MoniDas Ende

„Ahhhh!“ Mein gellender Schrei halt von den Wänden wieder. Meine Füße treten in kalte, nasse Pfützen und machen ein schmatzendes Geräusch, als würden sich meine Sohlen mit dem matschigen Grund verbinden und nie wieder los lassen. Ich renne weiter, werde noch schneller. Ich muss mich beherrschen, um nicht nach hinten zu dem grauenhaften Monster zu schauen, das mich verfolgt und mich zu erreichen droht. Ich weiß nicht, was es ist oder was es von mir will, aber ich weiß, dass es keine guten Absichten hat und dass es jede Faser meines Körpers und meines Seins auslöschen wird, wenn es mich erreicht. Ich renne weiter, sehe meinen Schatten an den Wänden vorbeiziehen, der mit mir mit rennt und es scheint, als würde er mich anfeuern. Es wird immer lauter in meinem Kopf. Das Festsaugen der Sohlen, das Aufkommen auf dem Matsch, mein rasselnder Atem durch die extreme Anstrengung. Alles vereint in einem Chor, der mein Ende voraus sagt. Ich kann nicht mehr, werde langsamer. Dann sehe Ich ein Licht in der Dunkelheit und renne darauf zu; nehme meine letzte Kraft zusammen. Es scheint mir als letzter Hoffnungsschimmer, als Licht, das mir den Ausgang aus diesem Horrortrip verspricht. Ich renne um die Ecke, hinter der das Licht hervor scheint und…
stocke. Ich versuche anzuhalten, zu bremsen, mich umzudrehen und dem Monster entgegen zu rennen, nur weg. Weg von dem, der mir im Weg steht. Weg von ihm. Ich weiß, dass er es ist, obwohl ich ihn seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen habe. Ich will umdrehen und von ihm davon rennen. Ich will zurück zu dem Monster, das mich zu zerstören droht und spüre eine Erleichterung, durch die Hand des Ungeheuers als durch die meines jetzigen Gegenübers zu sterben, denn ich weiß, dass er nicht gnädig sein wird. Was er mit mir anstellen würde, wäre noch viel schlimmer als irgendein Unwesen in diesem Universum machen könnte, den er hat kein Gewissen. An ihm ist nichts Menschliches. Er ist das Böse und der Abgrund. Er ist das Dunkle und die Angst vor dem alle sprechen. Er ist die Dunkelheit. Er ist es. Das Ende.
Ich wache hechelnd auf und schlage die viel zu heiße Bettdecke zurück. Zum Glück nur ein Alptraum, nichts als ein schlechter Traum. Ich atme auf. Was für eine jämmerliche Situation. Ich, als eine erwachsene Person, eine Journalistin, die Tag für Tag grausame Dinge sieht und darüber berichtet, hat panische Angst vor einem Monster, das sie verfolgt, noch dazu in einem Alptraum. Lächerlich. Und doch überläuft mich ein mulmiges Gefühl. Was war das am Ende? Wieso bin ich aufgewacht? War da ein Mensch? Jemand, den ich kenne? Ein seltsam vertrautes Gefühl ergreift Besitz von meiner Brust und meinem Bauch. Komisch. Ich hatte das Gefühl, den Traum schon einmal erlebt zu haben, aber in Wirklichkeit, nicht in der Fiktion eines Traumes. Ich schüttele die Gefühle ab und stehe auf. Ich möchte nichts lieber, als den Schweiß der vergangenen Nacht und damit den Traum und die negativen Gefühle unter einer kalten Dusche weg zu waschen und sie damit nicht nur von meinem Körper sondern auch aus meinen Gedanken zu streichen.
Nach der Dusche gehe ich bekleidet im Jogginganzug in meine Küche. Auf dem Weg dorthin komme ich im Flur vorbei. Irgendetwas ist hier anders, denke ich mir. Es ist kein bestimmter Gegenstand oder gar ein Detail, das mir auffällt. Es ist einfach nur ein Gefühl. Ein Gefühl, als wäre jemand in meiner Wohnung gewesen, unbemerkt, darauf bedacht, nichts zu verändern und doch mit der Intention, dass ich es merken. Ich denke nicht weiter darüber nach und schiebe das merkwürdige Gefühl auf den Traum. In der Küche angekommen mache ich mir zu erst einen Kaffee, den habe ich dringend notwendig. Ein Frühstück gibt es nicht. Als Journalistin muss man nicht nur über die neusten Dinge, Trends und Hits oder gar grausame Taten berichten, sondern den momentan angesagten Lifestyle leben um den Lesern davon vertrauensvoll berichten zu können. So unsinnig der ein oder andere Lifestyle auch erscheinen mag. Ich setze mich mit meiner Tasse hin. Das mulmige Gefühl von vorhin verstärkt sich, ich fühle mich beobachtet und schaue aus dem Fenster, das direkt auf die Straße zeigt. Doch da ist nichts und niemand. Niemand, dessen Blick ich auf mir spüren könnte. Ich lasse den Blick durch meine Küche schweifen, doch auch hier ist nichts ungewohnt. Ich schließe die Augen und genieße einen Schluck meines noch heißen Kaffees. Als ich die Augen wieder öffne, fällt mein Blick auf den Tisch, den ich bis dato nicht weiter beachtet habe. Denn was sollte an einem Tisch eines großen Möbelhauses, der seit Monaten an derselben Stelle steht, schon Interessant sein. Doch heute ist etwas anders. Etwas liegt auf dem Tisch. Etwas, das ich nicht kenne. Etwas, das nicht mir gehört. Etwas, dessen reiner Anblick mir eine schaurige Gänsehaut über den Rücken, Arme und Beine jagen lässt. Etwas, das meine Atmung und Puls schneller werden lässt. Etwas, das meine Hände und die darin haltende Kaffeetasse zum zittern bringt, so sehr, dass der heiße Kaffee auf meine Arme und auf den Tisch läuft, doch ich spüre keinerlei Schmerzen. Nichts, außer Angst. Da ist etwas, das nicht wahr sein kann, weil es in meinem Leben lange vor dem heutigen Tag liegt. Und doch liegt es vor mir. Schwarz. Normal. Ich stelle die Kaffeetasse immer noch zitternd ab und greife nach dem Etwas. Ich drehe es in meinen Händen, betrachte es von allen Seiten und versuche eine logische Erklärung für das Auftauchen zu finden, doch die gibt es nicht. Es gibt keine logische Erklärung für das menschliche Grauen. Es gibt keine logische Erklärung für den Tag, für meine Tat, für meinen grausamen Fehler. Ich drehe das Etwas um und schalte es ein. Auf dem Handy erscheint ein Sperrbildschirm. Ich wische nach oben, es wird ein Pinn abgefragt. Mit unnatürlicher Gewissheit weiß ich genau, welcher Pin es ist und gebe ihn ein: 7503.
