammte Schloss nicht auf Anhieb treffe. Nach unzähligen Anläufen geht die Tür auf. Aber nicht, weil ich endlich den Schlüssel und das Schloss zusammengeführt habe. Auf der anderen Seite der Tür hat sich eine kleine Traube von Studierenden gebildet, die das Wohnhaus verlassen möchte. Keuchend dränge ich mich an ihnen vorbei und stürze mich das Treppenhaus hinauf. Meine kahle weiße Wohnungstür unterscheidet sich äußerlich nicht von den der anderen in diesem Gebäude. Doch von innen habe ich einige Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Ein massiver Panzerriegel, zwei Türketten und ein Zusatzschloss haben mir bisher ein Gefühl von Sicherheit verschafft. Als ich es endlich in die rettenden vier Wände meines Zuhauses geschafft habe, verriegle ich jedes einzelne Schloss und schmeiße das Smartphone weit weg von mir. Ich bleibe sicherlich mehrere Minuten auf dem Boden mit der Tür in meinem Rücken sitzen. Mein Herzschlag beruhigt sich langsam und ich fasse einige klare Gedanken.

Die momentane Faktenlage sieht folgendermaßen aus:

Ich bin sicher in meiner Wohnung und es kann niemand hier rein kommen. Ich habe ein Telefon im Wald auf dem Weg nach Hause gefunden. Auf eben diesem Handy sind nur Bilder von mir drauf. Ich weiß bisher nicht, wer diese Fotos gemacht hat. Hat dieser jemand das Telefon absichtlich verloren? Sollte ich es finden? Wurde ich vielleicht sogar währenddessen beobachtet? Kann ich durch die Bilder herausfinden, wer sie gemacht hat? Eventuell gibt es auf dem Handy Informationen zu dem Besitzer. Was ist, wenn ich denjenigen sogar schon einmal gesehen habe?

Ich muss mir das Telefon näher ansehen. Doch obwohl ich diesen Beschluss gefasst habe, dauert es noch Minuten bis ich langsam zu dem Telefon krabbele und es unter dem Tisch hervorhole, unter den es gefallen ist, als ich es von mir weg geschleudert habe. Nachdem ich es entsperrt habe, merke ich erst, wie viele Bilder von mir da wirklich zu sehen sind. Es müssen sogar tausende Fotos sein, die mich in alltäglichen Situationen zeigen. Langsam scrolle ich mich durch die Galerie und merke, wie ich über Wochen hinweg verfolgt wurde. Mir kommt erneut Galle hoch und ich schaffe es geradeso rechtzeitig zur Toilette zu kriechen, um mich in die Porzellanschüssel zu übergeben. Nachdem ich mir den Mund ausgespült und einen Schluck getrunken habe, beschließe ich, mir nicht weiter die Bilder von mir anzusehen, sondern nach weiteren Informationen auf diesem schwarzen Smartphone zu suchen. Doch es gibt nichts. Keine weitere Applikation, keine Kontakte und keine Nachrichten. Das gibt es doch nicht. Dieses Gerät wurde nur als Kamera benutzt, um mich zu fotografieren. Was will derjenige von mir? Ich muss etwas tun und stehe auf. Meine 25qm-Wohnung bietet nicht viel Platz, aber ich muss mich bewegen, muss etwas machen. Ich laufe im Kreis und raufe mir die Haare, in der Hoffnung, dass ich den entscheidenden Einfall herausziehen kann.

Der Sonnenuntergang an einem Freitagabend bedeutet im Studentenwohnheim Festtagsstimmung. Um mich herum wird es lauter und vor meiner Tür laufen immer wieder lachende Menschen vorbei. Das wird nicht lange andauern, weiß ich aus Erfahrung. Sie ziehen in den Aufenthaltsraum und der ist weit genug von meiner Wohnung entfernt. Ich schnappe mir meinen Laptop aus der Tasche und suche online nach Tipps, wie man Informationen aus einem Telefon bekommen kann. Aber nichts. Ich habe keinen Anhaltspunkt.

Plötzlich klopft es an meiner Tür. Das passiert nur, weil sich die angeheiterten jungen Menschen an der Tür geirrt haben. Deshalb reagiere ich schon gar nicht mehr, aber es klopft erneut.

„Jetzt haben sie dich gefunden. Hast du einen letzten Wunsch?“, spottet die Stimme in meinem Kopf.