7. Mai 2003
Als der Sperrbildschirm verschwindet, sehe ich keine Apps, keine Anwendungen, nichts. Nur ein einziges Bild, das den Hintergrund ziert und mir einen lauten schrillen Schrei entlockt. So laut und schrill, dass ich meine, das ganze Haus müsse es hören. Ein Bild, von dem ich gar nicht wusste, dass es existiert, aber das tut es. Ich sehe es vor mir und mit ihm meine Tat, meinen Fehler, die Zeit damals. Ich weiß, dass die Geschichte nicht vorbei ist und auch, dass der Traum nicht ein lächerlicher Traum sondern der Vorbote etwas Grausamen war. Ich weiß, dass der Kampf gerade erst beginnt. Ich sehe mir das Foto genauer an. Mein Herz schlägt noch schneller, nach dem es für einige Schläge ausgesetzt hatte. Ich schwitze, doch meine Hände sind eiskalt. Ein Schauer läuft mir von der Kopfhaut über den Rücken hinunter, mir wird schwarz vor Augen und Übelkeit macht sich breit. Ich versuche, die Erinnerungen weg zu blinzeln. Die Erinnerungen, die meine mühevoll aufgebaute und nahe zu perfekte Identität als Journalistin verblassen lässt und mich selbst als Identität eines Mörders ausweist. Ich betrachte das Bild erneut. Darauf bin ich. Mit einem verrückten, ja nahezu wahnsinnigen Grinsen im Gesicht, mit dem Blick zur Kamera. In meiner Hand ein langer Gegenstand, der im spärlichen Licht des Kamerablitzes zu glänzen scheint. Ein Messer. Umgeben von roten Flecken. Im Hintergrund ein menschlicher, toter in Blut getauchter Klumpen, den ich getötet habe. Er ist wieder da. Das Ende. Ich dachte, es sei vorbei, aber jetzt weiß ich, dass es nicht so ist. Intuitiv weiß ich, was ich zu tun habe.
Ich hetze den dunklen Bahnsteig hinunter. Schnell und doch darauf bedacht, unauffällig zwischen den Menschen unterzutauchen. Gerade heute scheint es, als würden alle Menschen das Interesse an einer Zugfahrt gefunden zu haben. Gut und Schlecht zu gleich. Ich kann zwar fast problemlos untertauchen, komme jedoch nur schwer gegen den Strom an. Vor mir erscheint der Getränkeautomat, der schwach im Licht der Beleuchtung zu sehen ist. Ich erinnere mich genau an den Weg, auch wenn ich ihn das letzte Mal in meinem alten Leben gegangen bin. Kurz vor dem Ende. Ich kannte den Weg aus meiner Kindheit, von meinem Vater. Ich erreiche den Automaten, sehe mich um und biege anschließend nach rechts. Eine abgesperrte Treppe führt zu einer Unterführung. Sie wurde mit einer Kette versperrt, an der ein eindeutiges Warnschild hängt: „Betreten strengstens verboten!“. Ich kenne dieses Schild von früher, als es noch sauber und nicht von Schmutz und Rauch der Zigaretten bezogen war, sondern grell im Schein der Lampen aufblitze. Ich drehe mich kurz um, um zu kontrollieren, dass mir keiner zusieht, wie ich mein Bein hoch über die Kette hebe, es sicher auf den rauen Boden des Treppenabsatzes setze und das zweite Bein hinterher ziehe. Ich muss nur wenige Stufen unentdeckt weit kommen, ehe der Schein der Bahnsteiglampen versiegt und die Treppe in Dunkelheit verschwinden. Geschafft. In Gedanken bedanke ich mich bei den Menschen, die sich um sich selbst mehr als um ihre Mitmenschen kümmern und ich ungesehen meinen Weg fortsetzen kann. Ich schaffe es unbemerkt die ersten Stufen hinabzusteigen. Sie ist niedrig und alt, so dass ich ins Stolpern komme, doch einen Handlauf gibt es nicht. Bevor ich falle stütze ich mich an der kalten, rauen Mauer ab, ehe ich weiter eile. Ich komme unten an. Hier ist es ruhig. Keine Menschenseele hat sich hier in die muffig riechende Dunkelheit verirrt. Vor vielen Jahren, lange vor dem Ende, tummelten sich hier Menschen, die eifrig ihren täglichen Geschäften nach jagten, dabei trugen die Männer Anzüge und Aktenkoffer unter dem Arm, während sie an Zigarren zogen. Die Frauen eilten in Kleidern und Einheitsfrisuren vorbei, stets darauf bedacht, den männlichen Passanten aus dem Weg zu gehen, um sie nicht am Weitergehen zu hindern. Jetzt tummelt sich ein anderes Volk hier. Es wimmelt vor Ratten, Mäusen, Spinnen und allerlei anderen Ungeziefer. Noch heute Morgen hätte ich laut aufgeschrien, wenn ich nur den Verdacht eines unliebsamen Weggefährten bemerkt hätte, doch jetzt sind sie mir treue Begleiter. Ich eile weiter und hoffe inständig, dass mich meine Erinnerungen nicht trügen und ich mich an den Weg erinnern kann. Als ich das letzte Mal hier war, als das Ende auf mich traf, ging alles schnell. Meine Erinnerungen sind in einen Nebelschleier getaucht. Ich sehe sie vor mir, kann sie jedoch nicht fassen, nicht genauer beschreiben. Ehe ich es versuche, löst sich der Nebel auf und lässt eine gnadenlose Dunkelheit meine Erinnerungen verschlucken, wie das Maul des Monsters aus meinem Albtraum. Das Monster, von dem ich mich lieber töten lassen würde, nur um ihm, dem Ende nicht in die Hände zu fallen. Doch jede noch so kleine Hoffnung auf die Erlösung durch etwas übernatürliches, macht mir bewusst, dass er genau das ist: übernatürlich. Nicht menschlich. Er ist etwas anderes. Kein Mensch wäre in der Lage so grausam zu sein. Mich überkommen die Erinnerungen an die Nacht, die alles veränderte. Mit wird übel. Als würde es etwas bringen, nehme ich einen aggressiven Stechschritt an, als könnte ich so meinen Erinnerungen und den Geschehnissen entfliehen. Wenn das doch so einfach wäre. In meiner Erinnerung kommt mir der Weg kürzer vor, als er in Wahrheit ist, was vermutlich den Umständen der Situation zu verdanken ist. Bei jedem Schritt nach vorne, bei jedem Aufsetzen meines Fußes und Abrollen der Ferse merke ich, wie die Pfützen um mich herum feuchter werden und mein Schuhwerk durchnässt. Nicht mehr lange und es wird meine Socken und meine nackte Haut erreichen. Ich spüre die nagende Kälte, die mich erreicht, doch ich kann nichts dagegen tun. Ich muss weiter, es gibt kein Zurück mehr. Nach der Schließung der Unterführung wurde sich nicht mehr um die Instandhaltung gekümmert. Die Straße, die über sie hinweg führt, ist ein alter Bauabschnitt, der an ein privates Grundstück einer insolventen Firma grenzt. Diese gilt als verflucht, da unlautere Umstände zu deren Schließung führten und so keiner das überaus große Grundstück erwerben möchte. So fällt es auch nicht ins Gewicht, wenn das Grundstück von unten her durch die Unterführung immer feuchter und teilweise instabiler wird. Ich werde langsamer. Vor mir erscheint in der Dunkelheit ein kleiner Lichtschein, der mir das Ende des Tunnels anzeigt und die Treppen nach oben zum Grundstück weist. Als die Firma und dazu die Unterführung noch in Betrieb waren, war dies eine günstige Abkürzung für die vielen hundert Mitarbeiter der Firma und auch eine gute Alternative für die Bahn, die Menschenmassen, die sich am Bahnhof stets tummelten etwas zu entzerren und hier abzuleiten, noch dazu, da die Kosten allein von der Firma getragen wurde. Lediglich der Grund und die Genehmigung mussten die Bahn geben, was sie selbstverständlich taten. Ob sie sich jetzt wohl ärgerten, diese Entscheidung getroffen zu haben? Was wohl sonst aus dem Grundstück geworden wäre? Was wäre wenn. Fragen, die unser Leben immer beeinflussen aber uns nie weiter bringen werden. Denn es sind Sätze, es sind Umstände, die nicht möglich sein werden, weil sie vergangen sind, weil wir uns oder andere sich anders entschieden haben und so eine Tür im Leben verriegelten, aber es ist klar, dass jede geschlossene Tür, stets eine neue öffnet. So schloss ich damals die Tür, hinter der sich mein langweiliges durchschnittliches Leben verbarg um eine neue, gefährlichere und aufregendere zu öffnen. Eine Entscheidung, die ich bitterbös bereute, nicht zu letzt gerade im Moment, wo ich doch zu Hause sein sollte, um mich fertig für die Arbeit zu machen, begierig auf all die Storys heute, die mich treffen und ich für das Magazin verfassen würde. Doch stattdessen gehe ich langsam auf die Treppen zu, doch bevor ich die Stufen erreichen, drehe ich mich noch einmal um. Fast bringt es mich zum lächeln. Wer würde mir schon folgen, in einen dunklen Tunnel, der seit Jahren baufällig ist? Ich wende mich von den Stufen ab und steuere auf die rechte Seite zu. Ich knie mich hin, wobei die Kälte und Nässe über die Hose an meine Haut dringt und mich fröstelt lässt, strecke meine Hand aus und taste über die nasse Wand. Irgendwo hier muss es doch sein. Meine Finger tasten entlang und finden endlich in einer kleinen Einkerbung den Ring. Ich versuche ihn heraus zuklappen. Er ist sehr verrostet und nur schwer herauszubekommen. Doch ich wackele und ziehe so lange daran, bis er sich löst und ich an ihm ziehen kann. Auch das gestaltet sich als schwierig, wurde die Öffnung doch vermutlich seit Jahren nicht mehr genutzt, seit der Zeit, als das ENDE hier war. Doch nach einigem ruckeln geht die kleine Öffnung auf. Sie ist nicht größer als ein Quadrat von etwas mehr als einem halben Meter. Gut, dass ich ständig verschiedene Lifestyles teste und so gut durch die kleine Öffnung passte. Meine Haut an den Handgelenken, die nicht von einer dicken Jacke bedeckt sind, schürfen sich auf und ich spüre ein heißes brennen. Spätestens jetzt sind meine Klamotten nass und kaputt. Doch das stört mich nicht, ist doch der Preis für mein Überleben wichtiger als die der teuren Designer Klamotten. Als ich vollkommen durch das Loch gekrochen bin, schließe ich hinter mir die Öffnung an einem weiteren Ring. Dieser ist jedoch kaum verrostet. Ich sehe zwar nicht viel, aber das was ich im schummrigen Licht, das noch von der Unterführung hereinfällt und durch das Tasten mit den Fingern erkennen kann, ist hier kaum Rost am Ring vorhanden. Komisch. Entweder ist es ein anderes Material, oder, mir stockt der Atem, der Ring wird regelmäßig berührt. Mir läuft ein eiskalter Schauer über den Rücken und lässt mich in meinen feuchten Klamotten fast zu Eis erstarren. Als ich das fremde Handy mit meinem Bild darauf fand, war mir sofort bewusst, wohin ich musste und warum, jedoch kam ich zu keiner Zeit auf die Idee, das der Besitzer des Handys, dass ER, auch hier sein könnte und auf mich warten würde. ER weiß, dass ich auf jeden Fall komme. Sei es nur, um zu überprüfen ob alle Spuren von damals wirklich beseitigt wurden, oder ob irgendwelche Dinge auf mich hinweisen konnten, auf mich und meine Tat. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass jemand dieses Versteck finden würde, aber es war Möglich, dass das Bild der Polizei von jemanden zugespielt und dieser Jemand den Ordnungshütern auch das Versteck oder einen Weg dorthin zeigen würde und in Zuge der Ermittlungen das Bild an die Öffentlichkeit kommen würde. In jedem Fall wäre meine Karriere als die beste Journalistin des begehrtesten und erfolgreichsten Magazin, und vermutlich in jedem anderen, für immer vorbei. Denn wer will schon eine Straftäterin, eine Mörderin, im eigenen Unternehmen haben. Vermutlich die Wenigsten. Aber das ist jetzt zweitrangig. Ich kann es mir nicht leisten, meine Kraft an diese Gedanken zu verschwenden. Mein Atem beschleunigt sich, beinahe hechele ich wie ein Hund. Mir wird mehr und mehr übel vor Angst, mir zittern die Knie und alles in mir schreit, weg zu rennen vor dem Ort des Verderbens. Mir wiederstrebt es, weiter zu gehen, aber ich muss. Es führt nun ohnehin kein Weg mehr zurück. Mittlerweile ist die Rush Hour des frühen morgens vorbei und es würde sofort auffallen und zu nervigen Fragen kommen, was ich unten im Tunnel wollte. Dazu habe ich keine Antwort und die Bahnhofsmitarbeiter würden keine Ausreden geltend lassen, bis sie merken, dass ich die Wahrheit sage. Mein Atem beruhigt sich etwas und ich rede mir gut zu. Ich krieche ein Stück weiter, ehe sich die Decke nach oben hin weitet und ich wieder aufrecht stehen kann. Ich gehe weiter, vorsichtig darauf bedacht, kaum Geräusche zu machen. Schritt für Schritt. Ich hole kurz mein Handy heraus, das hier zwar kein Empfang hat, aber ich kann die Taschenlampenfunktion nutzen. Mit ihr leuchte ich kurz meinen Weg ab, dabei fällt mein Blick nicht nur in die Ferne, sondern auch vor mir auf den Boden. Meine Schuhe hinterlassen nasse Abdrücke auf dem trockenen Beton. Moment. Der Beton ist trocken? Ich beuge mich nach unten und betaste den Boden mit meinen Fingerspitzen. Tatsächlich, der Boden ist trocken. Wie kann das sein? Selbst weil es ein geheimes Versteck ist, so liegt es dennoch direkt unter der Erde. Es muss feucht sein, doch ist es nicht. Ich richte mich auf, jetzt noch vorsichtiger und stecke das Handy wieder ein um zum einen Akku zu sparen, denn ich weiß nicht, was noch auf mich zu kommt, und mich zum anderen nicht durch den hellen Schein des Lichtes zu verraten. Ich taste mit meinen Fingerspitzen jeweils links und rechts von mir an den Wänden entlang, und setze auch die Füße langsam einen vor den anderen. Vom Gefühl über den zurück gelegten Weg, muss ich jeden Moment an eine weitere Öffnung kommen. Und tatsächlich. Ich stoße mit meinem rechten Fuß an die Wand. Meine Hände tasten sich seitlich nach vorne. Ich bin am Ende des Weges angelangt. Jetzt muss ich nur noch den Durchgang finden. Diesmal ist es keine Steinplatte, die nur mit einem rostigen Eisenring geöffnet werden kann, sondern eine alte schwere, vermutlich morsche Holztür, die einen Knauf zum Drehen hat, so zumindest war sie damals. Meine mittlerweile eisigen Hände streichen über die Wände, immer darauf bedacht genau zu spüren, denn auf meine gefrorenen Hände ist kein eindeutiger Verlass mehr. Mir machen die Feuchtigkeit und die Kälte doch mehr zu schaffen als gedacht, hätte ich doch nur Handschuhe mitgenommen, die würden die schlimmste Kälte etwas abwehren, dennoch mache ich mich weiter auf die Suche. Ich neige schon leicht dazu, wütend und genervt zu werden, weil ich nichts erspüren kann und frage mich, ob ich mich an etwas falsch erinnere, doch dann spüre ich etwas anderes als steinige Wand unter meinen Fingern. Ich fühle weiter. Ich spüre einen viel weniger rauen Untergrund, der in gleichmäßigen Abständen von Rillen unterbrochen wird. Es ist eine Holztür. Doch wieder erwarten fühlt auch sie sich nicht nass und kalt an, ich spüre nicht einmal, dass sie morsch wäre. Nein. Sie fühlt sich eher so an, als wäre sie erst vor kurzer Zeit neu eingebaut worden. Auch jetzt läuft mir ein eisiger Schauer über den Rücken und auch die Übelkeit ist zurück. Ich atme noch einmal tief durch, ehe ich den Knauf drehe und die Tür mit einem leisen leicht zu überhörenden Knacken aufspringt und ich sie problemlos ohne zu quietschen vollkommen öffnen kann.
Mir kommt eine plötzliche Helligkeit entgegen, als würde mir ein großes Vielfaches an Halogen Strahlern direkt ins Gesicht strahlen. Ich blinzele und versuche mich zu orientieren. Ich sehe mich um und stelle fest, dass es keine Vielzahl ist und noch dazu keine Halogenstrahler, es ist eher ein bläulichen Licht, dass zwar hell strahlt, aber nach längerem Betrachten nicht zu hell, ich kann aber nicht ausmachen woher das Licht kommt und welchen Ursprung es hat. Scheinbar sind meine Augen durch die Lichtverhältnisse des Tunnels so an die Dunkelheit gewohnt, das mich jede noch so kleine Helligkeit und Hinweis einer Lichtquelle total überfordert.