Wenn ich nicht aufmache, wird derjenige schon wieder weggehen. Das hoffe ich zumindest. Skeptisch beobachte ich die Tür, von der immer wieder Klopfgeräusche zu hören sind. Wenn sie hier wären, würden sie nicht klopfen. Sie würden die Tür aufbrechen oder hätten einen zweiten Schlüssel.

„Hallo? Ich habe dich vorhin gesehen und dachte mir, dass du vielleicht Hilfe brauchen könntest. Ich bin Effi.“

Die warme Stimme dringt durch die dünne Tür zu mir. Hinter dieser Stimme kann sich nichts Böses verstecken. Sie wirkt freundlich, herzlich und auf eine kuriose Art und Weise vertraut.

„Hi, bei mir ist alles in Ordnung. Danke, dass du nachgefragt hast.“, antworte ich kurz angebunden durch die geschlossene Tür.

Ich hatte noch nie wirklich Kontakt zu anderen Studierenden, weil ich nicht weiß, wie lange ich hier bleiben kann.

„Mmmh, okay. Ich wohne direkt gegenüber, wenn du mal reden möchtest, kannst du Tag und Nacht klopfen.“, fährt sie fort. Ihre Stimme hat etwas Tröstliches und ich würde gerne mehr von ihr hören, weil ich merke, dass sie anders ist. Effi kann keine junge, hippe Studentin sein. Sie wirkt reifer und gefestigt.

„Vielen Dank für das Angebot. Vielleicht komme ich darauf zurück.“, sage ich etwas lauter, damit sie mich auch gut hören kann.

Und dann höre ich, wie die Tür gegenüber geschlossen wird. Es wird still. Die partywütigen Studierende haben sich bereits im Aufenthaltsraum im Erdgeschoss versammelt oder sind zur nächsten Bar im Zentrum der Stadt gezogen. Meine Gedanken werden wieder lauter und ich muss an dieses Smartphone denken.

Es fühlt sich wie eine radioaktive Bombe an, die jeden Moment explodieren könnte. Ich möchte es loswerden und beschließe jedes Bild zu löschen und es in einen der Mülleimer auf dem Flur zu werfen. Vorher muss ich jedoch mit einem Tuch alle Fingerabdrücke beseitigen, die zu mir führen könnten. Eingewickelt in Küchenpapier nehme ich mir die Bombe und horche, ob sich vor meiner Tür jemand befindet. Stille. Ich schließe erst die obere Türkette, dann das zusätzliche Schloss, den Panzerriegel, das normale Türschloss und dann die untere Türkette auf, bevor ich nochmal in mich gehe und mein Herz zwinge still zu sein. Ich halte für drei Sekunden die Luft an und warte auf Geräusche, doch es ist immer noch still auf dem Flur. Mit der Hand auf der Klinke öffne ich die Tür leise und spähe hinaus. Dunkelheit und Stille. Der Mülleimer ist nur wenige Meter von meinem Zimmer entfernt. Mit schnellen Schritten bin ich da und lege das verpackte Smartphone hinein. Ein lauter Knall zerschneidet die Stille und ich schrecke auf. Meine Tür. Sie ist zugefallen und ich bin ausgesperrt.

Nein! Nein! Das kann nicht wahr sein.

Ich hämmere gegen die weiße Tür und hoffe, dass sie sich wie durch einen Zauber öffnet, doch es passiert nichts. Erneut verschleiern Tränen meine Sicht. Ein Anfängerfehler. Das kann mir doch eigentlich nicht passieren. Ich gehe nie ohne meinen Schlüssel aus der Wohnung raus. Was mache ich denn jetzt?

Die Wohnungstür gegenüber öffnet sich und eine blonde Frau mittleren Alters blickt erschrocken heraus. Das muss dann wohl Effi sein. Sie ist wunderschön und ich frage mich, warum sie in so einem Studentenwohnheim wohnt. So wie sie aussieht, könnte sie in einer Villa am Wasser residieren.

„Ich habe den Knall gehört und mich gefragt, was passiert ist. Hast du dich ausgesperrt?“, fragt sie besorgt.

Ihr Stimme kommt mir so vertraut vor, dass ich mich gleich weniger verloren fühle.