„Wie ich sehe, hast du meine Nachricht verstanden und deinen Weg zu mir gefunden.“ Ich zucke zusammen, als eine dunkle kehlig raue Stimme ertönt, die mir so vertraut und gleichzeitig so verhasst ist. Die Stimme, die mich ein Leben lang bis zu jenem Tag begleitet hat und in mir beim alleinigen Gedanken daran die Bilder des besagten Tages heraufbeschwört. Die Übelkeit meldet sich wieder zu Wort. Ich verharre und bleibe einfach stehen. Ich kann IHN nicht sehen. Meine Augen müssen sich immer noch erst an das neue Licht gewöhnen. Plötzlich spüre ich neben mir einen kalten Windhauch, den ich auch an meinem rechten Ohr spüren kann. „Ich wusste, dass du nicht wiederstehen kannst. Ich wusste es. Schön, dass du da bist, Tochter.“ Mir läuft ein eiskalter Schauer über den Rücken. Ich versuche weg zu rennen doch ich bin zu langsam. ER ist schneller und lässt seine großen Hände nach vorne schnallen, um mich mit der rechten Hand von hinten um den Bauch zu fassen und ruckartig nach hinten zu ziehen und mit der anderen meinen Mund zu zuhalten, was mir als äußert lächerlich erscheint. Wer soll mich den hier hören? Selbst wenn ich noch so laut schreien würde, ich wäre alleine und ich konnte keine Hoffnung auf Hilfe schöpfen. Er flüsterte mir weiter ins Ohr: „Scht, scht, ist ja gut.“ Er fängt an, mich eng an sich gepresst hin und her zu wiegen und eine Melodie aus meiner Kindheit zu summen. In mir steigt Ekel hoch. Ich versuche gar nicht mich aus seiner Umklammerung zu winden, weiß ich doch, dass das nichts bringen würde.
Ich spüre, wie der Druck um meinen Mund nachlässt. Doch auch jetzt wage ich es nicht, irgendeinen Laut von mir zu geben. Ich weiß nicht, was er mit seiner nun freien Hand tut. Ich habe meine Augen zugekniffen und in meinen Ohren rauscht das Blut vor lauter Angst, so dass ich weder im Stande bin etwas zu sehen noch zu hören. Ich atme zitternd ein und aus. Doch plötzlich geht es nicht mehr, ich bekomme keine Luft mehr. ER drückt mir irgendetwas auf die Nase. Ich versuche meinen Kopf weg zu drehen, doch ohne Erfolg. Ich merke, wie ich schlapp werde und mir schließlich die Knie wegsacken. Noch ehe ich auf dem Boden aufkomme, habe ich das Bewusstsein verloren.
Als ich wieder aufwache, lege ich in einem Metallbett auf einer so dünnen Matte, dass ich denke, ich würde direkt nur am Boden liegen. Die einzelnen noch vorhandenen Federn stoßen mich so sehr in meinen Rücken, das es schmerzt. Ich versuche mich zu bewegen, doch ich stelle fest, dass beide Hände und Füße jeweils an einer Seite des Bettes gefesselt sind, wahrscheinlich hat er Angst, dass ich gleich nach dem Aufwachen abhauen oder ihn gar überrumpelt würde. Und tatsächlich, das würde ich tun. Auch mein Mund ist nicht frei. In ihm steckt ein muffig schmeckender Knebel, den er mir vermutlich gab, damit ich ihm zuhöre oder nicht gleich los schreie. Ich atme panisch durch die Nase, winde mich so gut es geht und versuche Laute zu machen, möglichst laut, um auf mich aufmerksam zu machen. Das wirkt. ER kommt herein, scheinbar von einem anderen Raum, was mir als sehr merkwürdig vorkommt. Dies ist ein einzelner Schutzraum, der nur von ausgewählten Personen genutzt wurde. Doch scheinbar hat jemand, vermutlich ER das Gebiet erweitert und weitere geheime Räume geschaffen. Doch wie? Wozu? Mit welchem Zweck? Wie hat er das geschafft, ohne jemals dabei erwischt zu werden? Oder wurde er erwischt und konnte doch wieder entkommen? Wohl kaum, er ist zu schlau um sich seine illegalen und grausamen Machenschaften anmerken oder gar nachweisen zu lassen. Er kommt näher an mich ran und streckt seine Hand aus. ER fährt mit seiner rechten Hand über mein Gesicht, lässt sie kurz darauf ruhen ehe er sie weg nimmt und meinen Körper mustert. Jetzt sehe auch ich so gut es geht nach unten. Ich trage nicht meine Klamotten, statt dessen bin ich ihn ein helles Hemd und in eine weite Hose gehüllt, es fühlt sich auch nicht so an, als hätte ich etwas darunter an. Oh verdammt. Ich sehe ihn mit großen Augen an. Er nimmt mir den Knebel aus dem Mund und fängt an zu sprechen.
„Keine Sorge. Ich habe dich nur ausgezogen, weil du in deinen nassen und dreckigen Sachen erbärmlich gefroren hast und deine Wunden versorgt werden mussten. Du hast ganz schon viele Kratzer bekommen. War die Öffnung wohl kleiner als damals?“ Er lässt ein kehliges Lachen vernehmen. Und tatsächlich: sämtliche Schürfwunden waren mit Verbänden und scheinbar einer Salbe versorgt, die durch den Verband zum Vorschein kam. Er zieht einen Stuhl neben das Bett und setzt sich. Ich merke, dass mir nicht kalt, sondern im Gegenteil angenehm, ja fast heiß ist, und frage mich, wie das Möglich sein konnte. Ich runzle meine Stirn. Scheinbar erkennt er die unausgesprochene Frage in meinem Gesicht und beginnt zu erzählen: „Ich konnte dich ja nicht in diesem dünnen Fetzen liegen lassen und etwas anderes habe ich nicht da, auch keine Decken. Deswegen habe ich im Eck ein kleines Feuer gemacht, um dich etwas zu wärmen. Ich weiß, es ist unangenehm für dich, dass ich dich umgezogen habe, aber ich konnte dich doch nicht einfach in keinen nassen Klamotten liegen lassen.“ Trotz der Hass und dem Wut kann ich eine emotionale Regelung in seinem Gesicht und in seiner Stimme hören. Ist das etwa Sorge? Nach all den versäumten Jahren und den Jahren, in denen er sich nicht wie ein fürsorglicher Vater verhielt, fiel es ihm plötzlich in diesem muffigen Raum unter der Erde ein, wie sich ein guter Vater zu verhalten hatte und wie man sich gut um seine Tochter kümmerte? Ich konnte mich ja wirklich glücklich schätzen…
„Ich weiß, dass dir nicht damit geholfen ist, aber ich will dir sagen, dass ich dich über alles liebe, egal was zwischen uns liegt. Du bist meine Tochter. Mein eigen Fleisch und Blut.“ Das fällt ihm aber früh ein. Ich spüre einen tiefen Hass in mir aufkeimen, der sich mehr und mehr nährt und immer größer wird.
„Hör mir zu. Ich kann mir vorstellen, dass du erschrocken gewesen sein musstest, als du das Handy fandest. Entschuldige übrigens, dass ich in deiner Wohnung war, aber so war es einfach zu Hundertprozent gewährleistet, dass auch wirklich du das Handy zeitnah findest. Ich konnte dich nicht anders kontaktieren, wie dir wahrscheinlich klar sein sollte. Ich kann ja schlecht, unbemerkt, nach oben gehen und mich wie ein normaler Mensch herum treiben.“ Heißt das etwa, dass er öfters hier unten weilt? Oder gar hier lebt? „ Du wunderst dich sicher, was ich gerade jetzt von dir will, nach all den Jahren. Weißt du, in der Zeit nach…“, er stockte, als suche er die richtige Worte, eher er den Satz von neuem anfängt, „In der Zeit nach dem Unglück,“ ich lacht kurz ironisch auf, doch er lässt sich davon nicht beirren, „lebte ich auf der Straße, stets darauf bedacht unbemerkt zu bleiben. Das war anfangs gar nicht so leicht aber mit der Zeit ging es irgendwann besser und ich suchte mir eine neue Bleibe. Mir war natürlich bewusst, dass ich nie wieder ein normales Zuhause haben würde, aber das war mir gleich, Hauptsache ich konnte in Ruhe leben, unweit von Menschen, die nur einen Teil der vermeintlichen Wahrheit kannten. Irgendwann kam ich auf einem Streifzug am späten Abend durch den Wald am Gelände der verlassenen Firma vorbei und erinnerte mich an das Versteck, in dem wir uns gerade befinden. Damals hingen überall im Büro meines Chefs Pläne seines Anwesens. Darauf war nichts Besonderes zu sehen, doch eines hatte mich einmal stutzig gemacht: einige Maße auf den Grundstückskarten passten nicht mit denen der Baupläne der Bahn überein. Damals dachte ich mir nichts dabei, war ich doch nur ein unbedeutender Mitarbeiter und hatte nicht viel zu sagen. Mir hätte keiner geglaubt und es als Unwissen abgetan. Jedenfalls erinnerte ich mich daran zurück und suchte die Stelle, an der die Maße beider Pläne voneinander abwichen. Ich fand nichts. Wie den auch, wo ich doch nicht wusste nach was ich suchen sollte. Ich ging wieder zu meinem Schlafplatz, was zu der Zeit eine Brücke im nahen Park war. Es war das Beste, das ich finden konnte. Am nächsten Abend nahm ich mir eine Taschenlampe mit, die bis heute mein wertvollster Besitz ist. Ich ging wieder zu der Stelle und suchte erneut. An diesem Tag fand ich etwas. In der Erde war ein Ring eingelassen, der von weiterer Erde bedeckt war, so dass er nur dann auffiel, wenn man direkt danach suchte. Ich zog an dem Ring und brauchte alle mein Kräfte um den Deckel zu öffnen. Ich leuchtete nach unten und mir erstrecken sich Treppen. Ich folgte ihr und fand dieses Versteck, das mehr als nur einen Raum umfasst und eher einer unterirdischen Wohnung gleicht, es gibt sogar Strom, wenn man denn genug Benzin hat. Falls du dich fragst, wie das sein kann, da es damals nur ein Raum war, ja das dachte ich auch, aber erinnerst du dich auch noch an den schweren alten Schrank mit den Waffen darin? Er verdeckte eine Tür, die den Rest der Wohnung freigab. Ich kümmerte mich um das Versteck, wie du vielleicht schon bemerkt hast und ernannte es als mein neues Zuhause. Es war perfekt.“ Ich sehe ihn ungläubig an und versuche etwas zu sagen. Doch meine Kehle ist so rau und trocken, dass nur ein mühevolles Krächzen hervor kommt. Instinktiv reicht er mir ein Glas, das ich versuche zu nehme, doch meine Fesseln hintern mich daran. Stattdessen setzt er es an meine Lippen an und lässt mich davon trinken, was ich auch gierig mache. „Okay, du hast also dein neues perfektes Zuhause gefunden aber was willst du von mir?“ Wenn man bedenkt, dass der Schutzraum, zumindest den, den ich bis dato gekannt habe, eigentlich dafür diente, wichtige Leute der Stadt vor Angriffen zu schützen und mein Vater als ehemaliger Angestellter der Stadt, und demnach auch ich durch einige Streifzüge mit ihm, über dieses Wissen verfügten, erschien es mir umso makaber, dass gerade ER in diesem Schutzraum weilte. Ich lies mich nicht von meiner Frage ablenken und wartete geduldig auf seine Antwort.