„Ja, ich wollte ein … etwas wegschmeißen. Meine Tür muss irgendwie durch einen Windstoß zugefallen sein.“, sage ich etwas schluchzend und hoffe, dass Effi meinen Versprecher überhört hat.

„Aber das ist doch kein Grund zu weinen. Komm doch erst einmal zu mir rein. Ich kann dir einen Tee machen und wir können den Hausmeister kontaktieren.“

Was bleibt mir auch anderes übrig? Ich rappele mich auf und betrete Effis Wohnung. Auch sie hat nur ungefähr 25qm zur Verfügung, aber ihr Zuhause wirkt komplett anders als meines. Sie hat es gemütlich und in ihrem Zimmer hängen alte Bilder. Ich möchte nicht zu aufdringlich wirken, weshalb ich mir Mühe gebe, mich nicht zu lange umzuschauen. Ich setze mich auf das kleine Sofa und starre vor mich hin.

„Möchtest du lieber grünen oder schwarzen Tee?“, fragt sie aus dem Küchenbereich und hält zwei Packungen Tee in die Höhe.

„Grünen. Danke.“, antworte ich knapp.

Sie füllt den Wasserkocher mit Leitungswasser und kippt den Schalter, sodass das Gerät anfängt zu brodeln.

„Ich freue mich, dass ich jemanden kennengelernt habe, der nicht jeden Abend Party zu machen scheint. Die wenigen Wochen, die ich erst hier lebe, habe ich nur flippige Leute kennengelernt, aber damit kann ich nicht ganz mithalten. Immerhin bin ich ja auch schon 46. Wie heißt du eigentlich? Das habe ich völlig vergessen zu fragen.“, füllt sie die Stille in dem kleinen Raum.

„Ich bin Josefine und studiere im ersten Semester Kulturwissenschaft und Philosophie.“

„Das klingt interessant. Ich wollte einfach mal etwas Neues ausprobieren und habe mich für Sporttherapie und Prävention eingeschrieben. Mal schauen, was noch alles so kommt. Ich habe es vermisst, etwas zu lernen und mit jungen Menschen zu interagieren. Möchtest du auch einen Keks haben? Selbstgemacht.“

Sie hat eine Art an sich, die mich eigentlich davon abhält, ihr eine Bitte zu unterschlagen. Aber momentan ist mir echt nicht nach Essen.

„Vielleicht später.“, sage ich deshalb und lasse meinen Blick nun doch durch das gemütliche Zimmer schweifen. An der Wand und auf dem Fensterbrett stehen Bilder eines kleinen Kindes, welches mindestens 5 Jahre alt sein muss. Aber die Fotografien wirken alt und ich entdecke nirgendwo ein Bild, wo das Kind älter ist.

„Ist das dein Kind? Wie heißt es?“, frage ich Effi vorsichtig.

„Oh, das ist Elias. Er ist leider vor vielen Jahren von uns gegangen.“

Eine Mischung aus Trauer und Wut streift Effis Gesicht und lässt sie für wenige Sekunden kaltblütig aussehen.

„Das tut mir leid, ich wollte nicht…“, rudere ich zurück. Ich habe direkt das Gefühl, in ein Fettnäpfchen getreten zu sein und möchte in diesem Moment einfach nur aus dem Zimmer flüchten. Aber wohin?

„Nein, das ist schon in Ordnung. Seitdem sind 20 Jahre vergangen, aber er wird trotzdem immer ein Teil von mir sein.“

Der Raum fühlt sich erneut mit einer unangenehmen Stille. Effi hat währenddessen die Teetassen auf den kleinen Tisch neben dem Sofa gestellt und wir warten nun, dass der Tee zieht.

     „Ich hole mal kurz mein Handy, um zu sehen, wie wir den Hausmeister am besten erreichen können.“, sagt sie während sie entschuldigend aufsteht, um in ihrer Jackentasche nach dem Handy zu suchen. Das Gerät strahlt kaltes Licht auf ihr Gesicht und ich verliere mich darin, weil sie mir so bekannt und doch so fremd erscheint.

     „Mist, also vor Montag erreichen wir den nicht mehr. Bis vor einer Stunde war er noch im Haus. Also heißt es wohl entweder Schlüsseldienst oder Übernachtungsparty. Haha, war natürlich nur ein Witz. Ich biete dir selbstverständlich an, bei mir zu übernachten, aber wenn du nicht möchtest, können wir auch den Schlüsseldienst rufen.“, hält Effi mir meine Situation noch einmal vor Augen.