Er sieht mich an und mir kommt es so vor, als würde er versuchen, etwas Verborgenes in meinem Gesicht herauszulesen, etwas, das selbst ich nicht sehen kann. „Ich kam zwar davon, aber dennoch hat mir immer eins gefehlt: Du. Meine Tochter. Meine Familie.“ Bis gerade hörte ich ihm aufmerksam zu aber jetzt ist Schluss damit. In meinem Magen machte sich ein Feuerball aus Wut breit, der in mir rumorte und alles niederzumachen schien. „Du hast deine Familie vermisst?!“, speie ich im entgegen. „Ist das dein Ernst?!“. Ich fange an mich aufzurichten, lasse es aber gleich bleiben, schneiden mir die Fesseln doch ins Fleisch und sinke zurück in die Kissen. „Du hast deine Familie verlassen. Du und nicht wir. Du ganz alleine bist Schuld an all dem was passiert ist. Du bist Schuld, dass ich ohne Vater weiter leben musste. Du bist Schuld.“ Ich werde immer lauter, bis ich die letzten Worte ausspreche, die ich nur noch flüstere. So grausam ist die Tatsache und die Gewissheit. „Du hast jemanden getötet. Du.“ Er sah während den ganzen Anschuldigungen nicht in meine Augen, eher auf einen Punkt dazwischen. Doch jetzt sieht er mich mit kalten Augen an. „Ich habe niemanden getötet. Ich wollte jemanden retten, doch ich kam zu spät. Genauso wenig wie du sie getötet hast.“ Ich starre ihn mit offenem Mund an, unfähig zu Begreifen, was er gerade gesagt hat. Ich habe so viele Fragen, doch kann keine davon stellen. Ich versuche es, doch ehe mir auch nur ein Wort über die Lippen kommt, wird mir vor Anstrengung schwarz vor Augen und ich bin weg.
Mittlerweile sind drei Monate vergangen, seit dem letzten Treffen mit IHM. Meinem Vater. Mir schaudert es bei dem Gedanken, dass ich ihn als so etwas Grausames und unmenschliches in meinen Gedanken bezeichnet habe. Als das Ende. Jetzt im Nachhinein weiß ich, dass es nur ein Teil der Wahrheit ist. Mein Teil. Nachdem ich Ohnmächtig wurde, kümmerte sich mein Vater gut um mich, auch wenn er mich gefesselt hatte. Er meinte später zu mir, er habe das nur getan, weil er mit mir reden wollte und er gewusst hätte, ich wäre sofort abgehauen oder aggressiv geworden, hätte er mir die Möglichkeit dazu gelassen, wie ich mir auch schon gedacht hatte. Und ich muss sagen, ja ich hätte sie genutzt. Er war an der Oberfläche, so komisch es sich auch anhört, und hat mir warme Klamotten und etwas zu essen und trinken besorgt. Als ich wieder wach wurde, saß er nicht mehr neben meinem Bett, sondern etwas weiter hinten, so als wollt er sich mit seinen Aussagen räumlich von mir distanzieren. Meine Mutter war nicht tot. Zumindest nicht, als er sie fand. Sie lebte noch. Als er kam, lag sie bereits schwer verwundet am Boden, kaum noch fähig zu atmen. Seine Bemühungen, sie am Leben zu halten waren vergebens. Es schien, als hätte Mama gewartet bis er kam, bevor sie starb. Sobald er ihre Hand hielt und seine Liebe zu ihr immer wieder gestand, ging sie fort. Als ich kurze Zeit später auftauchte, sah es für mich so aus, als hätte mein Vater sie getötet. Ich ging zu ihr und kniete mich neben sie. Dann entdeckte ich das Messer, das neben ihr lag, bedeckt mit ihrem Blut. Ich nahm es in die Hand und starte meinen Vater an. Er war nicht mehr neben ihr sondern hinter mich gewichen, als hätte er Angst, ich könnte ihn des Mordes bezichtigen, was ich auch tat. Was ich zu diesem Zeitpunkt nicht wusste war, dass sich eine Kamera in dem Raum befand und das Foto von mir aufnahm. Meine wahnsinniger Blick ist der Blick einer Tochter, die ihre Mutter tot aufgefunden und ihren Vater als vermeintlichen Täter hielt. Vermutlich hatte Vater damals die Kameras mit den Bildern mitgenommen um zu verhindern, dass möglicherweise eine falsche Wahrheit, oder überhaupt eine, ans Licht käme. Ich dachte, ich sei ebenso ein Mörder wie mein Vater, weil ich zu spät kam und ihr nicht mehr helfen konnte. Ich hatte die Last der Schuld für einen Mord auf mich genommen, den ich, und auch mein Vater, nie begangen hatten. Wie ich damals raus kam und was mit der Leiche meiner Mutter geschah, weis ich bis heute nicht. Ich muss mich erst einmal distanzieren und versuchen, einen Weg zurück zu mir zu finden. Ich habe erstmal Urlaub genommen, denn über Geschichten des Lebens kann ich im Moment nicht berichten, wo ich doch gerade selbst die wohl verwirrendeste Geschichte erlebt habe. Auch wer meine Mutter wirklich getötet hat, ist unklar. Mein Vater vermutet, dass es sich um Überreste vertrauter Mitarbeiter des Firmenchefs handelten, die im Versteck wichtige Unterlagen versteckt hielten und auf die es meine Mutter, ihrerseits ebenso Journalistin, abgesehen hatte und scheinbar mit der Schließung der Firma zu tun hatten. Die Kerle konnten dies vermutlich nicht gut heißen. Es ist komisch, jetzt diese Seite zu sehen, aber es klärt einige Fragen auf, was es nicht weniger verwirrend und anstrengend macht. Aber ich weiß, dass es gut ist, dass ich nun weiß, was damals passiert ist. Auch meine Alpträume mit dem Monster, das meine Angst und meine Rachegelüste darstellte, sind verschwunden. Ich wolle Rache an meinem Vater für den Mord an meiner Mutter nehmen, doch er wollte Rache an den wahren Mördern und sich mit mir durch die Wahrheit aussöhnen. Doch jetzt kann ich ein neues Leben anfangen, mit meinem Vater. Er biegt gerade um die Ecke und schlendert vorsichtig auf das Cafe zu, in dem ich sitze und auf ihn warte. In mir regt sich Aufregung, Vorfreude aber dennoch ein kleines bisschen Wut, Angst und Hass. Die Gefühle von Jahren kann man nicht einfach so abstellen. Wir beide leiden in gewisser Maße an dem Geheimnis, das so verschieden und doch gleich ist, das uns verbindet und wir uns jetzt zusammen gegenseitig stützen können. Es braucht Zeit, aber wir nehmen sie uns. Ich schaue noch ein letzes Mal auf das Bild in meinen Händen, ehe ich es wegpacke. Es ist ein Bild von meiner Mutter, die Zahlen 07.05.03 stehen darunter, ihrem Sterbedatum.