Ich fühle mich überfordert, da ich weder Geld für den Schlüsseldienst habe, noch Lust habe, bei Effi zu übernachten. Sie wirkt zwar sehr nett und ich glaube, ich mag sie, aber dieser Schritt erscheint mir dann doch zu groß.

Aber auch hier bleibt mir doch nichts anderes übrig. Ich kenne keine Menschen in Potsdam, bei denen ich Unterschlupf suchen könnte.

     „Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich die Nächte bis Montag hier verbringen. Ich verspreche dir auch, dass ich dir tagsüber nicht auf die Nerven gehen werde und du mich quasi gar nicht bemerken wirst.“

Auf Effis Gesicht regt sich ein kleines Lächeln und ich habe das Gefühl, dass sie sich geradezu freut, dass ich auf ihr Angebot eingehe.

     „Oh, super. Du kannst auf dem Sofa schlafen und eine zweite Zahnbürste müsste sich auch noch im Schrank verstecken. Unbenutzt natürlich, haha.“

Ich trinke einen Schluck von meinem Tee und merke, wie sich eine wohlige Wärme in mir ausbreitet. Das aromatisierte heiße Wasser beruhigt meine Nerven und bringt mich dazu, loszulassen.

Auch Effi trinkt von ihrem Tee, aber ihre Augen ruhen die ganze Zeit auf mir. Als würde sie auf etwas warten.

Ich trinke noch ein wenig aus der großen Tasse und plötzlich wird alles schwarz.

 

Kalt und Dunkel. Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich genauso viel wie mit geschlossenen Augen. Ich muss durch Tasten herausfinden, wo ich bin. Doch ich fühle nichts anderes als kalten Stein. Der Raum, in dem ich mich befinde, ist sehr klein. Gerade so groß, dass ich mich minimal bewegen kann. Wo bin ich?

Vor meinem inneren Auge erscheinen verschwommen meine letzten Erinnerungen. Effi, grüner Tee, Fotos, Smartphone. Und dann war alles schwarz. Was habe ich Effi getan, dass sie mich scheinbar wegsperrt und vergiftet?

     „Hallo?“, frage ich in die Stille und höre, wie meine Stimme von dem kalten Mauerwerk zurück prallt.

Aus einer Lautsprecheranlage höre ich Knacken, Knirschen und dann auch Worte.

     „Na, Josefine. Wie ist es so, komplett ausgeliefert zu sein? Scheiße, oder?“

Ich erkenne Effis Stimme, die technisch verstärkt keine Wärme mehr in sich trägt. Sie jagt mir einen kalten Schauern über den Rücken.

     „Was habe ich dir getan?“

Meine Stimmte klingt verletzt und genauso fühle ich mich auch. Ich vertraue Menschen normalerweise nicht so schnell und war von mir selbst überrascht, dass Effi anscheinend etwas an sich hatte, was mich von meinen Überzeugungen abgebracht hat.

     „Was du mir angetan hast, fragst du mich?“, ihre Stimme wird hysterisch und überschlägt sich, „Hast du dich denn nie gefragt, wo du her kommst? Warum dich deine Eltern verstoßen haben? Warum ich dich verlassen habe?“

Ich erschauere. Was will sie mir damit sagen? Sie hat recht, dass ich meine Vergangenheit nicht besonders gut kenne, mich aber auch nie damit befassen wollte. Die Betreuer aus dem Heim haben mir gesagt, dass ich als sechs Monate altes Baby gefunden wurde. In ein Handtuch gewickelt hat man mich vor die Schwelle des Kinderheimes gelegt. Plötzlich verbinden sich alle Stränge in meinem Kopf.

Effis Stimme kam mir so bekannt vor, weil ich sie tatsächlich schon des Öfteren gehört habe. Ihre Stimme war die erste, die ich jemals gehört habe. Sie ist meine Mutter.

     „Jetzt macht es langsam Klick. Ja, ich bin deine Mutter. Neun Monate habe ich dich in meinem Bauch getragen. Mich auf dich gefreut und was machst du? Du zerstörst mein Leben.“

Effi klingt wütend und rachesüchtig.

     „Aber was habe ich denn getan?“

Ich bin verzweifelt und möchte nur noch hier raus. Beim besten Willen könnte ich mich nicht mehr daran erinnern, weil es in meinem ersten halben Lebensjahr geschah und das nun schon wirklich eine Weile her ist.

     „Halt die Fresse du Monster. Du hast einen Menschen umgebracht.“

Diese Erkenntnis lässt mich erstarren. Ich bin eine Mörderin? Das kann doch nicht sein. Ich war doch noch ein Baby. Effi muss mich verwechseln.

     „Am 23. Mai 1999 hast du deinen Bruder umgebracht. Er wollte gerade die Treppe in unserem Haus herunter laufen und da hast du dich an sein Hosenbein geklammert. Er ist gestürzt und mit dem Kopf auf dem Fliesenboden aufgekommen. Du hast gelacht. Du bist ein Monster. Du hast in dem Moment gelacht, in dem du deinen Bruder getötet hast.“

Die Ereignisse überschlagen sich in meinem Kopf. Ich habe einen Bruder? Hatte einen Bruder? Und ich bin für seinen Tod verantwortlich?

     „Am liebsten hätte ich dich lebendig begraben, aber ich wollte nicht auch noch zur Mörderin werden. Erst habe ich dich in deinem Zimmer eingesperrt, aber da hast du die ganze Zeit geweint. Da konntest du dann plötzlich weinen. Nachdem ich deinen Bruder beerdigt habe, konnte ich dein Gebrüll nicht länger  ertragen und habe dich vor dieses Heim gelegt. Doch am 20. Todestages deines Bruders merkte ich, dass das nicht alles gewesen sein konnte. Ich musste mich an dir rächen. Du hast mir das genommen, was ich am meisten geliebt habe. Wärest du nur an seiner Stelle gestorben… Dich hier in Potsdam zu finden, war nicht sonderlich schwer. Immerhin habe ich dich die ganzen Jahre im Blick gehabt. Ich bin dir gefolgt. Ob zu diesem schäbigen Hochhaus in Berlin oder hierhin ins Studentenwohnheim. Doch bisher habe ich nur aus der Ferne agiert, aber das hast du ja in dem Smartphone gesehen. Ein Jammer, dass ich das Telefon verloren habe. Es hat mir so eine Freude gemacht, zu sehen, wie du immer  weiter den Verstand verloren hast. Der Zufall hat mir in die Hände gespielt und ich habe die Gelegenheit beim Schopfe gepackt. Ketamin habe ich für alle Fälle immer bei mir und konnte es dir unbemerkt in den Tee schütten. Du warst ohnehin total apathisch und hast nicht darauf geachtet, was ich in der Küche mache.“ Ein kaltes Lachen füllt mein Verließ.

Ich will sie nicht mehr hören. Bitte macht irgendwas, dass es aufhört. Ich verliere die Hoffnung und habe das Gefühl, dass ich diesen Raum nicht lebendig verlassen werde. Und wahrscheinlich will Effi genau das. Sie will mich leiden und sterben sehen.

Ich höre ein Klick, welches mich an den Auslöser einer Kamera erinnert.

     „Nur noch ein paar Bilder für mein Fotoalbum. Bitte lächeln!“, höre ich Effi aus der Lautsprecheranlage sagen.

4 thoughts on “Bitte lächeln!

  1. Wow! Wahnsinn! Ich habe mich total in die Protagonistin hineinversetzen können. Die Charakteristik dessen gefällt mir sehr gut und auch dein Schreibstil verstärkt das Ganze nochmal.
    Jedes einzelne Wort macht mir riesigen Spaß zu lesen, so habe ich deine Geschichte quasi gerade verschlungen.
    Und dein Ende läd wirklich zum weiterlesen ein. Ich würde mir direkt Teil 2 kaufen 🙂
    Also hast du mein Herz sowas von verdient!:)
    Ich würde mich wirklich freuen mehr von dir zu lesen! Lg Lia

  2. Hallo 🙂
    Ich finde deinen Erzählstil wirklich toll, die Geschichte war super spannend.
    Anfangs dachte ich die Protagonistin würde sich alles nur einbilden und es gäbe ein Happy End, weshalb ich vom überraschenden Ende begeistert war!
    Liebe Grüße
    Nathalie (Zwischen Liebe und Leichen)

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