7 thoughts on “Das Ende

  1. Interessante Story. Ich war die ganze Zeit der Meinung, in einem Sci-Fi Plot gelandet zu sein ( das ENDE, der dunkle Tunnel, Frauen, die in Einheitsklamotten Männern ausweichen) wie im Report der Magd. Kürzen würde auch guttun.

  2. Hallo Moni

    Ich danke dir für diese sympathisch geniale Kurzgeschichte, obwohl es ja da und dort eher eine lange Geschichte ist 🙂

    Das sehe ich aber nicht als Problem an. Ich weiß, wie schwer das Kürzen ist.

    Du hast einen guten, rational veranlagten Schreibstil. Das gefällt mir, obwohl ich persönlich ganz anders schreibe.
    Du beschreibst das Wichtigste und hältst dich nicht mit Überflüssigem auf.

    Das lässt diese außerordentliche Geschichte spannend und realer erscheinen.
    Kompliment.

    Deine Geschichte ist dir super gelungen. Die Handlung ist natürlich faszinierend, die Protagonisten klar und toll angelegt, die Dialoge nicht künstlich und das Finale ist Klasse.

    Glückwunsch zu deinem Werk.

    Ich wünsche dir und deiner Geschichte alles Gute und viel Erfolg.
    Und natürlich noch viele begeisterte Leserinnen und Leser und zudem noch viel mehr Likes.

    Mein Like hast du natürlich sicher.

    Du hast ein charmantes Erzähltalent.
    Mach was draus.

    Liebe Grüße, Swen Artmann (Artsneurosia)

    Vielleicht hast du ja Lust und Zeit, auch meine Story zu lesen.
    Über einen kleinen Kommentar würde ich mich sehr freuen.

    Meine Geschichte heißt:

    “Die silberne Katze”

    Vielen Dank.
    Swen

  3. Guten Morgen Moni,
    Ich fand deine Geschichte toll. Ich war direkt in der Handlung, die mich fesselte und nicht mehr los gelassen hat. Ich mag deinen Schreibstil und deine Hauptfigur ist gut gestaltet und umgesetzt. Hat Spaß gemacht es zu lesen :-).Ein Like lasse ich Dir daher mit Vergnügen da!

    Ich wünsche Dir viel Erfolg.

    Liebe Grüße
    Maddy

    P. S Es würde mich sehr freuen wenn du meine Geschichte “Alte Bekannte” auch lesen würdest und mit ein Feedback gibst.

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